Die Jugend in der Tschechischen Republik nach 1989

von Stanislava Kucerova

Ich spreche über die Generation, die aufgewachsen und gereift ist in den Jahren der Stagnation des sogenannten Realsozialismus. Die erste Tschechoslowakische Republik war vergessen, der Krieg war vergessen, vergessen war auch der Nachkriegsenthusiasmus des Aufbaus, aber auch die Übeltaten der 50er Jahre und die Zeit der Liberalisierung der 60er Jahre, aber auch die Normalisierung, die Persekution der 70er Jahre. Die Lehrer und die Schüler haben im stillen Einvernehmen die vorgeschriebenen marxistisch-leninistischen Formeln immer wieder wiederholt, die durch die Lehrpläne vorgeschrieben waren, und hielten auch andere Rituale ein, die durch die Anwesenheit der fremden Armee garantiert und gesichert waren.

Die offizielle Propaganda legte ein Grundgesetz des Sozialismus als Glaubensgesetz der Bevölkerung vor, nämlich die beständige Erhöhung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Bevölkerung. Aber jeder sah mit seinen eigenen Augen, daß dieses Gesetz der ständigen Expandierung dieser Bereiche nicht funktionierte, und so wuchs die Unzufriedenheit mit dem Regime, welches mit Gewalt die Davonbewegung der 60er Jahre unterdrückte. Und dann kam der November 1989, die Zeit der europäischen postkommunistischen Umstürze, die auch die Tschechoslowakei von dem aufgezwungenen Regime befreit hatte. Ein Teil der jungen Generationen hat sich an diesem Umsturz aktiv beteiligt. Die jungen Menschen verteilten Flugblätter, klebten Plakate, skandierten Losungen auf verschiedenen Zusammenkünften. Als die kommunistische Regierung abgetreten war, herrschte überall die allgemeine Begeisterung und Euphorie, ausgelöst vom Gefühl der Befreiung und des Loswerdens der allgegenwärtigen ideologischen Diktatur der Partei und der Regierung und vom Gefühl der Verbreitung und dem Zuwachs der individuellen persönlichen Perspektiven und der Möglichkeiten der Selbstverwirklichung. Die älteren Generationen wünschten die Erneuerung, die Wiederherstellung der Traditionen der ersten Tschechoslowakischen Republik. Sie wünschten Demokratie als Diskussion, als Selbstverwaltung, als Bildung und Humanisierung, als Ideal. Sie erwarteten eine kritische Analyse und eine sachliche Beurteilung der symbolischen Werte der beiden Regimes als einen Ausgang für die Gestaltung der neuen Werte und der Werteerziehung unter den neuen politischen Bedingungen.

Allerdings blieb für eine kritische Analyse und eine demokratische Diskussion keine Zeit übrig. Die Kommunisten haben immer Wohlstand versprochen auf der Grundlage der Vergesellschaftung der Produktionsmittel und der Planung der gesamtgesellschaftlichen Realität, vor allen Dingen der Wirtschaft. Nach dem Umsturz kam es zu einem Umsturz der Werte. Nach der politischen Wende kam es zu einem entgegengesetzten Umsturz der Werte. Der Sozialismus wurde erbarmungslos verbannt, der Kapitalismus allerdings unkritisch vergöttert. Die Ultraliberalen, die an der Macht waren und sind, propagierten die allgemein geteilte Vorstellungen, daß es reicht, den Kommunismus loszuwerden, alle gemeinsamen Besitztümer zu privatisieren und die Produktion anstatt den Planern der Pflege der unsichtbaren Hand des Marktes zu überlassen. Die Deregulierung und die schnelle Akkumulierung des Kapitals sollten das Land bald auf das Niveau der entwickelten demokratischen westlichen Staaten bringen. In der Atmosphäre der angeblichen Freiheit (für wen?) beherrschten den Lebensraum der Bevölkerung die Fernsehreklamen (im privaten Bereich) und riesige Billboards in der Öffentlichkeit. Die Welt wurde von einem Tag auf den anderen mit Coca-Cola, mit Barbie-Puppen, mit Kaugummi und Chips, mit dem Kult der Sterne à la Michael Jackson, mit Serien à la Dallas, mit der Brutalität der Actionfilme und der Geschmacklosigkeit der Horrorfilme, mit dem schlechten Geschmack der Comics, der Popmusik, Discos und Hitparaden, mit Computerspielen, mit Lotterie, permanenten Wettbewerben und den Spielen um Geld beherrscht. Inzwischen hat sich gezeigt, daß eine fehlerlose Funktion der unsichtbaren Hand des Marktes nur durch das Funktionieren von zahlreichen sichtbaren Händen, die tagein tagaus arbeiten, möglich ist und daß der Wohlstand des Volkes durch ehrliche Arbeit wächst und nicht durch gegenseitige Betrügerei. Eine nicht endenwollende Reihe von Skandalen der Wirtschaftskriminalität, der groben Amateurfehler und der raffinierten Betrügereien führten bei manchen zur Ernüchterung.

Die Transformation brachte den einfachen Bürgern nicht die erwarteten Früchte. Ganz im Gegenteil. Sie führte auch zur Auflösung des gemeinsamen Staates der Tschechen und Slowaken, der eigentlich der größte, der höchste Wert der neuen Geschichte dieser Völker war. Die neue ökonomische Ideologie brachte eine neue Enttäuschung. Das Land sah sich in einem Netz von ökonomischen und ökologischen Problemen verwickelt. Die Erschütterungen nimmt man in den Bereichen Gesundheitswesen, Schulwesen, Verkehr, Sozialpflege und Kultur wahr. Alles wurde übertragen, überführt auf das Prinzip des Angebots und der Nachfrage, aber es fehlt an Geld für die Schaffung des gewünschten Angebots, und es gibt keine kauftüchtige Nachfrage.

Das Schulwesen hatte bis zum 2. Weltkrieg in der Tschechoslowakei ein allgemein anerkanntes Niveau von mitteleuropäischer Qualität. Nach dem Krieg kam es zu einigen sehr eiligen Reformen nach dem Muster der Sowjetunion, aber in den 60er Jahren hat sich das Schulwesen wieder konsolidiert. Nach der Wende 1989 war es notwendig, das System zu optimieren in Hinblick auf die sich ändernden gesellschaftlichen Erfordernissen und im Vergleich mit der pädagogischen Erfahrung in den entwickelten Staaten und mit der Anbindung an die eigenen nationalen positiven Traditionen. Es war notwendig, die zentrale direktive Leitung zu demokratisieren, die marxistisch-leninistische Ideologie zu ersetzen durch die Erziehung zur Demokratie, Humanität und Humanismus, und den Hochschulen ihre akademischen Freiheiten zurückzugeben. Allerdings plädierten radikale Proreformerstimmen für Pädozentrismus in Gestalt von verschiedenen Alternativschulen. Besondere Begeisterung fand ohne eine besondere Kenntnis der anthroposophischen Grundlagen die Waldorfschule. Das Schulministerium frönte dem Ideal der ultraliberalen Freiheiten und genehmigte die Errichtung von Privatschulen, die vom Ministerium finanziell unterstützt wurden, ohne die Voraussetzungen zur nötigen Effizienz zu garantieren. Der Anteil der Privatschulen im oberen Sekundarbereich erreichte 30 %. Zur Zeit sinkt die Zahl der Privatschulen, allerdings auch der Staatsschulen rapide. Der Mangel an Finanzen zwang das Ministerium zum Programm der Optimierung, d.h. im Klartext, zur Reduzierung der Schulzahl, eine Reduzierung des Schuletats vorzunehmen und die Zahl der Lehrer zu reduzieren und deren Stundendeputat zu erhöhen.

Der Zustand der Gesellschaft spiegelt sich natürlich in der Formierung der Lebensorientierung der Jugend. In den Jahren 1981, 1986 und 1993 wurde eine Untersuchung in einem der Bezirke der Tschechischen Republik durchgeführt bei der Jugend im Alter von 18 bis 24 Jahren. Es wurde untersucht, welche Lebensorientierungen bei der Jugend vertreten sind. Es handelte sich um folgende vier Orientierungen: eine instabile Orientierung, eine Geldorientierung, eine Verbraucherorientierung und eine kreative Orientierung.

Am Anfang der 80er Jahre überwog stark der Ansatz des Verbrauchertyps, d.h. die Jugend präferierte einen bestimmten durchschnittlichen Lebensstandard. Von der Hälfte der 80er Jahre an nahm die Geldorientierung zu, d.h. das Ideal der Jugend war, eine finanziell günstige Beschäftigung zu finden. Gleichzeitig stieg der Wert der Privatsphäre des Lebens und sanken die gesellschaftlich orientierten Werte. Die erste Hälfte der 90er Jahre signalisiert, daß sich der sogenannte gesellschaftlich instabile Typ ausgebreitet hat mit dem Wunsch nach freiem Leben ohne Verpflichtungen, mit dem Ziel, so viel wie möglich zu genießen und sich den Kopf nicht mit gesellschaftlich höheren Perspektiven zu zerbrechen. Die Abneigung gegenüber der gesellschaftlichen Lebenssphäre und die Zurückziehung in das private Leben werden immer tiefer. Die Präferenz des kreativen Lebensstils erscheint traditionsgemäß häufiger bei den Mädchen als bei den Jungen. Für sie ist die Kreativität der Tätigkeit - Kunst, aber auch Naturschutz und Durchsetzung der Menschenrechte - wichtig. Früher, vor der Wende, galt dies als Dienst an der Gesellschaft, an der Gemeinschaft. Heute ist es die Angelegenheit des Individuums. Die Nach-November-Euphorie erscheint heutzutage unglaublich in die Ferne gerückt. Die Zukunft begreifen die jungen Menschen vor allem als die Verwirklichung ihrer persönlichen Ziele, wie etwa: Wenn wir studieren können, werden wir nach dem Studium einen Arbeitsplatz finden oder können unsere Existenz sichern. Das sind die zentralen Fragen, die sich heute die Jugend stellt. Das entstandene Vakuum der wahren Werte versuchen verschiedene Jugendgruppen zu füllen. Ein oberflächlicher Optimismus, die Verehrung der Freizeit, der Medien, der Computer, der Unterhaltung und des Sexs, der Bequemlichkeit und des Konsums finden wir eher bei den Kindern der wohlhabenden Eltern, oft in Verbindung mit Infantilismus, mit Begeisterung von Elektronik und mit wenig Gefühl und Verständnis für höhere Kulturwerte. Einige flüchten sich vor der Unsicherheit und vor neuen Existenzproblemen, die auf sie zukommen, in verschiedene Schutzgruppen, wie z.B. Sekten. Sie verehren neue Symbole und Rituale. Sie werden zu intoleranten Dogmatikern und Fundamentalisten. Die Jugend ist bedroht durch brutale Schikanierung, durch Dogmatik, durch Kriminalität und Prostitution und Makomanie. Es droht die überall verbreitete Krankheit AIDS. Dramatisch steigt die Anzahl der jugendlichen Mörder an. Es fehlt an einem sichtbaren Schutz der Jugend vor diesen schädlichen Einflüssen. Teile der intellektuell reifen Jugend erleben oft Ängste angesichts der fortschreitenden Degradierungen der Ideale der Menschlichkeit in der Gesellschaft der zynischen postmodernen Barbarei. Sie erleben Perspektivlosigkeit und apokalyptische Visionen der Zukunft. Die jüngeren Jahrgänge leiden an Ratlosigkeit und Pessimismus. Sie leiden erheblich mehr. Bislang leidet die Jugend allgemein an Mangel von Wertorientierung. Die Integration der verschiedenen, zahlreichen Werte, fällt schwer. Lebenssinn, Lebensaufgaben, Lebensrichtungen und -ziele fehlen vielfach. Was bleibt, ist die Hoffnung, daß sich aus der globalen Weltsituation eine neue gesellschaftliche Wertorientierung der Jugend entwickelt. Sie könnte zu einer Verstärkung der zwischenmenschlichen Beziehungen, zu einem erhöhten Engagement für die Erhaltung der Natur und der Umwelt, zu einer entschlossenen Anti-Kriegseinstellung und zu einer verantwortlicheren Pflege der Kultur und der Bildung führen. Ein Teil der Jugendlichen träumt von so einer Realität.

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Hintergrund
Prof. Dr. Kucerova lehrt an der Pädagischen Fakultät der Universität in Brün.