„Die Kinder von Tschernobyl“ und die Herausforderung zum Frieden

von Burkhard Homeyer

„Tschernobyl“ ist bis heute nicht vergessen. Im Vorfeld des 25. Jahrestages des SuperGAUs bereiten sich Initiativen weltweit auf diesen Tag vor: ein Tag des Gedenkens und des Mahnens. Eine ganze Generation liegt zwischen dem Ereignis und diesem Tag. Schon dies zeugt von der Ungeheuerlichkeit des Damaligen. Europa stand in Gefahr.

Wach gehalten hat die Erinnerung aber nicht nur das Ereignis als solches, sondern der zivilgesellschaftliche Aufbruch, den Tschernobyl auslöste. Wie viele Menschen, wie viele Initiativen haben sich den Herausforderungen bis heute gestellt. Die „Kinder von Tschernobyl“ geben davon Zeugnis. Jedes Kind, das zur Erholung ins Ausland fuhr und fährt, bringt eine Botschaft mit: „Tschernobyl“. Hier wurde und wird die Erinnerung an Tschernobyl in breitesten Bevölkerungskreisen lebendig gehalten.

Was damals geschah
„Tschernobyl“ ist noch  lange nicht zuende. Es wächst vielmehr in Zeit und Raum. Nach den ersten Toten am Katastrophentag und –ort weitete sich der Tod in ungeahnter Schnelle aus. Allein in Belarus - in unmittelbarer Nachbarschaft zum ukrainischen Tschernobyl und am stärksten kontaminiert - wurden mehr als ein Drittel des Landes unbewohnbarund große Teile der Bevölkerung mit den Folgen konfrontiert. Kofi Annan, der ehemalige Generalsekretär der UNO, sprach von insgesamt von mehr als 8 Millionen Menschen, die in irgendeiner Weise von Tschernobyl betroffen waren, dass der Höhepunkt der Folgewirkungen erst 2016 erreicht werde und dass die genetischen Folgen noch gar nicht absehbar seien. Bilder von behinderten, erkrankten, leidenden Kindern ließen erschrecken. 800.000 Liquidatoren wurden aus der ganzen Sowjetunion herangeflogenen, um stundenweise die hochstrahlenden Trümmer abzuräumen und in den „Tschernobylgräben“ zu entsorgen. “Tschernobyl“ geht weiter, Böden sind kontaminiert, strahlende Isotope werden von Pflanzen und Tieren aufgenommen, gelangen in die Nahrungsmittelkette, die bis zu uns reicht, und lagern sich letztendlich im menschlichen Körper ab. Die Krebsraten vor allem in den hoch belasteten Gebieten bestätigen den Befund. Es sind die zivilgesellschaftlichen Tschernobylinitiativen, die bis heute um die Wahrheit über Tschernobyl“ und die Folgen kämpfen.

Die Anfänge der Tschernobyl-Initiativen
Die Anfänge aller Tschernobylinitiativen liegen in der Demokratiebewegung in Belarus (Weißrussland). Wie in anderen Ländern des sowjetischen Imperiums hatten demokratische Kräfte die Stichworte Gorbatschows aufgenommen und sich in der „Volksfront“ zusammengefunden. Die erste Bewährung für Glasnost und Perestroika und die junge Demokratiebewegungaber hieß „Tschernobyl“. Es entstand das Komitee „Kinder von Tschernobyl“. Es wurde zur Wiege aller Tschernobylinitiativen. Es sorgte für die ersten Informationen aus den „Tschernobyl“-regionen überhaupt, im Land selbst wie weltweit. Es initiierte als erste Sofortmaßnahme Hilfe für Kinder und baute ein zivilgesellschaftliches Netzwerk im Land und weltweit auf.Da sich sehr viele HochschullehrerInnen beteiligten, konnten sehr schnell Freundinnen und Freunde informiert und Kontakte hergestellt werden. Das Wissen um „Tschernobyl“ hängt engstens mit dem demokratischen Aufbruch der Zivilgesellschaft zusammen. Eben der fehlte in einem vergleichbaren Fall in Russland vorTschernobyl – wer hat schon etwas vom GAU in Majak im südlichen Ural erfahren?

Alle „Tschernobyl“-Initiativen kommen von Belarus - auch wenn ihre Wege auseinander gingen und gehen.Die Demokratiebewegung war gleichsam der Türöffner für alle.Dies ist nicht nur historisch gesehen so. Dass Demokratie und Tschernobyl korrelieren, ist auch von der Sache her gegeben. Ohne Demokratie wird es keine Transparenz in Sachen „Tschernobyl“ geben, kein demokratischer Aufbruch kommt an „Tschernobyl“ vorbei. So wurden das Komitee „Kinder von Tschernobyl“ zum Dreh und Angelpunkt des demokratischen Aufbruchs in Belarus und der Tschernobylbewegung. Beide erreichten folgerichtig ihren Höhepunkt in der demokratischen Phase Weißrusslands von 1994 bis 1996 - mit demokratisch gewählten Mandatsträgern, darunter viele aus den hochkontaminierten Gebieten, mit rechtsstaatlichen Strukturen, die die nötigen Schritte hinsichtlich „Tschernobyl“ ermöglichten – Informations-, Meinungs-, Wissenschafts-freiheit, Recht auf Gesundheit und Freizügigkeit als Voraussetzung von Umsiedlung aus den hochverstrahlten Gebieten, Kindererholungsreisen ins Auslandu.a.m. Der Staatsstreich von Präsident Lukaschenko 1996 setzte beiden ein Ende, dem demokratischen Aufbruch und der Initiative „Kinder von Tschernobyl“,bzw. versuchte es zumindest.

„Tschernobyl“ ist nicht nur ein „technisches“, sondern zugleich ein politisches Desaster. Die staatliche Reaktion des alten sowjetischen Regimes wie des neuen unter Lukaschenko auf „Tschernobyl“ sah und sieht völlig anders aus. Sie schloss sich dem Votum der Internationalen Atombehörde an: „Tschernobyl war gar nicht so schlimm – nur ein paar Tote -, viel schlimmer sind die, die ständig darüber reden“, also die Tschernobyl-Initiativen. So wurde das Komitee von Anfang an zum Hauptangriffspunkt des Regimes.

Schon unmittelbar nach dem GAU hatte das sowjetische Politbüro, wie die Journalistin Alla Yaroshinskaja nachwies, ein totales Schweigegebot erlassen. So wurde offiziell geschwiegen, gelogen, getäuscht und verharmlost. Das Komitee geriet unter ungeheuren Druck des Regimes mit ständigen Durchsuchungen, Verhaftungen von Wissenschaftlern, bürokratischen Hürden, mit Zerstörung vieler sozialer Projekte der Selbsthilfe. Es musste den Namen ändern, wurde zur „Belarussischen Gemeinnützigen Stiftung Den Kindern von Tschernobyl“ und unter diesem Namen weltweit bekannt - den sie dann wiederum ändern musste. Das Büro musste dreimal umziehen, mit den Kindererholungsreisen sollte Schluss gemacht werden u.a.m.

Zugleich wurden Parallelstrukturen aufgebaut - „regierungstreue Nichtregierungsorganisationen“(!) -, die Verwirrung schaffen und ausländische Partner durch Privilegien einerseits und Lügengeschichten über die Stiftung andererseits an sich ziehen sollten. Leider haben sich manche ausländische Tschernobylinitiativen darauf eingelassen und haben sogar den Namen „Kinder von Tschernobyl“ mitgenommen - in der Hoffnung, ihr Projekt mit regimetreuen, staatlichen Stellen richtig und besser verwirklichen zu können, aber auf Kosten der belarussischen Demokratiebewegung. Denn wer meint, unpolitisch bleiben zu können, wirkt im höchsten Maß politisch. Es fragt sich nur, für welche Seite.

Tschernobyl und die Friedensbewegung
Die meisten Tschernobylinitiativen aber haben sich nicht beirren lassen, sondern “ haben sich vielmehr fester zusammengeschlossen, z.B. zur Bundesarbeitsgemeinschaft „Den Kindern von Tschernobyl“ in Deutschland, zu der sich zeitweise bis zu 200 Tschernobylinitiativen zählten, oder zum Internationalen Rat Für die Kinder von Tschernobyl“, mit Partnern zeitweise aus 27 Ländern. Ein einmaliges Ost-West-Netzwerk der Solidarität war entstanden, das in der Lage war, alle Versuche abzuwehren, mit den „Kindern von Tschernobyl“ und dem demokratischen Aufbruch und der nötigen Transparenz zu „Tschernobyl“ Schluss zu machen.

Tschernobyl ist so zum Auslöser der größten Ost-West-Friedensbewegung geworden. Oft ist in Belarus die Rede von Tschernobyl als dem „unsichtbaren Krieg“ zu hören, der in seinem Ausmaß dem deutschen Vernichtungskrieg nahekommt, ohne diesen zu verharmlosen, im Gegenteil. Wieder ist ein Drittel des Landes schwer getroffen und belarussische Menschen zu Opfern unermesslicher Gewalt geworden.

Nun kommen ausgerechnet die Deutschen und werden zu Freunden der „Kinder von Tschernobyl“. Viele kommen aus Friedensinitiativen und haben die Chancen der Friedens- und Versöhnungsarbeit wahrgenommen, als sich der Eiserne Vorhang hob und Begegnungsfahrten nach Belarus möglich wurden. Sie wurden mit den Folgen des deutschen Vernichtungskrieges zugleich mit „Tschernobyl“ als dem „unsichtbaren“ Krieg konfrontiert. Und umgekehrt, durch „Tschernobyl“ haben viele Deutsche erst die Dimensionen des deutschen Vernichtungskrieges wahrgenommen und sind zu einem Teil der Friedensbewegung geworden. Unendlich viele kleine Brücken des Friedens sind über die Kinder von Tschernobyl und die Erholungsreisen ins Ausland entstanden – von Mensch zu Mensch, von Familie zu Familie, von Ort zu Ort, vom kleinsten Dorf in Belarus bis zum hintersten Zipfel in deutschen Provinzen. Unzählige Gespräche haben stattgefunden zu den Themen „Wie konnte das alles geschehen?“ und „Nie wieder“. Folgerichtig sind die „Kinder von Tschernobyl“ - sowohl die Stiftung in Belarus als auch die Bundesarbeitsgemeinschaft in Deutschland sowie der Internationale Rat - Mitglied des „International Peace Bureau“(IPB, Genf), der ältesten weltweiten Friedensbewegung.

Tschernobyl ist das Menetekel des Atomstaates
Die atomare Gigagewalt, wie sie im Super-GAU von Tschernobyl sichtbar wurde, erzwingt geradezu politische Strukturentotaler Herrschaft. Das schließt die Verfügung über die Informationen - die Wahrheit über Tschernobyl und die gesundheitlichen Folgen - ein als auch die totale politische Kontrolle. Belarus ist dafür das Musterbeispiel.Belarus ist die erste Diktatur nach Tschernobyl in Europa und sorgt so dafür, dass keinerlei Informationen über „Tschernobyl“ mehr zugänglich sind. Es folgt der „Internationalen Atomenergiebehörde“, die schon 1959 durch einen Knebelvertrag die Weltgesundheitsorganisation daran hinderte, gesundheitliche Informationen über Tschernobyl zu veröffentlichen. Die WHO verfügt über erhebliches Material zu Tschernobyl, darf aber nichts weitergeben. Publikationen mussten eingestampft, Kongresse abgesagt werden. Ähnliches trifft für alles zu, was in irgendeiner Weise mit den Folgen atomarer Verstrahlung zu tun hat.

Die Zivilgesellschaft überall müsste am Jahrestag von Tschernobyl aufstehen für eine freie Gesellschaft,für die „Wahrheit“ über Tschernobyl.

Die „Kinder von Tschernobyl“ jedenfalls werden unter dem Stichwort: „Die Wahrheit sagen“ eine Friedensfahrt von Minsk nach Genf unternehmen, um in Genf an den Mahnwachen vor der WHO für eine „Freie WHO“ teilzunehmen. Sie werden mit einer „Kerzenaktion überall“die Tschernobyl-Kerze anzünden, Licht im Dunkel totaler Herrschaft.

Wir laden dazu ein, den Jahrestag zu einem Zeichen zu machen:

Wir wollen ein Europa, eine Welt ohne atomare Bedrohung

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Burkhard Homeyer ist ehemaliger ev. Studentenpfarrer in Münster, Mitherausgeber des Siebenstern-Taschenbuches 579: Brücken der Verständigung, Für ein neues Verhältnis zur Sowjetunion, Gütersloh 1986 und Mitbegründer und 1. Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft „Den Kindern von Tschernobyl“ in Deutschland e.V. seit 1994.Mehr Informationen über die BAG unter: www.bag-tschernobyl.net.