Religion

Die Konfessionalisierung eines politischen Konflikts

von Clemens Ronnefeldt

Der Begriff "Syrien" war bereits in biblischen Zeiten bekannt. Seit Ende des 19. Jahrhunderts bezog er sich auf eine in verschiedene Distrikte unterteilte osmanische Provinz. Zu diesem Groß-Syrien (arab.: Sham) zählten damals neben Syrien auch heutige libanesische, südtürkische, jordanische, israelische und palästinensische Gebiete.

Weil die letzte Volkszählung im Jahre 1962(!) stattfand, sind alle nachfolgenden Zahlen mehr oder weniger verlässliche Schätzungen:

Ca. 90% der Menschen in Syrien bekennen sich zum Islam, 75% davon sind Sunniten. Von diesen 75% wiederum sind 65% arabisch, 9 % kurdisch und ca. 1% Turkmenen und Tscherkessen gemeinsam.

Weitere sechs Prozent bezeichnen sich als Alawiten, eine Abspaltung der Schiiten. Alle anderen syrischen Muslime sind Schiiten, Drusen oder Ismailiten.

In Syrien leben auch einige Juden, rund 15% der Bevölkerung Syriens gehören verschiedenen christlichen Konfessionen an.

Zur Politik der Familie Assad
Hafiz al-Assad sah sich von Beginn seines Herrschaftsantritts 1970 von sunnitischen Würdenträgern infrage gestellt. Um diesem Druck zu begegnen, besuchte er regelmäßig die Moschee.

Nach der "Islamischen Revolution" 1979 in Iran schränkte der Präsident iranische Aktivitäten zur Missionierung in Syrien ein und bestärkte sunnitische Geistliche beim Aufbau eines Netzwerkes von Koranschulen in ganz Syrien.

Im Jahre 2000 übernahm Bashar al-Assad die Macht. Er versprach sich, durch eine "Schiitisierung", den "Makel" loszuwerden, lediglich als Alawit einer Abspaltung des Schiitentums anzugehören. Zahlreiche Schreine wurden mit iranischem Kapital neu gebaut oder aufwendig renoviert, Pilgerzentren errichtet und schiitische, oft explizit anti-sunnitische Propagandasendungen im Staatsfernsehen ausgestrahlt (1).

Grund für diese Maßnahmen war der zunehmende Einfluss wahhabitischen Gedankengutes in Syrien. Viele syrische Familien waren der Arbeit wegen nach Saudi-Arabien und in andere Golfstaaten gegangen und von dort beeinflusst nach Syrien zurückgekehrt.

Die christliche Minderheit in Syrien  hält nach wie vor mehrheitlich zu Assad, weil sie fürchtet, bei einem Ende des säkularen Assad-Regimes unter die Räder der sunnitischen Extremisten zu kommen.

Mobilmachung entlang konfessioneller Grenzen
Mit dem Sturz des sunnitischen Diktators Saddam Hussein, der jahrzehntelang die mehr als 60 Prozent schiitische Mehrheit im Irak unterdrückt hatte, kam das ausbalancierte Machtgleichheit zwischen Sunniten und Schiiten der Region in eine neue Dynamik. Mit der Wahl des Schiiten Maliki als Präsident Iraks wuchs der Einfluss Irans über Irak hinaus bis nach Syrien und zur schiitischen Hizbollah (arab.: Partei Gottes).

Im Syrienkrieg mobilisiert Iran alawitische Kämpfer der syrischen Armee wie auch die schiitischen Kämpfer der Hizbollah. Die SWP schreibt: „Sie müssten in Syrien schiitische Schreine wie etwa das Grab der Prophetenenkelin Zainab bei Damaskus vor sunnitischen Extremisten schützen. Auf Stirnbändern und Fahnen der schiitischen Milizen, die in Damaskus und anderen Landesteilen aufmarschieren stehen religiös motivierte Parolen und der Generalsekretär der Hizbollah, Hassan Nasrallah verkündete in einer Rede im Mai 2015 gar, der Fortbestand des gesamten Schiitentums stehe in Syrien auf dem Spiel, und es sei nicht zu wenig verlangt, dass drei Viertel der Schiiten ihr Leben opferten, um dem Rest der Gemeinschaft ein Leben in Würde zu garantieren." (2).

Diese Botschaften wurden auch in den mehrheitlich sunnitischen Ländern der Region mit großer Sorge wahrgenommen und umgekehrt für ihre Propaganda z.B. zur Mobilisierung von IS-Kämpfern instrumentalisiert.

Die Situation ist inzwischen so weit eskaliert, dass die sunnitischen Schwergewichte der Region, allen voran Saudi-Arabien und Katar, von einem "Vernichtungskrieg gegen den sunnitischen Islam" sprechen. Alawiten, Ismailiten und Drusen werden dabei mit den Schiiten als eine bedrohliche Einheit gesehen.

Die Rhetorik geht so weit, Iran als Bedrohung für den gesamten sunnitischen Islam insgesamt darzustellen, der gemeinsam mit  den USA und dem Westen versucht, den wahren Islam auszulöschen.

Vor diesem Hintergrund ist das Atomabkommen mit Iran zu sehen, das im sunnitischen Lager noch mehr Ängste befeuerte.

"Je länger der Konflikt andauert und je tiefer die existentiellen Ängste aller Syrer werden, desto mehr neigen die Menschen auch in Syrien dazu, ihre Identität enger zu definieren. Viele Syrer hätten 2011 völlig verständnislos auf die Frage reagiert, ob sie Sunniten seien. Dieselben Menschen sprechen heute wie selbstverständlich von einem geplanten Genozid an den Sunniten in Syrien." (3).

 

Anmerkungen
1 https://www.iz3w.org/zeitschrift/ausgaben/332_Stadt/syrien

2 https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/sonstiges/Hinterg...

3 ebd.

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Clemens Ronnefeldt ist seit 1992 Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.