Paradoxon Kolumbien

Die Konfliktparteien einigen sich auf eine Friedensvereinbarung und das Volk lehnt ab!

von Christiane Schwarz

Kolumbien geht seit August 2016 durch ein Wechselbad der Gefühle: Nach fast vier Jahren Friedensverhandlungen der kolumbianischen Regierung unter Juan Manuel Santos und der Guerilla der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) ging dann alles ganz schnell: Am 24. August 2016 veröffentlichten die Verhandlungsdelegationen in Havanna den Text ihrer Friedensvereinbarungen, am 29. August trat ein beidseitiger unbefristeter Waffenstillstand in Kraft. In einem Festakt mit zahlreichen internationalen Gästen wurde der Vertrag am 26. September im kolumbianischen Cartagena unterzeichnet. Am 2. Oktober lehnte die kolumbianische Bevölkerung in einer Volksbefragung die Vereinbarung sehr knapp mit 50,2% Nein-Stimmen gegenüber 49,8% Ja-Stimmen überraschend ab – bei einer Wahlbeteiligung von nur 37%.

Die kolumbianischen Menschenrechts- und Friedensorganisationen hatten seit Jahren auf eine Verhandlungslösung des Konflikts gedrängt – sowohl gegenüber den Guerilla-Gruppen FARC und ELN (Nationales Befreiungsheer) als auch gegenüber der Regierung. Die Verhandlungen waren daher von Hoffnung, aber auch von Zweifeln begleitet. In den Städten war der Konflikt in den letzten Jahren im Alltag der Mittelschicht wenig spürbar. In den ländlichen und am stärksten vom Konflikt betroffenen Regionen gab es zunächst große Zweifel, dennoch haben gerade diese Regionen beim Plebiszit teilweise mit über 80 % für Ja gestimmt.

Welche Rahmenbedingungen haben den Friedensvertrag ermöglicht?
Die FARC war 1964 angetreten, die Regierung des Landes auf militärischem Wege zu übernehmen. Ab 2000 setzte sich bei ihrer Führung zunehmend die Erkenntnis durch, dass sie zwar militärisch nicht besiegt werden, aber ebenso wenig die Macht erlangen könne. Die FARC war nach acht Jahren der Präsidentschaft von Uribe Vélez (2002 – 2010) militärisch geschwächt. Massive Militärhilfe seitens der USA unterstützte eine moderne Kriegsführung, der die FARC nicht gewachsen war.

Daneben gab es aus anderen lateinamerikanischen Ländern Signale, dass der Guerillakampf nicht mehr die zeitgemäße Form der politischen Auseinandersetzung sei, und in einigen dieser Länder haben es Parteien mit ausdrücklich linkem Programm geschafft, durch Wahlen Regierungsverantwortung zu übernehmen.

Auf der anderen Seite lag es im Interesse von Regierungschef Santos und den durch ihn vertretenen Eliten, Kolumbien wirtschaftlich zu öffnen und Investitionssicherheit zu schaffen. Santos dürfte schon in seiner Zeit als Verteidigungsminister deutlich geworden sein, dass die FARC militärisch nicht zu besiegen sein würde. Investitionssicherheit war also vielversprechender durch Friedensverhandlungen zu erreichen.

Die Interessen der kolumbianischen Eliten sind nicht homogen. So profitieren z.B. Teile der traditionellen Viehzüchter durchaus von der bestehenden Ordnung. Bereits bei der Wiederwahl von Santos 2014 zerfielen alte Bündnisse zugunsten einer neuen strategischen Allianz des Sektors um Santos gemeinsam mit sozialen und Friedensorganisationen – gegen das Lager um den ehemaligen Präsidenten Uribe Vélez.

Auch im Ausland wurden die Verhandlungen begrüßt – sowohl in der Region als auch seitens der USA und der EU. Letztere haben Hilfen für die Umsetzung der Vereinbarungen zugesagt.

Politische AnalystInnen in Kolumbien sprechen davon, dass sich in den Friedensverhandlungen „zwei Besiegte“ an den Verhandlungstisch gesetzt hätten. In jedem Fall haben die genannten Faktoren zu einem klaren politischen Willen beigetragen, Verhandlungen zu führen und zu einem positiven Ende zu bringen.

Verhandlungsmethodik – ein Beitrag zum Erfolg
Das Verhandlungsdesign hat sich als zielführend erwiesen. Die Agenda war mit sechs Verhandlungsthemen (1) präzise und behandelte wichtige Konfliktursachen.

Die FARC hatte zum ersten Mal akzeptiert, dass das kapitalistische Gesellschaftsmodell nicht zur Debatte stand. Andererseits eröffneten Verhandlungspunkte wie eine Reform der ländlichen Entwicklung oder politische Teilhabe durchaus Möglichkeiten für gesellschaftliche Veränderungen. Daneben waren die Verhandlungen vor allem auf die Beendigung des bewaffneten Konflikts ausgerichtet, der den FARC KämpferInnen einen Übergang ins zivile Leben ermöglichen soll sowie die Gründung einer politischen Partei, mit der sie auf demokratischem Weg ihre Ziele verfolgen können.

Der Punkt des Umgangs mit den Opfern des Konflikts mit seinem Unterpunkt zur Übergangsjustiz stellte die Verhandlungspartner vor die größten Herausforderungen. Die FARC hatte zu Beginn klargestellt, dass sie keine Gefängnisstrafen akzeptieren würde. Eine Generalamnestie war aber aufgrund internationaler Rechtsnormen weder legal möglich noch in Kolumbien gesellschaftlich durchsetzbar oder gewünscht. Die verhärteten Positionen konnten u.a. dadurch gelöst werden, dass Opfer aller Akteure nach Havanna reisen und die Verhandlungsparteien direkt mit ihren Geschichten konfrontieren und ihre Forderungen übermitteln konnten. Unter anderem diese Begegnungen trugen dazu bei, dass die FARC ihre Verantwortung für einige gravierende Verbrechen anerkannte.

Die vereinbarte Übergangsjustiz folgt dem Prinzip „je mehr zur Wahrheitsfindung beigetragen wird, umso geringer fallen die Strafen aus“. Der Ansatz der restaurativen statt punitiven Justiz wird von Opferverbänden unterstützt. Die Sonderjustiz für den Frieden soll auf alle direkt und indirekt am Konflikt beteiligten Personen angewendet werden, bezieht also explizit Akteure aus dem Bereich Wirtschaft und Politik ein.

Außerdem soll die Teilnahme von z.T. aktiven Vertretern der Sicherheitskräfte an den Verhandlungen deren Unterstützung für die Umsetzung der Vereinbarungen garantieren.

Sicher ist es daneben dem klugen Eingreifen der begleitenden Länder (Chile, Venezuela) und der Garantenstaaten (Kuba und Norwegen) geschuldet, dass mehrere Krisen während des Prozesses gelöst und verhärtete Positionen angenähert werden konnten. So wurden z.B. die Debatten zu strittigen Einzelthemen zunächst auf Eis gelegt und zum Ende der Verhandlungen wiederaufgenommen und gelöst.

Die Entscheidung über den Verhandlungsort außerhalb Kolumbiens war ebenso hilfreich wie die vereinbarte Vertraulichkeit. Über Fortschritte des Prozesses wurde die Bevölkerung nur gemeinsam in insgesamt 99 öffentlichen Statements informiert. (2)

Kritikpunkt: Mangelnde Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteure
Zivilgesellschaftliche Organisationen beklagten ihre zu geringe Einbeziehung in den Verhandlungsprozess. Mit den erwähnten Opferdelegationen war deren partielle Beteiligung allerdings gegeben. Außerdem konnten in lokalen, regionalen und nationalen Anhörungen kollektive und im Internet individuelle Vorschläge eingereicht werden. Einige davon finden sich in den Vereinbarungen wieder.

Perspektiven nach dem Plebiszit
Der überraschende Ausgang des Plebiszits machte vor allem die enorme Spaltung der Gesellschaft deutlich.

Präsident Santos wie auch die Führer der FARC bekundeten ihren Willen, am Friedensprozess festzuhalten. Der Waffenstillstand wurde bis Ende 2016 verlängert. Ein Katalog mit 410 Änderungsvorschlägen des Nein-Lagers wird zurzeit von Regierung und FARC analysiert, um punktuelle Veränderungen am Vertrag vorzunehmen.

Das „Nein“ am 2. Oktober löste im ganzen Land Demonstrationen für den Frieden und eine baldige Umsetzung der Vereinbarungen aus. Sie werden vor allem von indigenen Gruppen, Kirchen und Studierenden getragen.

Es ist zu hoffen, dass zeitnah eine Einigung auf eine überarbeitete Vereinbarung mit breiter Zustimmung in der kolumbianischen Gesellschaft gefunden wird.

Der offizielle Verhandlungsbeginn mit dem ELN hat sich erneut verzögert, soll aber noch im November beginnen.

 

Anmerkungen
1 Ländliche Entwicklung, B) Politische Teilhabe, C) Drogenproblematik, D) Umgang mit Opfern des Konflikts/Übergangsjustiz, E) Beendigung des bewaffneten Konflikts/Wiedereingliederung der Kämpfer*innen, F) Umsetzung der Vereinbarungen.

2 https://www.mesadeconversaciones.com.co/

 

Der Artikel wurde am 9.11.16 fertiggestellt. Weitere Informationen: www.kolko.net.

Anmerkung der Redaktion: Während das Heft schon im Layout war, wurde die Unterzeichnung eines neuen Abkommens bekanntgegeben.

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