Völkerrecht

Die NATO, das Völkerrecht und die eiserne Faust des Kapitalismus

von Werner Ruf
Schwerpunkt
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Im 1949 geschlossenen Nordatlantikvertrag beschwor die NATO in Art. 1 des Vertragswerks eindrücklich die Prinzipien der nur vier Jahre zuvor verabschiedeten Charta der Vereinten Nationen und verpflichtete sich in fast wörtlicher Übernahme des Art. 2.4, „… in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen … (sich) jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist.“  

Die Systemkonfrontation, die die Ära des Kalten Krieges bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion charakterisierte, endete mit dem Zusammenbruch des Sozialismus und Osteuropa und der Selbstauflösung des Warschauer Pakts. 1990 eröffnete sich mit dem Schlussdokument der KSZE (Charta von Paris 1990) die Chance für die Errichtung jenes damals viel beschworenen „gemeinsamen Hauses Europa“. Wäre die NATO, wie immer betont, ein Verteidigungsbündnis gewesen, hätte sie im Gegenzug zur Auflösung des Warschauer Pakts ebenfalls aufgelöst werden müssen, das Haus Europa hätte eine reale Chance bekommen.

Angesichts des Verschwindens des Feindes im Osten geriet die NATO in Legitimationszwänge. So ist die sicherheitspolitische Literatur der 1990er Jahre voll von Beschwörungen der „neuen Risiken“, die nun die „freie Welt“ gefährdeten und den Erhalt des Bündnisses notwendig machen sollten. Sie reichten von ökologischen Bedrohungen bis zu Fragen der illegalen Migration, von internationaler Kriminalität bis zu von „rogue states“ ausgehenden Gefährdungen – all diese „Risiken“ sind wohl eher polizeilichen denn militärischen Aufgaben zuzuordnen. Der entscheidende Durchbruch, mit dem die NATO ihren Weltordnungsanspruch demonstrierte, war dann der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der NATO auf (Rest-)Jugoslawien 1999. Dass hierfür das vereinte Deutschland die treibende Kraft war, sei in diesem Zusammenhang nur am Rande erwähnt.

Dieser Angriffskrieg war ein zentraler Angriff auch auf das Völkerrecht, die Charta der Vereinten Nationen, ja die flagrante Verletzung des Artikels 1 des NATO-Vertrags. Zugleich symbolisiert er die neue Rolle, die sich die NATO als Weltordnungsmacht anmaßt. Dieser Krieg fand seine posthume Rechtfertigung in der Erarbeitung einer NATO-Doktrin, mit der diese weltweit ein Interventionsrecht beansprucht, die Allied Joint Doctrine for Non-Article 5 Crisis Response Operations AJP-3.4(A), im Folgenden unter dem gängigen Kürzel NA5CRO zitiert. Sie beinhaltet den endgültigen Abschied der NATO von den grundlegenden Artikeln 2.4 und 2.7 (Gewaltverbot und Nichteinmischungsgebot) der UN-Charta.

Die territoriale Zuständigkeit des Bündnisses, das bisher auf den atlantischen Raum und die Territorien der Mitgliedstaaten beschränkt war, wurde auf dem Washingtoner Gipfel 1999 mit der folgenden Formulierung beendet: „Um die Sicherheit und Stabilität des Euro-Atlantischen Raums zu verstärken, [muss das Bündnis bereit sein], von Fall zu Fall und im Konsens, in Übereinstimmung mit Artikel 7 [dieser verweist abermals auf die alleinige Zuständigkeit der UN für Konfliktlösungen! Anm. d. Autors] des Washingtoner Vertrags, effektiv zur Konflikt-Prävention beizutragen [und] aktiv in Krisen zu handeln (engage actively in crisis management) unter Einschluss von Krisenreaktions-Operationen (crisis response operations).“ (1) Damit maßt sich die NATO das Recht an, hinfort grundsätzlich außerhalb des Vertragsgebiets (out of area) und ohne Berufung auf den Artikel 5 des NATO-Vertrags (Verteidigungsfall) zu agieren.

Als Herausforderung für die Sicherheit der Allianz wird eine „große Varietät von militärischen und nicht-militärischen Risiken“ formuliert, als da sind: „Unsicherheit und Instabilität im Euro-Atlantischen Raum und um ihn herum, regionale Krisen in der Peripherie der Allianz, die sich schnell entwickeln könnten. Einige Länder im und um den Euro-Atlantischen Raum herum sehen sich ernsthaften wirtschaftlichen, sozialen und politischen Schwierigkeiten gegenüber. Ethnische und religiöse Rivalitäten, territoriale Streitigkeiten, unzureichende oder gescheiterte Reformversuche, der Missbrauch der Menschenrechte und die Auflösung von Staaten können zu lokaler und sogar regionaler Instabilität führen. Die daraus resultierenden Spannungen könnten zu Krisen führen, die die Euro-Atlantische Stabilität gefährden, zu menschlichem Leid und zu bewaffneten Konflikten. Solche Konflikte könnten die Sicherheit der Allianz betreffen, indem sie in benachbarte Länder überschwappen, einschließlich NATO-Länder, oder sie könnten in anderer Art die Sicherheit anderer Staaten betreffen.“

Viele Begriffe für kriegerische Operationen
Es gibt in dieser Aufzählung von Konjunktiven nichts, was nicht geeignet sein könnte, in irgendeiner Art die Sicherheit des Bündnisses oder seiner Mitglieder zu gefährden. Und es geht definitiv nicht nur um die territorialen Randbereiche des Bündnisses, sondern auch um mögliche, weltweit vorhandene, als Bedrohungen bezeichnete Entwicklungen. Die NA5CRO-Doktrin liefert die operationelle Umsetzung für diesen Weltordnungsanspruch: Unter der Überschrift „Irregulären Aktivitäten begegnen“ („Counter Irregular Activities“) heißt es dort: „Irreguläre Aktivitäten … sind die Nutzung von Bedrohung, von Gewalt durch irreguläre Kräfte, Gruppen oder Individuen, die oft ideologisch oder kriminell motiviert sind, um Wandel zu erreichen oder zu verhindern, als Herausforderung von Regierungsfähigkeit und Autorität.“ 

Als effektive Strategien zur Bekämpfung solcher Akteure  gibt es direkte und indirekte Ansätze. Im Falle des direkten Ansatzes geht es um Aktionen, die ausgeführt werden, „um Aufständische/Terroristen und ihre Organisationen zu neutralisieren … (oder auch) um terroristische Infrastruktur zu zerstören“. Der indirekte Ansatz ist es, den Gegner durch Counter-Insurgency zu bekämpfen. Als Paradebeispiel für eine solche Strategie kann die Ausbildung, Bewaffnung und Finanzierung von Gewaltakteuren in Nicaragua (1981 – 1990) gelten, wo die gerade nach einem Bürgerkrieg gegen die Somoza-Diktatur an die Macht gekommene linke Regierung der Sandinistas durch die von den USA  aufgebauten sog. Contras bekämpft wurde.

Counter-Terrorism-Operationen sind Operationen, die entweder direkt gegen als terroristisch bezeichnete Gruppen geführt werden oder aber andere (durchaus terroristisch operierende) Gruppen finanziell und/oder militärisch unterstützen, die für den Kampf gegen als terroristisch bezeichnete Gruppen instrumentalisiert werden können. Dies ist beispielsweise im Krieg in Syrien der Fall, wo islamistische Banden gegen das Regime von Baschar al-Assad unterstützt werden.

Um zu verhindern, dass der Gegner Unterstützung und Schutz in der Bevölkerung findet, ist zurückzugreifen auf Counter-Intelligence-Operationen. Oft geht es dabei darum, meist geheimdienstlich gesteuerte Operationen durchzuführen oder anzuleiten, durch die die Unterstützung der Bevölkerung für Aufständische gebrochen wird. Instrument hierzu sind oft so genannte false flag operations, wenn z. B. in sog. Psychologischen Operationen (PsyOps) als Teile der Aufständischen getarnte Banden die mit den Aufständischen sympathisierende Zivilbevölkerung massakrieren. Eine Fülle von Literatur hierzu findet sich unter dem Stichwort „information warfare“ auf den Seiten des US Army War College. (2)

Laut NA5CRO gehört zu diesen Aktivitäten auch die Zivil-Militärische Zusammenarbeit (civil-military cooperation, kurz: CIMIC), die in einer Studie des US Army War College näher ausgeführt wird. Dabei werden zivile Hilfsorganisationen genutzt als Beschaffer für Informationen, aber auch zur Steuerung von Akteuren in bewaffneten Konflikten. Dies führt zu einer schleichenden Militarisierung der Entwicklungshilfe und ihrer Instrumente, So hat CIMIC im  Verständnis der NATO den klaren Auftrag, „das militärische Handeln mit dem zivilen Umfeld in Einklang“ zu bringen, um den „eingesetzten Streitkräften die Durchführung ihres Auftrags zu erleichtern.“ (4) Die Grenzen zwischen „Krieg“ und „Hilfe“ zerfließen, „Hilfe“ wird zum Vehikel von Konfliktsteuerung.

Terrorismusbekämpfung
Selbstverständlich nimmt die Terrorismusbekämpfung in der NA5CRO-Doktrin großen Raum ein. Dabei werden „Aufständische“ und „Terroristen“ teilweise (absichtsvoll?) gleichgesetzt, teilweise wird aber unterschieden je nach der jeweils zu wählenden Vorgehensweise bzw. der anzustrebenden Bündniskoalition. Terrorismus wird definiert als die „ungesetzliche Anwendung oder Androhung von Gewalt gegen Individuen oder Eigentum in einem Versuch, Regierungen oder Gesellschaften zu zwingen oder einzuschüchtern, um politische, religiöse oder ideologische Ziele zu erreichen“. Unter Gegenterrorismus (Counterterrorism, CT) werden verstanden „alle offensiven Maßnahmen …, die getroffen werden, um Terrorismus zu neutralisieren, bevor und nachdem feindliche Akte ausgeführt werden“. Die Definitionsmacht dessen, was Terrorismus ist, verbleibt bei der NATO. Die schnellen Wechsel von Allianzen mit Gewaltakteuren und gegen sie etwa im Krieg in Syrien zeigen die Beliebigkeit, mit der hier je nach momentaner Interessenlage entschieden wird. Gegenterrorismus schließt explizit extralegale Gewaltaktionen ein, also auch die Ausübung von Gewalt gegen ZivilistInnen zwecks Erreichens politischer Ziele. Hier gehen Counterinsurgency und Counterterrorism fließend ineinander über.

Besonders delikat sind die im Rahmen des Gegenterrorismus (CT) durchzuführenden Maßnahmen. So wird festgestellt, dass Gegenterrorismus Eigenheiten (unique characteristics) enthält, die für die NATO-Kräfte Probleme aufwerfen können. Es könne sein, dass CT-Maßnahmen im Zusammenhang mit einem unerklärten (!) Konflikt gegen staatlich unterstützte oder transnationale, autonome bewaffnete Gruppen geführt werden müssen, die oft nicht in die Kategorie von Kombattanten fallen. Auch könne es sein, dass die Operationen mit oder ohne Hilfe der lokalen Regierungen oder nötigenfalls auch gegen sie geführt werden müssen. Hier schafft sich die Doktrin einen scheinbar rechtsfreien Raum, in dem Entscheidungen nach rein politischer Opportunität getroffen werden.

Weitere Interventionsgründe
Weitere Interventionsgründe nach der NA5CRO-Doktrin sind „Kriminalität, da diese Staatlichkeit zerstören kann“, sowie Subversion, die die militärische, wirtschaftliche, ökonomische, psychologische oder politische Stärke einer Regierungsautorität unterminieren kann. Es könne sein, dass Subversion auch dann bekämpft werden müsse, wenn sie gewaltfrei daher kommt, etwa „durch die Nutzung politischer Fronten, Propaganda, Agitation, Infiltration von Regierungsbehörden oder gewaltfreie zivile Unruhen (wie gewaltlose Streiks oder friedliche öffentliche Demonstrationen)“. Kurzum, es gibt keinen gesellschaftlichen Prozess, für den die NATO und ihre Nicht-Artikel-5-Operationen nicht zuständig wären.

Gleichzeitig werden die Regeln des Völkerrechts und des Kriegsvölkerrechts außer Kraft gesetzt, „schmutzige“ Kriegführung wird als legitimes Mittel zur Durchführung dieser Operationen in Anspruch genommen. Die beanspruchte Aufhebung jeder Regelhaftigkeit in der Konfliktaustragung zeigt nicht nur die Arroganz der durch NA5CRO etablierten Weltpolizei, sie belegt auch den Willen zur Abschaffung zivilisatorischer Normen schlechthin. So ist die NATO wohl tatsächlich das, als was der jüngst verstorbene Samir Amin sie bezeichnete:  die „sichtbare Faust“, die dafür sorgt, „die neue imperialistische Ordnung allen Widerständigen aufzuzwingen“. (5)

Anmerkungen
1 https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_27433.htm?selectedLoca... [16.01.19]
2 https://publications.armywarcollege.edu/sitesearch.cfm?q=Couter+Intellig... [07.04.18].
3 http://publications.armywarcollege.edu/pubs/787.pdf [9.4.18]
4 NATO: NATO Civil-Military Co-Operation (CIMIC) Doctrine. Brüssel, (Allied Joint Publication), Juni 2003.
5 Samir, Amin (2017): Revolution from North to South. In: Monthly Review 3/2017

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Werner Ruf, geb. 1937, promovierte 1967 im Fach Politikwissenschaft in Freiburg i. Br. Er lehrte an den Universitäten Freiburg, New York University, Université Aix-Marseille III, Universität Essen, und war von 1982 bis 2003 Professor für internationale Beziehungen an der Universität Kassel.