NATO

Die NATO: Verteidigungsbündnis oder "System gegenseitiger kollektiver Sicherheit"? – Plädoyer für ein Ende der Begriffsverwirrung

von Dieter Deiseroth

Das Grundgesetz (GG) hat in seinem Verfassungstext parallel nebeneinander zwei unterschiedliche sicherheitspolitische Grundkonzepte verankert: bereits seit 1949 das der „gegenseitigen kollektiven Sicherheit“ (Art. 24 Abs. 2 GG) und seit 1956/1968 zusätzlich das der „individuellen und kollektiven Verteidigung“ (Art. 87a GG).

Galt die NATO jahrzehntelang unbestritten als militärisches Verteidigungsbündnis, so fanden und finden sich seit dem Ende des Kalten Krieges sowohl in der öffentlichen wie in der juristischen Diskussion zunehmend Positionen, die der NATO – ähnlich wie der UNO – den Charakter eines „Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 GG zuschreiben wollen. Das ist ein Irrweg mit fatalen juristischen und politischen Konsequenzen. Leider ist das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 1994 dem gefolgt und hat damit maßgeblich zu einer großen Begriffsverwirrung beigetragen.

Die Sicht des BVerfG
Abweichend von seiner früheren Rechtsprechung (vgl. u.a. BVerfGE 68, 95f.) hat das BVerfG erstmals in seiner so genannten Out-of-Area-Entscheidung vom 12.7.1994 die Auffassung vertreten, die NATO sei nicht nur ein Verteidigungsbündnis, sondern auch ein „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 Grundgesetz (GG). Im Fachschrifttum ist diese Rechtsprechung, die sich bis heute in zahlreichen weiteren Entscheidungen des BVerfG – ohne Begründung – fortgesetzt hat, zwar auf Widerspruch gestoßen. Im „mainstream“ ist sie jedoch überwiegend zustimmend aufgenommen worden, entsprach und entspricht sie doch augenscheinlich der vermeintlichen „Staatsräson“ bei der Rechtfertigung von militärischen Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Erleichtert wurde diese Akzeptanz dadurch, dass sie zugleich ein wichtiges „Trostpflaster“ mit vom BVerfG intendierter Befriedungsfunktion (so die damalige BVerfG-Präsidentin Jutta Limbach) bereit hielt: den vom BVerfG erfundenen – im Text des GG so gar nicht vorgesehenen - „konstitutiven Parlamentsvorbehalt“ für jeden militärischen Einsatz der Bundeswehr. Der Deutsche Bundestag hatte sich vor dieser BVerfG-Entscheidung, anders als etwa der US-Kongress im sog. War-Powers-Act, nicht zugetraut, einen solchen Parlamentsvorbehalt gegen die Exekutive durch eigenständige Gesetzgebung durchzusetzen.

Völkerrechtlicher Hintergrund und Genese
Von den „Vätern und Müttern“ des Grundgesetzes war im „Parlamentarischen Rat“ 1948/49 kein eigenständiger verfassungsrechtlicher Begriff der »kollektiven Sicherheit« geprägt worden. Vielmehr legte man die vorgefundene tradierte Begrifflichkeit aus dem Völkerrecht der Verfassungsgebung zugrunde. Carlo Schmid formulierte das Konzept der „kollektiven Sicherheit“ 1948/49 in folgenden Worten: „Diese Vorstellung (eines internationalen Systems kollektiver Sicherheit) ist zum ersten Male aufgekommen zu der Zeit, als Briand französischer Außenminister war; eine sehr einfache Sache – nichts anderes als die Anwendung des Genossenschafts- und Versicherungsgedankens auf das politische Leben: Staaten schließen sich zusammen zu einem System gegenseitiger Verpflichtungen zu dem Zweck, dass, wenn einer von ihnen angegriffen ist, alle anderen diesen Angriff von ihm gemeinsam abwehren, und ein System, das gleichzeitig die Möglichkeit bietet, dass die Differenzen, die unter ihnen selber aufkommen könnten, auf friedlichem Wege in vernünftiger und kalkulierbarer Weise geschlichtet werden können. Damit aber wird das, was man bislang nationale Politik genannt hat, unter das kollektive Interesse gebeugt.“ Auch viele andere VölkerrechtlerInnen haben auf dieses Fundament bis heute – im Kern übereinstimmend – immer wieder zutreffend hingewiesen: „Kollektive Sicherheit und Bündnisse widersprechen sich grundsätzlich.“

Trotz verschiedener Abänderungsanträge während der Beratungen im Parlamentarischen Rat blieb es bei der Schaffung des GG auf der Basis der Argumentation Carlo Schmids (SPD), dem als Vorsitzendem des Hauptausschusses gerade in völkerrechtlichen Fragen vor allem aufgrund seiner herausragenden einschlägigen Vorbildung und Erfahrung eine große Sachautorität von seinen Abgeordneten-Kollegen zugebilligt wurde, bei dieser Textfassung des Art. 24 Abs. 2 GG. Sie ist bis heute unverändert im GG verankert.

 

Fundamentale Differenz
Was sind nun die fundamentalen völker- und damit auch verfassungsrechtlichen Unterschiede zwischen einem „System kollektiver Verteidigung“ (Militärbündnis) und einem „System kollektiver Sicherheit“? Worin bestehen sie konkret?

(1) Der wichtigste Unterschied zwischen einem „System kollektiver Verteidigung“ (Militärbündnis) und einem „System kollektiver Sicherheit“ ist, dass sie auf zwei entgegengesetzten Grundkonzeptionen von Sicherheitspolitik beruhen.

a) Verteidigungsbündnisse richten sich auf das Ziel der Erreichung eigener militärischer Sicherheit durch die Stärke des eigenen Militärbündnisses. Der Grundansatz lautet: Je größer die eigene Stärke gegenüber dem potenziellen Gegner, umso größer die eigene Sicherheit. Ein Verteidigungsbündnis ist deshalb „partikulär-egoistisch“. Es gründet auf der Konzeption, dass die Abschreckung einer militärischen Aggression und deren Abwehr durch gewaltsamen Selbstschutz („Faustrecht“) des bedrohten/angegriffenen Staates und seiner Verbündeten erfolgt.

b) Die Grundkonzeption kollektiver Sicherheit erstrebt hingegen innerhalb der internationalen Rechtsordnung die gemeinsame Sicherheit aller involvierten Staaten auf regionaler oder globaler Ebene – einschließlich des potenziellen Gegners. Sie gründet die eigene Sicherheit primär gerade nicht auf der eigenen Stärke, also der relativen Schwäche und Unterlegenheit des potenziellen Gegners, sondern verankert sie in der wechselseitigen und damit gemeinsamen/kollektiven Sicherheit. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass die eigene Sicherheit jedenfalls im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen und des „Gleichgewichts des Schreckens“ notwendigerweise zugleich auf der Sicherheit des potenziellen Gegners beruht.

(2) Ein „System kollektiver Sicherheit“ ist damit – anders als ein Militärbündnis wie die NATO (oder wie früher die Warschauer-Pakt-Organisation) – auf prinzipielle Universalität im Sinne des Einschlusses potenzieller Aggressoren angelegt. Es kann dabei nicht nur globale, sondern auch regionale Systeme kollektiver Sicherheit geben, sofern sie nur innerhalb der gesamten Region prinzipiell allen betroffenen Staaten offen stehen. Im Parlamentarischen Rat ist dies bei der Erarbeitung des GG klar erkannt worden, in dem – innerhalb des globalen UN-Rahmens – ausdrücklich z.B. von einer Union aller europäischen Staaten als Beispiel für ein regionales System kollektiver Sicherheit die Rede war.

Dieser fundamentale Unterschied zeigt sich sehr deutlich etwa bei der NATO. Sie steht eben, anders als etwa die UNO, nicht jedem Beitrittswilligen offen, der die im NATO-Vertrag verankerten Ziele anerkennt. In der Zeit ihrer Gründung und während des Kalten Krieges war sie nach ihrem erklärten Selbstverständnis primär gegen eine potenzielle Aggression der Sowjetunion und deren Verbündeten gerichtet. Dementsprechend haben die NATO und ihre Mitgliedsstaaten in den Jahren 1954/55 auch das Begehren der früheren Sowjetunion auf Mitgliedschaft im NATO-Bündnis als unvereinbar mit seiner Zielrichtung abgelehnt. Nicht anders wurde mit dem Aufnahmegesuch Russlands im Zusammenhang mit den NATO-Osterweiterungen in den 1990er Jahren umgegangen. Diese Osterweiterung zielt bis heute durchweg darauf ab, die eigene Sicherheit gegen Russland und nicht gemeinsam mit Russland zu definieren und zu gestalten.

(3) Drittens – und dies ist ein weiterer gravierender Unterschied zu einem kollektiven Sicherheitssystem – enthält ein Verteidigungsbündnis für den Fall eines von einem eigenen Mitgliedsstaat begangenen Aggressionsaktes keine verbindlichen internen Konfliktregelungsmechanismen. Das ist auch beim NATO-Vertrag so. Eine NATO-interne Verpflichtung der übrigen NATO-Partner, einem NATO-Verbündeten, der gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot verstößt, mit kollektiven NATO-Zwangsmaßnahmen entgegen zu treten, sieht er gerade nicht vor. Für die NATO-Staaten zeigte sich dies z.B. während des Vietnam-Krieges, bei den völkerrechtswidrigen US-Militäraktionen gegen Guatemala, Grenada, Panama und zahlreiche andere Staaten, sowie zuletzt im Jahre 2003 beim US-Krieg gegen Irak. Dieses konzeptionelle und institutionelle Defizit der NATO ist typisch für ein „System kollektiver Verteidigung“ (Verteidigungsbündnis), das ja gerade zur Verteidigung gegen einen potenziellen externen Aggressor, nicht aber zur Wahrung der Sicherheit gegen verbündete Mitglieder geschlossen wird.

(4) Ein Verteidigungsbündnis etabliert auch – ganz anders als ein „System kollektiver Sicherheit“ – keine den Mitgliedsstaaten übergeordnete zwischenstaatliche oder supranationale Gewalt einer organisierten und rechtlich geordneten Macht nach dem Modell der Vereinten Nationen. 

(5) Keine Differenz zwischen ihnen besteht darin, dass ihre Mitgliedsstaaten dem völkerrechtlichen Gewaltverbot unterliegen. Dies ergibt sich unmittelbar aus Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta. Die NATO hat zudem ihre strikte Bindung an die UN-Charta und das geltende Völkerrecht in Art. 1 NATO-Vertrag ausdrücklich klargestellt.

Das Grundgesetz knüpft seit seinem Inkrafttreten mit Art. 24 Abs. 2 GG an diese typisierte völkerrechtliche Begrifflichkeit und fundamentale Unterscheidung zwischen einem „kollektiven Sicherheitssystem“ und einem „kollektiven Verteidigungsbündnis“ an und inkorporiert diese in das deutsche Verfassungsrecht seit 1949. Diese Unterscheidung ist äußerst bedeutsam – in rechtlicher und in konzeptioneller Hinsicht.

 

Konzeptionelle Relevanz für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik
Dem fundamentalen Unterschied  zwischen einem „System kollektiver Sicherheit“ gegenüber einem „Verteidigungsbündnis“ kommt neben der rechtlichen Relevanz im Hinblick auf die Ermächtigungsgrundlage für militärische Bundeswehreinsätze (Art. 87a GG oder Art. 24 Abs. 2 GG) eine wichtige Leitfunktion für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zu.

Die so genannte Palme-Kommission, an der 19 bedeutende Politiker aus Ost und West, Nord und Süd, darunter Egon Bahr, in den 1980er Jahren mitgewirkt haben, hat dies in die weisen Worte gefasst: „In der heutigen Zeit kann Sicherheit nicht einseitig erlangt werden. Wir leben in einer Welt, deren ökonomische, politische, kulturelle und vor allem militärische Strukturen in zunehmendem Maße voneinander abhängig sind. Die Sicherheit der eigenen Nation lässt sich nicht auf Kosten anderer Nationen erkaufen.“ Im nuklearen Zeitalter der gegenseitig gesicherten Zerstörung ist Sicherheit nicht mehr vor dem potenziellen Gegner, sondern nur noch mit ihm, d.h. als gemeinsame Sicherheit zu erreichen. Diese fundamentale Erkenntnis der Palme-Kommission knüpft unmittelbar an die Vorstellungen einer „kollektiven Sicherheit“ an, wie sie in Art. 24 Abs. 2 GG , in der UN-Charta und in der nach dem Ende des Kalten Krieges zwischen „Ost“ und „West“ vereinbarten „Charta von Paris“ vom 21.11.1990 ihren Niederschlag gefunden hat. (1)

Die Missachtung der Erkenntnisse der Palme-Kommission von der im Nuklearzeitalter bestehenden existenziellen Notwendigkeit, in der Sicherheitspolitik vom Grundkonzept „gemeinsamer Sicherheit“ auszugehen, zeigt sich gegenwärtig sehr praktisch und deutlich unter anderem beim Aufbau des NATO-Raketenabwehrsystems in Europa, beim Umgang mit dem Ukraine-Konflikt und bei der Osterweiterung der NATO. (2) Die große Frage ist, ob es in den nächsten Jahren gelingen wird, die OSZE zu einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit fortzuentwickeln und zu stärken. Das könnte uns einen neuen Kalten Krieg ersparen helfen.

 

Anmerkungen

1 In der „Charta von Paris“ haben die Teilnehmerstaaten einander versprochen:

„Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, dass sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden. ...

Nun, da die Teilung Europas zu Ende geht, werden wir unter uneingeschränkter gegenseitiger Achtung der Entscheidungsfreiheit eine neue Qualität in unseren Sicherheitsbeziehungen anstreben. Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden. Wir verpflichten uns daher, bei der Festigung von Vertrauen und Sicherheit untereinander sowie bei der Förderung der Rüstungskontrolle und Abrüstung zusammenzuarbeiten. ...

Bei all der reichen Vielfalt unserer Nationen sind wir vereint in der Verpflichtung, unsere Zusammenarbeit in allen Bereichen auszubauen. Die Herausforderungen, denen wir uns gegenübersehen, können nur durch gemeinsames Handeln, Zusammenarbeit und Solidarität bewältigt werden.

2 Vgl. dazu näher Deiseroth, Das Friedensgebot des Grundgesetzes und der UN-Charta – und die Bundeswehr?, in: http://www.studiengesellschaft-friedensforschung.de/veranstaltungen/das_...

 

Der Artikel ist erstmals erschienen in: Wissenschaft & Frieden Heft 1/2009, S. 12-16, und wurde von der Redaktion stark gekürzt.

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