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Siedler werden zu Soldaten
Die Notwendigkeit internationaler Präsenz und Schutzes im Westjordanland
vonWährend die Aufmerksamkeit der Welt auf das Abschlachten von Zivilist*innen in Gaza gerichtet ist, wurden nach Angaben der Vereinten Nationen mindestens 122 Palästinenser*innen im Westjordanland getötet, über 2.000 verletzt und fast 1.000 gewaltsam vertrieben. (1)
Seit Ausbruch des Gaza-Krieges am 7. Oktober ist für die Palästinenser*innen im Westjordanland ein annähernd normales Leben unmöglich geworden. Dies ist insbesondere in der Zone C der Fall, den 60 Prozent des besetzten palästinensischen Gebiets, die unter vollständiger israelischer Kontrolle stehen.
Unbewaffneter Ziviler Schutz (Ziviles Peacekeeping)
In den letzten 18 Monaten war ein Forschungsteam der Universität Coventry mit einer Studie über die Bedeutung des unbewaffneten zivilen Peacekeepings als Mittel zur Verbesserung der Sicherheit der Palästinenser*innen beschäftigt, die in den südlichen Hebroner Hügeln in einem Gebiet namens Masafer Yatta leben.
Die Palästinenser*innen, die in den kleinen Gemeinden verstreut über dieses karge, halbtrockene Land leben, bestreiten ihren Lebensunterhalt größtenteils durch die Weidehaltung von Schafen und Ziegen. Im Laufe der Jahre haben sie sich daran gewöhnt, dass ihre Zisternen, Sonnenkollektoren, Straßen und Gebäude vom israelischen Militär abgerissen werden, weil sie von der Besatzungsverwaltung nicht die erforderliche Baugenehmigung erhalten hatten.
Karte des Areals C in der Westbank, von https://www.btselem.org/publications/summaries/201306_acting_the_landlord. Die Zahlen palästinensischer wie israelischer Einwohner*innen sind seitdem stark gestiegen. Masafer Yatta ist nahe an der grünen Linie, südöstlich von Hebron.
Allerdings erfuhren wir von unseren Interviewpartner*innen bei unserem ersten Feldforschungsbesuch im Oktober 2022, wie die Anwesenheit von palästinensischen und israelischen Solidaritätsaktivist*innen, neben internationalen Freiwilligen aus Netzwerken wie der Internationalen Solidaritätsbewegung, dem Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel und der Operation Dove aus Italien und dem in den USA ansässigen Center for Jewish Nonviolence, eine wichtige Rolle dabei spielte, den Einheimischen die Möglichkeit zu geben, weiterhin ihre Schafe und Ziegen zu weiden und den Bedrohungen durch israelische Siedler zu widerstehen.
Die Begleiter*innen fungierten als eine Art Schutzpräsenz und hielten israelische Siedler*innen durch die Überwachung und Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen davon ab, die Dorfbewohner*innen anzugreifen. Noch wichtiger ist, dass ihre Anwesenheit einen tiefgreifenden Einfluss auf die Moral und damit auf die Widerstandsfähigkeit der Einheimischen hatte, die die Begleiter*innen als stichhaltigen Beweis dafür betrachteten, dass sie in ihrem Kampf gegen die kolonialistische Enteignung ihres Landes nicht allein waren.
Masafer Yatta unter Belagerung
Am 1. November 2022, nur wenige Tage nach Abschluss unserer ersten Feldforschungsphase, ging Israel erneut zur Wahl. Das Ergebnis war ein Sieg für eine rechtsextreme Koalition, deren Hauptpartner von Siedler*innen angeführt wurden, die offen jüdische Ethnonationalist*innen und Antiaraber*innen und entschlossene Befürworter*innen der formellen Annexion des Westjordanlandes waren.
Die Auswirkungen dieses politischen Wandels auf staatlicher Ebene wurden uns bei unserem zweiten Feldforschungsbesuch im Juni 2023 sofort klar. Die Dorfbewohner*innen berichteten von einer dramatischen Eskalation der Gewalt durch die Siedler und den Staat. Wir haben zahlreiche Fälle registriert, in denen kleine Gemeinden von bewaffneten Siedlern angegriffen wurden, Hirten der Zugang zu ihren Wasserbrunnen verweigert wurde und Ernten beschädigt wurden. Auffällig war auch, dass die Siedler begonnen hatten, internationale Freiwillige/Begleiter ins Visier zu nehmen. Es gab auch Hinweise darauf, dass das israelische Militär Informationen über die Identität internationaler Begleiter*innen an Siedler weitergab. All dies verstärkte die allgemeine Spannung und Unsicherheit, die die Einheimischen und ihre Begleiter*innen empfanden.
Unsere Informant*innen sagen uns, dass sie heute an diese Zeit als eine Zeit vergleichsweiser Sicherheit zurückdenken. Im Schatten des Gaza-Krieges haben der israelische Staat und die Siedler*innen die sogenannte „erfolgreichste Landraubstrategie seit 1967“ gestartet. (2)
Das Ausmaß der Gewalt ist sprunghaft angestiegen. Der Siedler an der Spitze des Ministeriums für nationale Sicherheit genehmigte die Verteilung von Gewehren an Siedlermilizen und „zivile Sicherheitsteams“. Normalerweise im Westjordanland stationierte Soldat*innen wurden an die Grenze zum Gazastreifen geschickt und durch Reservist*innen ersetzt, von denen die meisten selbst Siedler*innen sind. Die Realität vor Ort sieht jetzt so aus, dass Siedler*innen und Soldat*innen nicht mehr zu unterscheiden sind.
Im Dorf At-Tuwani, das einer unserer Forschungsstandorte war, schoss am 13. Oktober ein mit einem Sturmgewehr bewaffneter Israeli aus einer benachbarten Siedlung aus nächster Nähe auf einen Dorfbewohner.
Am 25. Oktober drangen israelische Siedler und Soldaten in das Land einer palästinensischen Familie in Tuwani ein und setzten einen Bulldozer ein, um Bäume zu entwurzeln und den Garten der Familie zu zerstören.
Am 26. Oktober gab es Berichte über eine Drohne, die über Dörfer flog und auf Arabisch sendete: „Wir können dich überall sehen. Wo auch immer Sie sind, wir kriegen Sie.“
Am 28. Oktober drohten Siedler*innen ein paar Meilen von Tuwani entfernt im Weiler Susiya den Bewohner*innen, dass sie zurückkehren und sie erschießen würden, wenn sie ihre Häuser nicht innerhalb von 24 Stunden verlassen würden.
An anderen Orten haben Siedlersoldat*innen israelische Flaggen auf palästinensischem Land und Eigentum gepflanzt und die einheimischen Männer gezwungen, israelische patriotische Lieder zu singen, während sie sie auf Video filmten.
Die meisten Palästinenser*innen vor Ort sind in ihren Häusern versammelt und beten. Bei Bewegungen außerhalb des Hauses besteht die Gefahr, dass es zu Gewalt von Soldat*innen und Siedler*innen kommt.
Empfehlung: Eine neue internationale Präsenz
Als Forschungsteam sind wir derzeit zu dem Schluss gekommen, dass unter solch verzweifelten und völlig gesetzlosen Umständen der Raum für jede Art von freiwilliger, unbewaffneter Schutzpräsenz durch „Außenstehende“ minimal und viel zu gefährlich ist, um darüber nachzudenken.
Dementsprechend würden wir vorschlagen, ernsthaft über die Einrichtung einer Art multinationaler Präsenz nachzudenken, deren ausdrückliche Aufgabe darin besteht, die palästinensische Zivilbevölkerung im Gebiet C zu schützen. Es gibt einen Präzedenzfall, aus dem Lehren gezogen werden könnten – die von Norwegen koordinierte vorübergehende internationale Präsenz in Hebron (3), die im Rahmen des Osloer Friedensabkommens der 1990er Jahre gegründet wurde und dessen Mandat 2019 von Israel beendet wurde.
Anmerkungen
1 https://www.ochaopt.org/content/hostilities-gaza-strip-and-israel-flash-...
2 https://www.theguardian.com/world/2023/oct/21/the-most-successful-land-g...
3 Die Temporäre Internationale Präsenz in Hebron (TIPH) war eine zivile Beobachtungsmission, die im gemeinsamen Einvernehmen der israelischen Regierung und der Palästinensischen Autonomiebehörde gegründet wurde. Ihre Aufgabe bestand darin, Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht in Hebron zu überwachen und zu dokumentieren. Das Personal bestand aus Mitarbeiter*innen aus Italien, Norwegen, Schweden, der Schweiz und der Türkei.
Quelle: https://rethinkingsecurity.org.uk/2023/11/02/settlers-turn-soldiers-the-....
Im Originaltext finden sich zahlreiche Links zu Web-Belegen, die wir hier nicht mit abdrucken konnten.