Die Ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001-2010

von Anthea Bethge
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Ich werde die Szene nie vergessen: Es war im März 1992 und ich war gerade zu einem Sprachkurs in Südspanien. Als Fremde in der Region fielen mir die schwerbewaffneten Wachleute vor den Geschäften, die vielen Polizisten und Soldaten insbesondere in Sevilla zur Expo-Zeit auf, die die Gäste vor terroristischen Anschlägen schützen sollten. Ich erzählte meinen deutschen Kolleginnen und Kollegen von meinem ersten Schrecken und von meinem anhaltenden Unbehagen.

Am nächsten Tag sprach mich ein mir bis dahin unbekannter Sprachstudent an und fragte freundlich: "Sag mal, gehörst du einer gewaltfreien Organisation an?" Die Antwort kam mir nur schwer über die Lippen. Sehr zögerlich und nicht besonders kohärent erzählte ich davon, dass mein christlicher Glaube mir den Impuls dafür gibt, mich nicht mit der Androhung und Anwendung von Gewalt abzufinden. Im Vertrauen auf Gottes Zuneigung zu den Menschen finde ich die Kraft, die Liebe und die Besonnenheit, die mich nach Alternativen zur Gewalt suchen lässt. Insofern, so folgerte ich, ist meine "gewaltfreie Organisation" die Gemeinschaft der Gläubigen, die Kirche Jesu Christi, die Ökumene. Natürlich sah ich mich sofort gezwungen, diese Aussage einzuschränken. Aber ich merkte auch, dass ich da ein für mich sehr wahres, ehrliches Bekenntnis gesprochen hatte. Mein Gegenüber hörte schweigend zu, schaute mich nur erstaunt und neugierig an. Erst viel später erfuhr ich, dass er im Gegensatz zu mir Theologe ist und meine Hoffnung teilt. Wir sind Freunde geworden.

Neun Jahre sind seither vergangen, fast eine Dekade. In dieser Zeit habe ich eine Reihe wirklich gewaltfreier Organisationen von innen kennengelernt, eine Fortbildung in ziviler Konfliktbearbeitung beim Ökumenischen Dienst absolviert und bin in der Qualifizierung von Friedensfachkräften und der Beratung von Initiativen zur Überwindung von Gewalt tätig.

Und dennoch, als Ende 1998 die Vollversammlung des Weltrates der Kirchen in Harare eine Dekade zur Überwindung von Gewalt beschloss, da war das für mich ein ganz besonderer Moment. Eine Mischung von Ermutigung, Zuversicht, Hoffnung, Neugier, Skepsis und Sorge umfängt mich.
 

Es gibt Grund für guten Mut: Nicht mehr nur AktivistInnen der Friedensbewegung oder Mitglieder der historischen Friedenskirchen, ökumenische Grenzgänger und Randfiguren volkskirchlicher Institutionen sehen es als ihre Aufgabe an, sich der Gewalt mit ihren vielen Gesichtern zu stellen und ihr entgegenzuwirken. Jetzt sind es Kirchenleitungen aus Ost und West, Nord und Süd, anglikanische, orthodoxe, lutherische, reformierte - und mit ihrem Hirtenwort zum gerechten Frieden steht die katholische Kirche in Deutschland dem in nichts nach. Gewalt überwinden ist damit nicht mehr beliebiges Thema für kirchliches Reden und Handeln, sondern Schwerpunktthema in der Ökumene. Die ökumenische Bewegung selbst kann dabei etwas besonderes beitragen: Ihre Geschichte der Überwindung von Trennendem, mehr als ein Jahrhundert voll von erfolgreichen und gescheiterten Bemühungen. Das ist ein einmaliger internationaler Erfahrungs-Schatz für die Arbeit in einem bunter werdenden Deutschland und auch dort, wo Religionsgrenzen und Konfliktlinien parallel verlaufen.

Es gibt Grund zur Zuversicht: Die Wortwahl "Gewalt überwinden" erzeugt auf Anhieb überall Zustimmung. Es gibt da jenseits aller dogmatischen, politischen und friedensethischen Streitpunkte so etwas wie einen pragmatischen Konsens. Das ist eine Chance. Wenn wir uns in unseren kirchlichen Gremien nicht hauptsächlich damit beschäftigen, ob oder ob nicht und, wenn ja, wann gewaltsame Interventionen aller Art rechtens sind, sondern uns darauf konzentrieren, gewaltfreie Alternativen zu entwickeln und anzuwenden, dann sind wir ein ordentliches Stück vorangekommen. Ich glaube nicht, dass die Kirche der Welt dient, wenn sie Gewaltfreiheit gebietet oder Theorien über den gerechten Krieg oder den gerechten Frieden verkündet. Sie kann der Welt aber einen großen Dienst erweisen, indem sie selbst das Alphabet der Gewaltfreiheit lernt.

Es gibt Grund für Hoffnung: Gewalt überwinden ist eine großartige Aufgabe, deren Gelingen nicht allein von uns abhängt. Sie reicht tief in die Herzen der Menschen, denn sie verändert das Selbst- und das Fremdbild. Wenn aus Feinden Freunde werden, dann geschieht etwas zutiefst menschliches und dennoch unerwartetes. Die Kirchen haben sich diese Aufgabe gegeben, von der sicher niemand behaupten kann, dass sie von Kleinglaube oder Hoffnungslosigkeit geprägt sei. Es braucht schon viel Gottvertrauen, wenn man erwartet, dass Gewalt hier und dort und immer wieder überwunden werden kann. Diese Hoffnung in Dörfer und Städte zu tragen mit allen Mitteln der Öffentlichkeitsarbeit, das ist etwas, worin die Kirchen geübt sind, denn sie haben den Auftrag, von ihren Hoffnungen zu erzählen.
 

Es gibt Grund zur Neugier: Zehn Jahre sind eine lange Zeit - Zeit genug, die eigene Geschichte anzuschauen, nicht nur die Geschichte der Gewalt, sondern insbesondere die Geschichte derer, die zu allen Zeiten an ihrer Überwindung arbeiteten. Wie ging Kirche mit ihnen um vor 500 Jahren, vor 50 oder vor 5? Einen guten Umgang mit denen zu haben, die Gewalt überwinden, das ist Weg und Ziel zugleich für ein Gelingen der Dekade.

Es gibt jedoch auch Grund für Skepsis: Auch wenn in diesen Monaten, in denen die Dekade an vielen Orten eröffnet wird, viel über Gewalt und auch ein wenig über Gewalt überwinden gesprochen wird, frage ich mich immer häufiger, ob die Aussagen der RednerInnen von Erfahrungen gedeckt sind. Dass die Kirche allgemein gegen Gewalt ist, braucht sie niemandem zu sagen. Alle denken bei Gewalt zuerst an die Gewalt der anderen und sind natürlich dagegen. Aber was bedeutet es, für die Überwindung von Gewalt zu sein? Das heißt doch der Gewalt standzuhalten, nicht mit Flucht, Gleichgültigkeit oder Aggression zu reagieren, sondern unter eigenem Gewaltverzicht an ihrer Überwindung zu arbeiten. Das ist nicht einfach. Das ist sogar riskant. Man braucht dafür Aufmerksamkeit und Mut, eine gute Schulung und die Bereitschaft, eher Leiden auf sich zu nehmen, als sie anderen zuzufügen. So ein Verhalten ist zugleich im tiefsten Sinne christlich und wirkungsvoll gewaltüberwindend. Doch werden die Kirchen auch dann diesen Weg gehen, wenn sie sich auf der Seite der Stärkeren und des Rechts wähnen? Wenn es anscheinend um Notwehr und Nothilfe geht und wenn die Anwendung von Gewalt und deren Legitimierung durch die Kirchen wie eine Erlösung empfunden wird?

Gerade hier gibt es Grund zur Sorge: In den "Interventionen" und "Luftschlägen" der letzten Jahre ist ein Begriff wieder selbstverständlich geworden, der in der Zeit der atomaren Abschreckung fast verschwunden, weil offensichtlich überholt war: Kriegerische Aktionen sind wieder zur "ultima ratio" der Politik geworden. Das heißt, die Anwendung von Gewalt gegen die Bevölkerung fremder Staaten ist für die Politik der großen Mächte - und für die Öffentlichkeit bei uns - nicht nur wieder denkbar und durchführbar, sondern begründbar geworden. Und ein Grund wird sich fast immer finden lassen, sei es eine "humanitäre Katastrophe", sei es die Bedrohung, die von einem "Schurkenstaat" ausgeht, oder sei es schlicht die Durchsetzung eigener politischer oder wirtschaftlicher Interessen. Die Diskussion um die scheinbare Notwendigkeit von Kriegen hat auch in den Kirchen Spuren hinterlassen. Die alte Formel "Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein!" wird hohl, wenn Krieg das einzige Mittel zu bleiben scheint, um Menschlichkeit durchzusetzen. Es ist zunehmend schwierig, dagegen in den Kirchen jenen anderen Gedanken hochzuhalten und durchzusetzen, nämlich, dass es nie vernünftig ist, militärische Gewalt zur Überwindung von Gewalt einzusetzen. Aber gerade dies schulden die Kirchen der Welt: Das eindeutige Zeugnis, nie mehr Gewalt zu akzeptieren oder gar zu legitimieren. Das Rahmenkonzept zur ökumenischen Dekade spricht von einer Absage an Geist, Logik und Ausübung von Gewalt durch die Kirchen. Das schulden wir den Tätern und den Opfern und uns selbst mittendrin.
Unsere eigenen Herzen und die der Krieger bekehren, dem Rad in die Speichen fallen, das Mahl der Versöhnung vorbereiten - das ist das Erste und das immer Nötige und auch das Letzte, das von uns verlangt ist. Das ist unsere ultima ratio.

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Dr. Anthea Bethge arbeitet seit drei Jahren als Friedensfachberaterin. Sie engagiert sich besonders für qualifizierte Friedensarbeit im Kontext der Ökumene.