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Im Blickpunkt
Die Pariser Morde, furchtbar! Doch bin ich deshalb Charlie?
vonSeit Jahrzehnten kämpfe ich in der gesellschaftlichen wie in der internationalen Welt gegen Gewalt. So verurteile ich die terroristischen Vorfälle in Paris ohne Wenn und Aber. (1)
Gewalt wird in vielen Teilen der Welt rigoros in Invasionen, durch Drohnen, durch Selbstmordattentate, maßlose Zerstörungen wie in Gaza oder durch strukturelle Gewalt in Form von Entrechtung und Ausbeutung angewandt. Den zivilen Opfern, zynisch Kollateralschäden genannt, wird in der Regel wenig Aufmerksamkeit geschenkt, und seien es auch Hunderttausende. Wie kommt es, dass 17 Ermordete in Paris solches Aufsehen erregen? Man sagt, hier ginge es darum, die Meinungsfreiheit, ein hohes gesellschaftliches Gut, zu verteidigen.
Doch warum protestieren nicht die Präsidenten und andere Zig-Tausende, wenn durch Monopolisierung, durch Entlassung unliebsamer MitarbeiterInnen, durch hierarchische Strukturen in den Medien und gar durch Verbote unliebsamer Zeitungen durch Obrigkeiten Meinungsfreiheit eingeschränkt wird? Sonderbar, dass nach Paris auch die PräsidentInnen kamen, die im eigenen Land die Meinungsfreiheit mit Füßen treten. Alle wurden zu Charlie! Wie ist das erklärbar?
Steht hier etwa Charlie nicht nur für Meinungsfreiheit, sondern darüber hinaus für etwas ganz anderes? Wir wissen gut, über Medien aller Couleur werden auch Interessenskämpfe ausgetragen. Wer mehr Geld für Parteienwerbung aufbringen kann, hat größere Chancen, Wahlen zu gewinnen. Wer Gegner verteufeln und damit Feindbilder im Bewusstsein der eigenen Gesellschaft verankern möchte, bedient sich selbstverständlich der Medien. Der aktuelle Ukraine-Konflikt bietet dafür massenhaft Anschauungsmaterial. Ist solches Verhalten ein hoher Wert, den es zu verteidigen gilt? Ist die Meinungsfreiheit in solchen Fällen nicht eher ein Mittel, um die Gedankenfreiheit von Menschen einzuschränken? Wie sagte Rosa Luxemburg? „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden“.
Wenn das auch auf Meinungsfreiheit von KarikaturistInnen zutrifft, und daran gibt es wohl keinen Zweifel, stellt sich die Frage nach den Grenzen der Meinungsfreiheit. Sie soll doch durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Argumente Aufklärung und möglicherweise Verständigung ermöglichen, nicht aber demütigen. Demütigung bedeutet, den Anderen in den Augen der Öffentlichkeit schlecht, vielleicht sogar zum Feindbild zu machen, seine Würde in Frage zu stellen. Oft wird die Würde mit religiösen Überzeugungen verbunden. Darf man diese lächerlich machen, und ist dann Kritik verboten? Da verläuft eine Grenze, deren unsichere Linie Sensibilität und Respekt verlangt. Offenbar ist Charlie dies nicht immer gelungen. Auch Moslems, die den Terroranschlag verurteilen, empfinden dies so.
Sensibilität wird ganz besonders benötigt, wenn eine gespannte, konfliktreiche Situation besteht - wie gegenwärtig im Nahen- und Mittleren Osten wie auch in Afrika. Da respektlos oder gar beleidigend zu sein, heißt, Öl ins Feuer zu gießen. Ist das eine zu große Einschränkung der Meinungsfreiheit oder ein Gebot der Klugheit?
Für uns sind die Satyagraha-Normen (2), die auf das Denken von Gandhi zurückgehen, in solchen Situationen eine große Hilfe. Darin stehen Sätze wie: „Gib dem Kampf einen positiven Sinn! Dehne nicht das Ziel des Kampfes aus! Schenke dem Gegner Vertrauen! Beurteile andere nicht härter als Dich selbst! Zwinge den Gegner nicht – wandle seinen Sinn! Richte den Kampf gegen die Sache, nicht gegen die Person! Nutze die Schwäche des Gegners nicht aus! Provoziere den Gegner nicht! Wähle Mittel, die dem Ziel entsprechen!“
Alle Überlegungen drängen mich zu der Frage, ob die ’Je suis Charlie-Aktion’ nicht eher der Stimmungsmache und Mobilisierung gegen den aufständischen Islam und der Darstellung europäischer Überlegenheit dienen soll.
Ich trauere um die Ermordeten, mais je ne suis pas Charlie ...
Anmerkungen
1 Für kritische Beratung bei der Abfassung dieses Textes danke ich Ursula Emmerich.
2 Buro, Andreas: Meine Erfahrungen mit den Satyagraha-Normen von Johan Galtung undArne Naess nach Gandhi, in: Gewaltfreie Aktion Hg.: Reiner Steinweg, Ulrike Laubenthal, Frankfurt 2011