Die "schreckliche Heimsuchung" und der Schrei nach dem starken Staat

von Dr. Rolf Gössner

Seit 1990, dem Jahr der deutschen Vereinigung, sind mehr als 50 Menschen von Rechtsterroristen, Neonazis und anderen fremdenfeindlich eingestellten Tätern erschlagen; erstochen und verbrannt worden; die Zahl der zum Teil schwer Verletzten geht in die Tausende. Nacht für Nacht brennen Wohnungen und Häuser; die Terrorangriffe gegen Asylbewerber, türkische Frauen und Kinder, gegen Obdachlose und Behinderte, gegen Juden und Linke gehen weiter, häufen sich. Die Mörder sind mitten unter uns, und die sozial Schwächsten und Ausgegrenzten dieser Gesellschaft sind ihre Opfer. Alltag gewordener Terror im vereinten Deutschland.

Verdrängungsprogramm: Das neonazistische Morden als "Heimsuchung"

Allenthalben "Trauer" und "Entsetzen" über die Morde von Mölln und Solingen. Dennoch sind die Reaktionen auf den neonazistischen, Terror, wen wunderts, recht unterschiedlich: Die einen beginnen sich zu wehren und schlagen zurück, andere demonstrieren und bilden Lichterketten, wieder andere sind schlicht betroffen und beten; und dann ist da noch Helmut Kohl, der nach Solingen in der ihm eigenen unübertroffenen Art von "schrecklicher Heimsuchung" und von "asozialer" Gewalttätigkeit" einzelner fehlgeleiteter Individuen schwadroniert, wie es sie leider überall gebe.

Was will uns der Kanzler damit sagen? Ganz einfach: Der neonazistische Terror kommt nicht mitten aus dieser Gesellschaft, sondern irgendwie, einem schrecklichen Naturereignis gleich, von außen oder oben, einfach so über uns. Und die Täter sind Asoziale, mit denen die Gesellschaft und ihre Repräsentanten eigentlich nichts zu tun haben. Es ist diese Sprache der Verdrängung, der Negierung eigener politischer Verantwortlichkeit, die so typisch ist für die herrschende Parteienpolitik, wenn auch nur selten dermaßen offen und schamlos präsentiert. Was dabei ganz nebenbei unter den Teppich der Nation gekehrt wird:

  1. Neonazismus und Rechtsterror sind kein neues Phänomen dieser Tage oder seit der deutschen Vereinigung. Es gab und gibt sie nicht erst seit Hoyerswerda und Rostock - und zwar in West- wie in Ostdeutschland. Die westdeutsche Wirklichkeit in den 80er Jahren. Schon 1988 gab es insgesamt 73 "rechtsextremistische" Organisationen mit knapp 30.000 Mitgliedern. Von 1980 bis 1989 gab es neben über 700 sonstigen neonazistischen Gewalttaten - insgesamt 36 Tote aufgrund von rechtsterroristischen Anschlägen: Darunter waren die Opfer des Münchner Oktoberfest-Attentats, 10 Ausländer, ein jüdischer Verleger und seine Lebenspartnerin, zwei Männer ohne festen Wohnsitz. Das sind über dreieinhalbmal so viele gewaltsame Todesfälle, wie sie im selben Zeitraum von sog. Linksterroristen, etwa der RAF, verursacht wurden (10 Fälle). Doch der politisch hochdramatisierte "Linksterrorismus“ dominierte die öffentliche Debatte und diente als Zielobjekt der geradezu hysterischen staatlichen Aufrüstungs- und Verfolgungstätigkeit - die rechtsradikalen Tendenzen, die schon damals in weiten Teilen der Bevölkerung verankert waren, und der manifeste Terror von rechts wurden weitgehend verdrängt.
  2. Immer noch werden rechtsorientierte terroristische Gewalttaten gerne als Handlungen von isolierten Einzeltätern bzw. von unorganisierten Spontantätern bagatellisiert, allenfalls ist von Jugend-Gangs oder alkoholisierten Jugendcliquen die Rede - als gäbe es keinerlei politischen Hintergrund für ihre mörderischen Gewalttaten, als gäbe es nicht längst einen gut organisierten neonazistischen Kern aus Skinhead-Szene, Neonazi-Parteien, Wehrsportgruppen und völkischen Einsatzkommandos, die schwer bewaffnet, u. a. den Straßen- und Häuserkampf zur Stürmung von Asylbewerber-Heimen exerzieren und im Nahkampf die Tötung von Menschen trainieren. Fremdenfeindliche Gewalttaten, so eine neue Studie, werden nicht von "irregeleiteten Einzeltätern" verübt, sondern zu 90 Prozent, von "informellen Cliquen und Gruppen", die in einem rassistisch gesättigten Klima agieren, mit rechtsextremen Vereinigungen im Kontakt stehen oder aber mit ihnen verknüpft sind.

Die offizielle, im Konstrukt. vom "Einzeltäter" zum Ausdruck kommende Verharmlosung ist besonders erstaunlich, wenn man bedenkt, wie anders diese "Sicherheitsbehörden" handeln, sobald es um das linksgerichtete Spektrum geht: Wie rasch werden .da organisatorische Strukturen unterstellt, um das rechtsstaatlich höchst bedenkliche „Anti-Terror" Sonderrecht nach § 129 a StGB nutzen zu können. Hier gilt dann die sog. Kollektivitätsthese, wonach alle Mitglieder einer "terroristischen Vereinigung" für alle Taten, die dieser zugerechnet werden, haften - gleichgültig, ob ihnen die Einzeltat nachweisbar, ist oder nicht.

Aus der deutschen Geschichte ist uns diese Tendenz zum staatlichen Handeln nach zweierlei Maß zur Genüge bekannt. Ob es, so muß man sich fragen, wohl auch damit zu tun hat, daß vom rechten Terrorismus keine Gefahr für den Staat, für das staatliche Gewaltmonopol ausgeht? Schließlich huldigen die rechten Gewalttäter einem starken, autoritären Staat und den althergebrachten Feindbildern:

Sie richten sich, hauptsächlich gegen soziale Minderheiten, Außenseiter und Ausgegrenzte, nicht etwa gegen Wirtschaftsmanager, Staatsfunktionäre oder ihre Etablissements.

  1. Was mit der Kohlschen "Heimsuchung" noch ausgeblendet wird: der Anteil der unsäglichen "Asyldebatte" an der Eskalation rechter Gewalt; mit dieser Debatte wurde ein gigantisches Verdrängungsprogramm losgetreten, mit dessen Hilfe von den dramatischen Vereinigungsfolgen und -kosten, von dem neuen sozialen Ostwest-Konflikt "Deutsche-Ost gegen Deutsche-West'' und umgekehrt abgelenkt werden konnte. Der soziale Konflikt verlagerte sich auf "Deutsche gegen Ausländer!' und eskalierte zu pogromartigen Terror-Ausfällen, die den Weg zur "nationalen Identität" säumen.

Mit Diskriminierungen wie "Asylantenflut", "massenhafter Asylmißbrauch", "Asylbetrüger" und "Scheinasylanten" wurden die Sündenböcke systematisch aufgebaut, wurden Ausländerhaß und Rassismus massiv geschürt. Soziale Unzufriedenheit und Enttäuschungen, drohende Deklassierung und Fremdenangst, autoritäre Strukturen und latent vorhandene rechtsgerichtete Stimmung in der Bevölkerung bilden den brisanten Nährboden, auf dem diese Politik der Diskriminierung und Dehumanisierung ihre rechten "Früchte" trägt. Die Täter fühlen sich als Vollstrecker eines an den Stamm- und Küchentischen der Nation gebildeten "Volkswillens" - die klammheimliche Sympathie und der offene Beifall blieben nicht aus.

Flugs wurden Terror und beifallklatschendes Umfeld politisch instrumentalisiert, der ''Staatsnotstand'' beschworen, FDP und SPD massiv unter Druck gesetzt, um in dieser aufgeheizten Situation die Aushöhlung des Asylgrundrechts durchpauken und so die vermeintlichen Ursachen beseitigen - sprich: die Opfer des Terrors abschieben - zu können. Die Täter hatten auf höchster politischer Ebene Erfolg - der Terror und das Morden gehen weiter.

O-Ton Kohl: "Es ist für mich unerträglich und völlig unhaltbar, wenn jetzt einige eine Verbindungslinie zwischen den Asylgesetzen und den Brandanschlägen in Solingen und anderswo ziehen." Weniger unerträglich und unhaltbar findet er offenbar seinen bemerkenswerten Versuch, die rechte Gewaltentwicklung den 68ern, der "antiautoritären Erziehung", der linken "Gewaltverharmlosung", der "Konflikt-Pädagogik" sowie der Mißachtung deutscher Sekundärtugenden ("Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft, Dankbarkeit und Höflichkeit, Anstand und Würde") anzulasten. Die bereits erwähnte Studie kommt zu einer ganz anderen Erkenntnis: "Antiautoritäre Erziehungsmilieus und liberale Erziehungsstile scheinen nur eine geringe Rolle zu spielen; autoritäre Strukturen sind wesentlich häufiger zu finden." Wen wundert's?

„Große Koalition“ Der hilflose Schrei nach dem "starken Staat"

Nachdem sich die staatlichen Sicherheitsorgane im "Kampf gegen rechts" zunächst - nach Hoyerswerda und Rostock - vornehm zurückhielten, stehen die Zeichen mittlerweile auf Sturm: Seit Mölln und Solingen, seit das ''Ansehen Deutschlands in der Welt" auf dem Spiel steht, tönen auch die Sicherheitspolitiker, im Chor mit Kanzler Kohl, von nun an den „rechtsradikalen Pöbel die volle Härte des Gesetzes" spüren zu lassen. Inzwischen wurde auch der Wert des rechten Treibens als neue Legitimation für staatliche Nachrüstungsmaßnahmen erkannt Bevor die - in den 70er und 80er Jahren erheblich ausgebauten - apparativen und rechtlichen Möglichkeiten überhaupt ausgeschöpft werden, wird erneut die Keule der sog. Inneren Sicherheit geschwungen und hauptsächlich auf Polizeiaufrüstung, Lockerung des Datenschutzes, Haft- und - Strafrechtsverschärfungen gesetzt.

So sieht beispielsweise das Ende Juni aufgelegte "Sofortprogramm gegen Gewalt und Extremismus der CDU/CSU- Bundestagsfraktion u.a. die Verschärfung des Jugendstrafrechts vor, des Weiteren: Sicherungshaft für Wiederholungstäter, Erweiterung der Vorbeugehaft, Verschärfung des "Landfriedensbruch“-Paragraphen, erweiterte Möglichkeiten zur Überwachung des Post- und Telefonverkehrs von „Extremisten“ sowie eine personelle Aufstockung bei Bundeskriminalamt und Bundesverfassungsschutz. Neue mobile Polizei-Eingreiftrupps, Schnellgerichte vor Ort, Berufsverbote (diesmal gegen rechts) sind im Gespräch ja gar  - neben der bereits geschaffenen "Koordinierungsgruppe Rechtsextremismus" - ein zentrales "Bundessicherheitsamt", in dem Polizei, Geheimdienste und Staatsanwaltschaften zusammengefaßt werden sollen. Damit wird dann auch, das verfassungsmäßige, für Sicherheitspraktiker höchst lästige Gebot der Trennung von Geheimdiensten und Polizei im Kampf gegen Neonazis vollends über Bord geworden - ein Gebot, das Ironie der Geschichte, eine essentielle Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen mit der GeStaPo in Nazi-Deutschland verkörpert.

Sicher sind die Forderungen von entsetzten Bürgern und Opfern neonazistischer Terroranschläge verständlich,. die da lauten: „Täter hart bestrafen" und "Gesetze verschärfen“; doch es sind hilflose, trügerische und gefährliche Forderungen an den Staat, die allzu gerne aufgegriffen werden von den Strategen der „Inneren Sicherheit“.

Diese Feststellung spricht keineswegs gegen angemessen "hartes" polizeilich-justitielles Eingreifen gegen rechte Gewalttäter - aber bitteschön nach rechtsstaatlichen Kriterien und herkömmlichem Strafrecht; im Vordergrund stehen muß der bislang häufig so sträflich vernachlässigte Schutz der (potentiellen) Gewaltopfer; hier dürfen die Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden.

Die berechtigte Empörung über die Gewalttaten hat den Glauben an die sühnende und präventive Kraft des Strafrechts, den Glauben an staatliche Repression auch bei denen wieder geweckt, die ihn - aus guten Gründen - längst verloren hatten. Schon allzu viele Kräfte aus dem liberalen Bürgertum und der verbliebenen "Linken" sind bereit, bürgerrechtliche und rechtsstaatliche Positionen nach und nach zu räumen, wenn es um den Kampf gegen die tatsächlich wachsende Kriminalität geht, gegen das gewaltig dramatisierte "Organisierte Verbrechen", gegen Drogenkriminalität, gegen Rechtsextremismus und neonazistische Gewalt. Plötzlich werden sogar bei ehedem staatskritischen Geistern der vielgeschmähte "Verfassungsschutz" akzeptabel, das höchstbedenkliche "Anti-Terror“-Sonderrechtssystem genehm sowie die Hilferufe nach mehr Polizei und schärferen Gesetzen schriller, wenn diese nur endlich wirkungsvoll gegen den Rechtsterror eingesetzt würden; geheimpolizeiliche "verdeckte Ermittler“ oder noch verfassungswidrige Lauschangriffe finden im Kampf gegen die organisierte Drogen-Kriminalität und gegen Neonazis neue Freunde, die in ihrer Hilflosigkeit glauben, den sicherheitsstaatlichen Verheißungen folgen zu müssen, um der neuen Unsicherheit begegnen zu können.

Der längst schon populäre Hang zu einfachen strafrechtlichen und polizeilichen "Lösungen'', besser: Scheinlösungen, nimmt, das müssen wir konstatieren, rapide zu. Demgegenüber geraten sämtliche Reform- und Entkriminalisierungsbemühungen, wie sie etwa im rot-grün regierten Niedersachsen wenigstens in Ansätzen versucht werden, unter wachsenden Druck: Abbau des demokratiewidrigen Geheimdienstes "Verfassungsschutz", Demokratisierung der Polizei, Ausstieg aus der kriminalitätsfördernden Drogenpolitik, Abschaffung des rechtsstaatswidrigen "Anti-Terror-Systems".

Wir müssen uns endlich von der fixen Idee verabschieden, als gebe es eine polizeiliche "Lösung" politisch und ökonomisch verursachter sozialer Probleme und Konflikte, die mit immer neuen Gesetzesverschärfungen und polizeilichen Aufrüstungsmaßnahmen in den Griff zu bekommen seien. Ich bin fest davon überzeugt, daß auch im Kampf gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus die Fixierung auf staatliche Institutionen und Maßnahmen in die Irre führt. Jedenfalls dürfen und können wir uns etwa auf Verbote von neonazistischen Vereinigungen oder auf den "Verfassungsschutz" nicht verlassen. Verbote können die fatale Wirkung zeitigen, daß solche Gruppen im Untergrund weiteragieren und dann noch schlechter öffentlich bekämpft werden können; und der "Verfassungsschutz", dessen Ziehväter Alt-Nazis waren, hat als "Frühwarnsystem" in Sachen "Rechtsextremismus" auf der ganzen Linie versagt; diesen Aufgabenbereich, nun als neue Legitimation zu reklamieren, halte ich für einen Public-Relation-Trick, der auf antifaschistische Akzeptanz spekuliert. Eine starke antifaschistische, soziale und demokratisch legitimierte offene Politik wäre auch hier eher in der Lage, das vorhandene Gefahrenpotential zu verringern, als ein schwer kontrollierbarer Geheimdienst.

Die "entlastende" Delegation des gesellschaftlichen Problems Neonazismus an den Staat verhindert nicht nur eine radikale politische Aufarbeitung des Faschismus und eine engagierte Gegenwehr durch die BürgerInnen selbst; sondern ich sehe auch die Gefahr, daß der Rechtsruck, den wir in der Gesellschaft verzeichnen müssen, auf staatlicher Ebene ergänzt, verstärkt und verfestigt wird: denn der starke und autoritäre Staat mit seiner "Law-and-order“-Ideologie steht seinerseits tendenziell rechts.

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Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt/Publizist, Vizepräsident der Int. Liga für Menschenrechte (www.ilmr.de). Stellv. Richter am Bremischen Staatsgerichtshof, Mithrg. des „Grundrechte-Report“, Mitglied der Jury des Negativpreises „BigBrotherAward“. Autor zahlreicher Bücher zu bürgerrechtlichen Themen. Internet: www.rolf-goessner.de.