Die situationsbezogene Kriegsdienstverweigerung ist nötig

von Ulrich Finckh
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Seit der deutschen Wiederaufrüstung nach dem 2. Weltkrieg ist der grundgesetzliche Schutz der Kriegsdienstverweigerer umstritten. Die gesetzliche Regelung, die Art. 4 Abs. 3 Satz 2 GG fordert, hat anfangs im Wehrpflichtgesetz und inzwischen im Kriegsdienstverweigerungsgesetz nur die allgemeine grundsätzliche Kriegsdienstverweigerung geschützt.

"Wer sich aus Gewissensgründen der Beteiligung an jeder Gewaltanwendung zwischen den Staaten widersetzt ..." lautet die umstrittene Formulierung. Kann das Gewissen nur pazifistisch-fundamentalistisch jeden Krieg oder gar keinen Krieg ablehnen? Ist nicht der Anlass für Art. 4 Abs. 3 GG gerade der verbrecherische Angriffs-, Eroberungs- und Vernichtungskrieg Hitlers gewesen, den schließlich selbst Generale für so verbrecherisch hielten, dass sie am 20. Juli 1944 putschten und dafür mit ihrem Leben bezahlten? Generale sind bestimmt keine grundsätzlichen Kriegsdienstverweigerer, aber bei diesem Krieg schlug ihr Gewissen. Nach der Formulierung des Grundgesetzes muss die begründete Verweigerung in einer bestimmten Situation geschützt werden, denn es heißt schlicht und einfach: Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Die einschränkende Gesetzesformulierung, die nur noch den grundsätzlichen Pazifisten schützt, wurde von Anfang an infrage gestellt. So gab es Kriegsdienstverweigerer, die nicht auf die deutschen Brüder und Vettern in der DDR schießen wollten. Diese nationale Argumentation wurde aber nicht anerkannt, und es blieb diesen Verweigerern nur der Ausweg, zu argumentieren, dass jeder denkbare Krieg auch ein Krieg gegen andere Deutsche sein werde und deshalb gegen ihr Gewissen verstoße.

Ähnlich war es, als die atomare Drohung den Kalten Krieg bestimmte. Wer nur den Einsatz von Massenvernichtungsmitteln, also A-, B-, C-Waffen oder Flächenbrand- und -splitterbomben ablehnte und deshalb den Kriegsdienst verweigerte, der wurde nicht anerkannt. Er musste den Umweg wählen, dass jeder denkbare Krieg hier und heute den Einsatz dieser schrecklichen Massenvernichtungsmittel bedeuten könne und er deshalb die Beteiligung an jedem Krieg ablehne.
 

Zum dritten Mal wurde die Frage im 2. Golfkrieg aktuell, als deutsche Truppen in den östlichen Mittelmeerraum verlegt wurden. Das deutsche Militär diente nicht mehr der Aufrechterhaltung des Friedens, sondern sollte den Krieg um das Öl in Kuwait absichern: "Kein Krieg für Öl!" wurde zu einer Parole, die Tausende Soldaten und Reservisten zur Kriegsdienstverweigerung veranlasste. Der Krieg wurde für sie zum Beweis, dass Militär nicht dem Frieden durch Abschreckung und notfalls der Verteidigung, sondern kriegerischen Interventionen für Wirtschaftsinteressen dient. Aber auch sie durften nicht nur diesen speziellen militärischen Einsatz verweigern, sondern konnten ihn nur als Anlass nehmen, sich generell als Kriegsdienstverweigerer zu erklären.

1999 zeigte sich dieses Problem erneut, und zwar bei dem militärischen Eingreifen zugunsten der Albaner im Kosovo. Dass die Albaner seit Jahren unterdrückt werden, ist unbestritten. Ihr jahrelanges gewaltfreies Engagement für ihre Minderheitenrechte wurde jedoch nie unterstützt. Erst als ein Teil der Albaner sich Waffen besorgte - ob sie mit Drogenhandel, Menschenschmuggel oder ausländischem Geld bezahlt wurden, ist unklar - und die albanische UCK Terroranschläge verübte, also im Grunde einen Separationskrieg startete, da griff die NATO plötzlich ein. Die Situation war ziemlich genau dieselbe wie in der Osttürkei mit den kriegerischen Aktionen der kurdischen PKK und der brutalen staatlichen Unterdrückung dieser Minderheit. Aber während die PKK in der Türkei verdammt wird, wurde im ehemaligen Jugoslawien die gewalttätige separatistische UCK unterstützt.

Im Luftkrieg gegen Jugoslawien wurden die eigentlich zuständigen internationalen Gremien völkerrechtswidrig missachtet. Im Falle von Völkermord ist nach der "Konvention gegen Völkermord" der Internationale Gerichtshof in Den Haag einzuschalten, im Falle von Menschenrechtsverletzungen das Hochkommissariat der Vereinten Nationen und die OSZE, im Falle der Gefährdung des Friedens der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Lediglich die OSZE wurde um Beobachter gebeten, aber deren Einsatz von westlicher Seite erheblich verzögert und durch die Kriegsdrohung mit Luftangriffen beendet, noch ehe die volle Zahl der Beobachter im Kosovo war. Der begonnene Abzug der jugoslawischen Streitkräfte wurde von Belgrad beendet, als die UCK nachrückte und die Loslösung von Jugoslawien durchsetzen wollte, was Jugoslawien nicht dulden konnte. Gebietshochverrat ist auch in Deutschland ein schweres Verbrechen, und das Vorgehen gegen baskischen Separatismus in Spanien, korsischen in Frankreich, nordirischen in Großbritannien zeigt, dass auch NATO-Staaten so etwas bekämpfen.
 

Der Luftkrieg zugunsten der Albaner - verharmlosend "Luftschläge" genannt - war ein Angriffskrieg unter Verletzung des Grundgesetzes und des Völkerrechts. Die Art der Kriegführung mit Angriffen auf E-Werke, Brücken und Kliniken verletzte zudem das Kriegsvölkerrecht. Damit Soldaten sich nicht dagegen wehren, wurden nur Freiwillige eingesetzt, Wehrpflichtige und demonstrierende Soldaten zu Hause gelassen. Das funktionierte auch insofern, als es kaum Verweigerer dieses Krieges gab. Aber der Fall hat wieder das Problem der situationsbedingten Kriegsdienstverweigerung aufgeworfen. Was kann der Soldat tun, der einen solchen Krieg nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann? Angenomen, er ist freiwilliger Soldat auf Zeit oder Berufssoldat: Wie kann er dann grundsätzlich gegen Krieg sein? Gut, er kann sich zum Pazifismus bekehren wie schon König Aschoka vor über 2000 Jahren in Indien, als er Buddhist wurde, oder auch wie die Christen, die sich den Friedenskirchen anschlossen. Wenn das aber nicht der Fall ist und er nur diesen Angriffskrieg, diesen einen Bruch des Völkerrechts, diese Demontage der UNO und diese Angriffe auf zivile Ziele für Unrecht hält, das er nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann - was dann? Nach dem Wortlaut des Grundgesetzes kann er sich auf Art. 4 Abs. 3 GG berufen. Aber das Kriegsdienstverweigerungsgesetz erkennt diese Verweigerung nicht an, und das Bundesverfassungsgericht hat die Regelung im Urteil vom 20. Dezember 1960 gebilligt und auch seither nicht beanstandet. Die mir bekannten Soldaten haben deshalb wohl oder übel eine allgemeine Kriegsdienstverweigerung geltend gemacht, mögen aber nicht darüber sprechen.

Was bisher vor allem theoretisch diskutiert wurde, am intensivsten im Sondervotum der Richter Prof. Dr. Böckenförde und Prof. Dr. Mahrenholz zur Verfassungsgerichtsentscheidung vom 26. April 1985, wird hier wieder konkret. Mit Billigung des Bundesverfassungsgerichtes hat der Gesetzgeber ein Grundrecht radikal eingeschränkt und damit das Menschenrechts- und Demokratieverständnis des Grundgesetzes missachtet. Nicht die Würde des Menschen und die ausdrücklich garantierte Gewissensfreiheit des Einzelnen ist danach entscheidend, sondern der Soldat hat vielmehr selbst dann zu gehorchen, wenn sein Gewissen es ihm verbietet.

Wäre eine situationsbedingte Kriegsdienstverweigerung speziell auf diesen Krieg bezogen zulässig, könnte man grundgesetzkonform sowohl verweigern als auch dazu aufrufen. Weil das geltende Kriegsdienstverweigerungsrecht das Grundgesetz missachtet, kommen Soldaten in die fatale Situation, entweder mit einer unehrlichen generellen KDV den Dienst ganz zu quittieren oder gegen ihr Gewissen Unrechtsbefehle zu befolgen. Und friedenspolitisch aktive Kritikerinnen und Kritiker des Krieges können nicht zu der Lösung raten, die das Grundgesetz verspricht, ehrlich dem eigenen Gewissen folgend diesen Kriegsdienst zu verweigern, der das Völkerrecht missachtet. Es wird Zeit, dass das Kriegsdienstverweigerungsgesetz so geändert wird, dass niemand mehr gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe oder zum Heucheln gezwungen wird.
 

aus: Grundrechte-Report 2000

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Pfarrer i. R. Ulrich Finckh war von 1971 - 2003 Vorsitzender der Zentralstelle KDV und von 1974 - 2004 Mitglied im Beirat für den Zivildienst. Er ist Gründungs- und Vorstandsmitglied im Sozialen Friedensdienst Bremen.