NATO-Eingreiftruppe

Die „Supersnelle Flitsmacht“ der NATO

von Ulrich Cremer

Im September 2014 beschloss die NATO die Aufstellung ihrer „Very High Readiness Joint Task Force“ (abgekürzt VJTF) – ein eher sperrig geratener Name. Die sprachlich pragmatischeren Niederländer nennen sie „Supersnelle Flitsmacht“ (1), in Deutschland hat sich der Begriff „NATO-Speerspitze“ eingebürgert.

Mit der seit 2002 aufgebauten NATO Response (NRF) verfügt die NATO bereits über eine schnelle Eingreiftruppe mit aktuell 28.000 SoldatInnen, darunter 13.000 „high readiness troops“. Das war die bisherige „Speerspitze“. Die anderen 15.000 sind so genannte „follow-on forces“, deren Verlegung länger in Anspruch nehmen würde. (2) Die Verbände werden rotierend von einzelnen Mitgliedstaaten gestellt, so dass nicht jeder immer „high ready“ ist.

Handelt es sich beim Aufbau der „Supersnellen Flitsmacht“ um einen zusätzlichen Truppenverband, eine Aufrüstungsmaßnahme, oder werden einfach Teile der bereits bestehenden NRF neu gelabelt? Dann büßte die bestehende NRF offensive Kampfkraft ein, die NATO würde flexible Interventionsfähigkeiten aufgeben, da Kräfte an der Ostgrenze des Bündnisses gebunden würden. Die NATO bezeichnete die neue Truppe von Anfang an als Teil der NRF. Das spräche für eine Umgruppierung vorhandener Kräfte. Die Wahrheit liegt irgendwo zwischen Aufrüstung und Umgruppierung.

Flitsmacht schon 2015 einsatzbereit
Ursprünglich sollte die „Flitsmacht“ 2016 einsatzbereit sein, nun ist sie es jetzt schon vorzeitig. Möglich wird diese „Interimslösung“ durch Umgruppierung: Das deutsch-niederländische Korps in Münster, 2015 ohnehin für die NRF als „high ready“ gemeldet und vorgesehen, bildet ab sofort das Rückgrat der „Flitsmacht“. Das Projekt funktioniert nach dem Rahmennationen-Konzept, einem von Deutschland initiierten neuen NATO-Organisationsmodell. Dabei schließen sich Mitgliedsstaaten zu einem Cluster zusammen, um eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen (in diesem Fall die Formierung der „Flitsmacht“). Eine große Nation  übernimmt die Führung und wird von kleineren NATO-Ländern mit einzelnen „Spezialfähigkeiten“ unterstützt. Die Führungsnation braucht so nicht alles allein stemmen und finanzieren, sondern es kommt zu einer Art Hebelwirkung ähnlich wie beim Euro-Rettungsfonds, bei dem man sich zu den eigenen Einlagen der EU-Mitgliedsländer noch Geld dazu leiht. Eine große Rahmennation ist natürlich Deutschland, das so auch den eigenen Einfluss im Bündnis mehrt.

Der Aufbau der „Flitsmacht“ ist offenbar ein Beispiel für Ministerin von der Leyens „Führen aus der Mitte“. Die Führung ist dabei so mittig, dass man sich die Führung sogar mit den Niederlanden teilt. Diese stellen aktuell mit knapp 3.000 Infantristen sogar das meiste Personal. Dazu kommen: „ein Panzergrenadierbataillon aus Marienberg in Sachsen mit 900 Mann“ und „450 Mann aus dem multinationalen Hauptquartier des Deutsch-Niederländischen Korps“. (3) Die Norweger steuern schnell verlegbare Artillerie bei.

Nun mag es etwas überraschen, dass ausgerechnet die deutsche Regierung die Sache in die Hand nimmt. Diese befindet sich in einem riesigen Dilemma: Einerseits droht die deutsche Wirtschaft, gerade auch die mittelständische, durch den westlichen Wirtschaftskrieg relevanten Schaden zu nehmen. Schließlich sind die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen intensiv. Unternehmen könnten insolvent, Arbeitsplätze vernichtet werden, das Wirtschaftswachstum könnte einbrechen. Andererseits hat die deutsche Regierung im Rahmen des neuen „Neuen Verantwortungs“-Diskurses wiederholt betont, dass Deutschland als Mittelmacht nicht allein, sondern nur im Rahmen seiner Führungsrolle in der EU globaler Player sein und somit Ordnungspolitik betreiben könnte. (4) Die deutsche Führung in der EU muss jedoch auch von den Russland-feindlichen EU-Mitgliedern mitgetragen werden. Deswegen muss Deutschland bei der Sanktionspolitik und der „Supersnellen Flitsmacht“ vorangehen, um die eigene Führung in der EU abzusichern. Wer führt, also vorne geht, kann natürlich auch immer ein wenig bremsen und eine etwas andere Richtung einschlagen. Aber der Spagat wird auf Dauer kaum funktionieren.

Größe und Einsatzgebiet
Die deutschen Medien bezifferten die „Flitsmacht“ auf Brigadengröße, also ca. 5.000-7.000 SoldatInnen. In Wirklichkeit wird sie jedoch drei Mal so groß sein: ca. 15.000 bis 21.000 plus Luft- und Seekomponenten! Denn es handelt sich insgesamt um drei Brigadeäquivalente. Für den Einsatz schneller Eingreiftruppen benötigt man einen größeren Pool. Nach den bisherigen US- bzw. NATO-Erfahrungen ist ein Drittel der Truppen im Einsatz (bzw. „high ready“), ein Drittel ruht sich aus („Stand-down“-Verbände) und ein Drittel bereitet sich auf den Einsatz vor. Bezogen auf die neue „Flitsmacht“ würde das erste Drittel in 5-7 Tagen verlegt werden können. Aber bei Bedarf sind auch die beiden anderen Drittel relativ schnell mobilisierbar: Die „Stand-down“-Verbände sind in 30 Tagen einsatzfähig, die sich vorbereitenden Verbände sollen 45 Tage benötigen. Innerhalb von 45 Tagen wäre also die NATO in der Lage, ca. 20.000 SoldatInnen bereit zu stellen. Die Austauschbarkeit des gesamten Pools kann im Extremfall dadurch gewährleistet werden, dass die einzelnen beteiligten NATO-Länder die von ihnen gestellten SoldatInnen durchwechseln. Damit die Kooperation der ablösenden SoldatInnen funktioniert, müssten natürlich auch diese vorher gemeinsame Trainings absolvieren. Insofern: mehr Manöver. Und tatsächlich ist deren Anzahl schon jetzt stark gestiegen. Allein die Bundeswehr beteiligt sich in diesem Jahr mit ca. 5.200 SoldatInnen an den diversen NATO-Manövern. (5)

Vergleicht man nun „Flitsmacht“ mit der bisherigen NRF, so wird offenbar eine relevante qualitative Verbesserung angestrebt: Es werden mehr offensive Truppenteile schneller verlegbar sein. Die NATO wird so interventionsfähiger.

Ein erstes Manöver der Flitsmacht Anfang April 2015 gab einen Fingerzeig auf mögliche Einsatzgebiete. Geübt wurde keineswegs eine militärische Situation wie in der Ostukraine, bei der der militärische Gegner ebenfalls über schwere Waffen wie Panzer und Artillerie verfügte. Vielmehr glich das Szenario eher einem Einsatz in Afghanistan. (6)

Die Flitsmacht-Verbände sollen nach aktueller Beschlusslage nicht permanent an der Ostgrenze stationiert werden. Auch die Vorabeinlagerung des militärischen Materials ist nicht vorgesehen. Es werden lediglich sechs kleine lokale Stäbe aufgebaut, in denen die Bundeswehr personell vertreten ist. Politisch wird darauf verwiesen, dass sich die NATO weiterhin an die Grundakte NATO-Russland von 1997 halten wolle. Darin versprach die NATO, keine Atomwaffen und auch keine substanziellen konventionellen Kontingente in den neuen NATO-Ländern zu stationieren. (7) Die jetzt konzipierte Flitsmacht wäre nach Eigeninterpretation der NATO kein substanzielles Kontingent im Osten, also mit der Grundakte kompatibel.

Ein einfacher Weg, um die Grundakte zu umgehen, ist die permanente Manövertätigkeit. Im März verlegten allein die USA 3.000 SoldatInnen samt Material ins Baltikum und fuhren das Gerät als Panzerdemonstrationszug über Polen und Tschechien nach Deutschland zurück. Weitere Manöver zu Lande, zu Wasser und in der Luft sind fest geplant. Analoges militärisches Balzverhalten zeigen auch die russischen Streitkräfte, die im Ärmelkanal mit Bomberstaffeln herumfliegen oder vor Australien mit Kriegsschiffen herumschippern.

Doch zurück zur „Flitsmacht“: Sobald die NATO Flitsmacht-Material in Depots an der Ostgrenze einlagerte und erst recht, wenn sie permanent auch das Personal vor Ort stationierte, hätte die NATO Fähigkeiten gebunden, die zum Intervenieren anderswo fehlten. Sie hätte in die Alte NATO investiert und nicht in die Neue NATO, die auf Interventionen außerhalb des NATO-Gebiets ausgerichtet ist. Keinen Sinn für die Neue NATO haben die Regierungen der baltischen Länder, die Anfang Mai die permanente Stationierung einer NATO-Brigade im Baltikum verlangten. Auch die WELT hatte die Orientierung verloren, als sie die Aufstellung einer deutsch-polnischen Brigade mit 2.500 permanent in Polen stationierten deutschen Soldaten anregte. Denn „das Baltikum“ sei „das West-Berlin der Gegenwart“. (8).

Mit der Ukraine-Krise ist die Neue NATO jedoch bisher nicht beerdigt worden. Vielmehr soll die Gelegenheit genutzt werden, um die Militäretats zu steigern und die gewünschten Interventionsfähigkeiten für Einsätze außerhalb Europas auf höherem Level aufzubauen. Man redet von Einsätzen im Osten und effektiviert die Interventionsstreitkräfte für den Einsatz im Süden!

Die NATO weiß: Die Flitsmacht könnte die Invasion russischer Truppen, wo auch immer, gar nicht verhindern. Insofern geht es mehr um die politische Botschaft: Das Baltikum, Polen, Rumänien und Bulgarien sind Teil der westlichen Einflusssphäre. Außerdem wird der besonders im Baltikum und Polen populären Angst vor Russland Rechnung getragen. Deswegen wertet man in Moskau den Aufbau der neuen „Flitsmacht“ sicher nicht als frohe politische Botschaft.

Doch lassen wir die Kirche im Dorf: Zu Hochzeiten des Afghanistankriegs hatte die NATO dort über 130.000 SoldatInnen im Einsatz. Im Vergleich würden sich selbst zwei permanent stationierte NATO-Brigaden (mit ca. 10.000 SoldatInnen) an der Ostgrenze eher bescheiden ausnehmen.

 

Anmerkungen
1 Thomas Wiegold von augengeradeaus.de hat den niederländischen Begriff in die deutsche Debatte eingeführt.

2 http://www.nato.int/nato_static/assets/pdf/pdf_2013_02/20130220_130220-f...

3 ‚Die Deutschen an die Front’, in: FAZ vom 5.2.2015

4 Vgl. www.gruene-friedensinitiative.de/cms/neue-verantwortung-deutschland-ford....

5 http://www.imi-online.de/2015/04/07/rede-von-tobias-pflueger-beim-osterm...

6 Siehe dazu: http://augengeradeaus.net/2015/04/exercise-watch-abschlussuebung-des-deu...

7 Wortlaut der Grundakte: http://www.nato.diplo.de/contentblob/1940894/Daten/189459/1997_05_Paris_...

8 http://m.welt.de/debatte/kommentare/article140984577/Wir-brauchen-eine-d...

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Krisen und Kriege

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Uli Cremer ist Mitglied in der Grünen Friedensinitiative.