Türkei

Die Türkei trägt den Kurdistan-Konflikt auf syrischen Boden

von Memo Sahin

Als 2011 der sogenannte arabische Frühling nach Syrien kam, dachte Präsident Erdogan, die Gunst der Stunde sei endlich gekommen. In seinen Reden ging Erdogan „vom Bruder Assad“, mit dem er gemeinsame Familienurlaube verbrachte und Regierungskonsultationen veranstaltete, mit einem Atemzug zum „verhassten Diktator“ über.

Drei Hauptziele verfolgte die AKP-Regierung:

  1. Assad muss weg und an seiner Stelle soll ein sunnitischer Islamist an die Macht kommen.
  2. Beibehaltung des unitären Zentralstaates in Damaskus und Verhinderung der Dezentralisierung Syriens.
  3. Fortsetzung des bis dato herrschenden Status der Kurden, d.h. keine kollektiven Rechte und Freiheiten für die kurdische Minderheit im neuen Syrien.

Dieser Zielsetzung folgend wurden politische und militärische Pläne und Entwürfe geschmiedet. Ankara hoffte, dass Assad binnen kürzester Zeit gestürzt werde und  bald in der Umayyaden-Moschee in Damaskus  neue Führer der Internationale der Moslem-Bruderschaft ihr Freitaggebet verrichten würden.

So wurden gemeinsam mit Saudi Arabien und Katar in Antalya und Istanbul, Doha und Riad Islamisten aller politischen Couleur zusammengebracht und  politisch, finanziell, logistisch und militärisch unterstützt. Die Türkei diente für die Djihadisten aus aller Welt als Transit- und Transferland, lieferte ihnen Logistik und militärische Ausbildung. Bei einem vertraulichen Treffen am 27. März 2014 gab der Chef des Geheimdienstes MIT Hakan Fidan zu, dass der MIT die islamistischen Oppositionellen mit 2.000 LKW-Ladungen unterstützt habe. Da der Geheimdienst MIT weder der türkische Rote Halbmond noch eine humanitäre Hilfsorganisation ist, ist nicht schwer vorzustellen, dass keine Nahrungsmittel, sondern Waffen geliefert wurden. Wie viele LKWs seit 2014 die Grenze passierten, weiß keiner genau. Einige Bilder der mit Waffen beladenen LKWs veröffentlichte die türkische Tageszeitung Cumhuriyet. Fast die gesamte Redaktion sitzt seither hinter Gittern, einige wie Chefredakteur Can Dündar mussten sich ins Ausland absetzen. (1)

Rojava
Während sich Ankara mit seinem Vorhaben beschäftigte, haben die syrischen KurdInnen einen anderen Weg eingeschlagen und stellten sich weder auf der Seite der islamistischen Opposition noch auf der Seite der Baath-Herrschaft. Sie konzentrierten sich auf die Verteidigung der Bevölkerung und der kurdischen Gebiete.

Die kurdischen Enklaven, die durch die Arabisierungspolitik in den 1960er Jahren durch einem arabischen Gürtel, d.h. Ansiedlung arabischer Volksgruppen und Ausbürgerung und Vertreibung über einhunderttausend KurdInnen per Dekret, voneinander getrennt wurden, wurden nach und nach befreit und kantonale Selbstverwaltungen gemeinsam mit dort lebenden religiösen und ethnischen Minderheiten installiert. Neben Arabisch wurden Aramäisch und Kurdisch als Amtssprachen eingeführt.

Nach einer harten Blockadepolitik und einem Wirtschaftsembargo, die von Norden aus von der Türkei, von Süden und Westen aus von der islamistischen Opposition und der syrischen Regierung betrieben werden, kämpft dieses säkulare Modell der selbstbestimmten Dezentralisierung Syriens ums Überleben. Die weltweit gefeierten Helden von Kobanê, die die Terrorbanden des Islamischen Staates (IS) vertrieben und eine total zerstörte Stadt zurück eroberten, wurden weder von der EU noch von der Bundesregierung auch nur mit einem Sack Zement belohnt.

Kurswechsel
Im Syrien-Konflikt positionierte sich die Türkei ursprünglich auf der Seite der Anti-Assad-Koalition, in der Hoffnung, ihre Agenda durchzusetzen. Nachdem die USA sich von vielen islamistischen Gruppen, die die Türkei unterstützte, abgrenzten und von der Assad-muss-weg-Politik verabschiedeten, begab sich die Türkei auf Partnersuche.

Nachdem Erdogan sah, dass sich das Blatt und die Kräfteverhältnisse mit der aktiven Parteinahme Russlands im Syrien-Krieg ander Seite von Assad rasant änderten und Syrien die Islamisten aus vielen eroberten Gebieten und Orten vertrieb, widmete er sich Kurskorrekturen. So entschuldigte er sich bei Putin wegen des Abschusses des russischen Kampfjets und entsandte Delegationen nach Teheran.

Er wusste aus der jahrzehntelangen Erfahrung der türkischen Diplomatie, dass er, wenn Kurden auf der Agenda stünden, mit den Unterdrücker-Staaten der Kurden, Iran, Irak und Syrien eine gemeinsame Linie bei der Beibehaltung des Status Quo finden würde.

Erdogan musste sich von der Rhetorik „Assad-muss-weg“ verabschieden, sich am Kampf gegen den IS beteiligen und von einigen seiner Lieblingsgruppen trennen. Im Gegenzug erhielt er scheinbar die Zusage, dass die Kurden bei den Friedensgesprächen ausgeschaltet werden, ihre Selbstverwaltungen keine Anerkennung finden würden und Syrien ein Zentralstaat bliebe.

Gleich nach den ersten Konsultationen mit Russland und Iran sowie mit der Assad-Regierung drangen türkische Panzer nach Jarabulus vor, um die Verbindung zweier kurdischen Enklaven –Kobanê und Afrin- abzuschneiden und ein durchgehendes Gebilde der kurdischen Gebiete zu verhindern. Kurdische Ortschaften sind seit Sommer 2016 verstärkt Ziel der türkischen Kriegsmaschinerie geworden.

Wie zu sehen ist, tanzt Erdogan auf zwei Hochzeiten rivalisierender Weltmächte, Russland und USA, gleichzeitig. Ob das Spiel des Nato-Mitglieds Türkei aufgeht, hängt von der Haltung der AmerikanerInnen ab, die das Ganze von der sicheren Tribüne aus beobachten. Auch diesmal besteht für die KurdInnen die Gefahr, Opfer der Interessen der Großmächte und Staaten in der Region zu sein. Auf der Agenda stünde in diesem Fall auch die Vernichtung des gemeinsam mit ethnischen und religiösen Gruppen installierten Experimentes eines föderalen Syriens basierend auf Säkularismus, Partizipation und Selbstbestimmung.

Die EU, die Bundesregierung und demokratische Kräfte sind eingeladen, Farbe zu bekennen und zu handeln!

 

Anmerkung
1 https://www.youtube.com/watch?v=crqZhK0BFSc, Nützliche Nachrichten, NN-4/2014 und NN-11-12/2015

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