Vielzahl an Konflikten

Die Türkei verwandelt den Nahen Osten in ein Pulverfass

von Elke Dangeleit
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Ob in Nordsyrien, Nordirak, Libyen oder im Mittelmeer, die Türkei destabilisiert mit ihren Militäraktionen und Provokationen eine ganze Region. Dabei geht es nicht nur um Rohstoffe, vor allem will der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sein politisches Überleben sichern. Angesichts der sich zunehmend verschlechternden wirtschaftlichen Lage in der Türkei versucht die Regierungspartei AKP ihre Wähler mit neo-osmanischen Großmachtphantasien bei der Stange zu halten.

Im Mittelmeer will die Türkei vor griechischen Inseln und vor Zypern nach Erdgas bohren. Dazu schickte Erdogan das Forschungsschiff ‚Oruc Reis‘ in Begleitung von Kriegsschiffen zur griechischen Insel Kastellorizo. Athen sandte seinerseits Kriegsschiffe in die Region. Die Gefahr einer militärischen Konfrontation steigt täglich. Die Zeitung ‚Die Welt‘ veröffentlichte kürzlich einen Artikel mit dem Titel „Erdogans kalkulierter Krieg“ (1), in dem es hieß, Erdogan wolle einen militärischen Zwischenfall mit Griechenland im östlichen Mittelmeer provozieren. Während Frankreich zur Unterstützung Griechenlands ebenfalls Militär in die Region sandte, versucht die Bundesregierung die Türkei auf Dialogkurs zu bringen. Erdogan zeigt sich davon allerdings unbeeindruckt. Seiner Meinung nach gehören die Gewässer zum türkischen Festlandsockel. Selbst den großen Inseln Rhodos und Kreta spricht er das Recht auf eine eigene Wirtschaftszone ab. Nach dem UNO-Seerechtsübereinkommen (2) gehören aber alle griechischen Inseln zur „größtmöglichen Wirtschaftszone“ (GWZ). Aber es gibt viele rechtliche Ungereimtheiten, wer nun wie viel Seelmeilen wo beanspruchen darf. Im Prinzip wäre der Konflikt durch Verhandlungen und Kompromisse lösbar, aber nationalistische und religiöse Befindlichkeiten auf beiden Seiten blockieren diese Möglichkeit.

Im November 2019 schloss die Türkei mit Libyen ein Abkommen über eigene Wirtschaftszonen, das den griechischen Inseln einen Festlandsockel und die GWZ abspricht und damit völkerrechtlich nicht zulässig ist. Griechenland schloss seinerseits ein Abkommen mit Ägypten, wo geprüft werden müsste, ob dieses zulässig ist.

Nordsyrien und Nordirak waren auch einst Teil des Osmanischen Reiches. Teile von Nordsyrien hat die Türkei schon völkerrechtswidrig annektiert und die dort ansässige, überwiegend kurdische Bevölkerung vertrieben oder türkisiert. (3)
Wie in Nordsyrien begründet die Türkei ihre Interventionen auch im Nordirak mit der Bekämpfung der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Die im Nordirak amtierende konservative kurdische Regionalregierung des Barzani-Clans paktiert gegen den Willen der Bevölkerung mit der Türkei, weil die Region zu über 90 Prozent wirtschaftlich von der Türkei abhängig ist.

Immer mehr Staaten des Nahen und Mittleren Ostens fühlen sich von der Türkei bedroht und gehen auf Distanz. Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Saudi-Arabien versuchen, den türkischen Expansionsdrang einzudämmen, indem sie sich, nicht ganz uneigennützig, in Syrien auf Seiten der Assad-Regierung und im Irak gegen die Türkei engagieren. Nur Katar steht der Türkei zur Seite. Sie verbindet die Unterstützung der Muslimbruderschaft, deren Anhänger auch Erdogan ist. (4)

In Libyen bekämpft die Türkei mit islamistischen Söldnern den von den VAE, Saudi-Arabien und Russland unterstützten oppositionellen General Khalifa Haftar, während die Türkei die islamistische Einheitsregierung (GNA) unterstützt. Die Spannungen zwischen der Türkei und Teilen der Golfstaaten beschränken sich nicht auf Libyen: Die Türkei steht auf Seiten Katars im Konflikt innerhalb der Golfstaaten. Ägypten intensiviert gerade die Diplomatie mit Algerien, Marokko und Tunesien, um den Expansionsdrang der Türkei in Libyen einzudämmen.

In der Türkei hat die Polarisierung in zwei Lager – d der islamistisch-nationalistischen und der westlich orientierten, säkularen Bevölkerung – erschreckende Ausmaße angenommen: Die demokratische Opposition, allen voran die HDP ist einer nie dagewesenen Verfolgung und Kriminalisierung ausgesetzt, die Medien sind gleichgeschaltet, täglich gibt es neue Sperrungen von TV- und Radio-Sendern, die sich kritisch zur Regierungspolitik äußern, Verhaftungen und Verurteilungen von Journalist*innen. Die sozialen Medien unterliegen einer Zensur. In den einst quirligen Kneipen und Bars der türkischen Metropolen ist es leise geworden. Keiner diskutiert mehr über politische Themen. Die Gewalt gegen Frauen ist extrem angestiegen. Vergewaltigungen, Frauenmorde und Kinderehen nehmen zu, seit die Regierung Gesetze zugunsten der Islamisten ‚reformiert‘ hat.

Ökonomisch geht es der Bevölkerung schlecht. Der Lira-Kurs ist im steten Fall, die Preise steigen, kaum jemand kann sich noch Fleisch leisten. Im zweiten Quartal 2020 schrumpfte die türkische Wirtschaft um fast zehn Prozent zum Vorjahr. Die Corona-Pandemie trägt sicherlich zu der zunehmend dramatischeren Versorgungslage der Bevölkerung bei. Tausende Betriebe sind Konkurs gegangen, fast 150.00 Firmen haben ihre Tore wegen der Pandemie vorübergehend geschlossen. Das Kurzarbeitergeld der Regierung erreicht nur einen Bruchteil der Beschäftigten. Viele Firmen schicken ihre Angestellten in unbezahlten Zwangsurlaub. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei 13 Prozent, die demokratischen Gewerkschaften rechnen mit weit höheren Zahlen. Das Tourismusgeschäft ist wegen der Pandemie eingebrochen, auch wenn die Bundesregierung, um der Türkei unter die Arme zu greifen, die Touristenzentren als sicher deklariert hat. Eine Milchmädchenrechnung, wie sich herausstellte, als die ersten Türkeiurlauber infiziert zurückkehrten. Neben dem Balkan kommen die meisten Covid-19 infizierten Urlauber aus der Türkei.

Die Menschen realisieren langsam, dass das, was die Regierung über die gleichgeschalteten Medien verbreitet, nichts mit ihrer täglichen Realität zu tun hat. Daher wächst auch der Unmut in der Bevölkerung. Erdogan versucht durch propagandistisch aufbereitete außenpolitische Erfolge dem entgegenzuwirken. Die Fernsehsender untermalen dies mit heroischen Spielfilmen über osmanische Helden. Mit der türkischen Fahne, Nationalstolz und den Verweis auf historische Helden kann man in der Türkei noch immer punkten.

Fazit
Nach Frieden sieht das alles nicht aus. Von allen Playern in der Region ist die Türkei der am meisten destabilisierende Faktor. Welch unrühmliche Rolle die USA dabei in der Region spielt, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Auf eines sei noch hingewiesen: ohne die militärische Unterstützung der Bundesregierung wäre die Türkei nicht zur dominierenden Drohnen-Macht in der Region geworden. Zwar behauptet die Bundesregierung nach wie vor, keine Waffen an die Türkei zu liefern, die z.B. in Syrien zum Einsatz kommen könnten. Allerdings wurde kürzlich in einem "Monitor-Bericht" (5) dezidiert darüber berichtet, dass erst die von Deutschland gelieferten Komponenten für die Gefechtsköpfe der Raketen in den Drohnen die Türkei dazu befähigt haben, zur Drohnen-Macht im Nahen Osten zu werden.

Anmerkungen
1: https://www.welt.de/politik/ausland/plus214732458/Tuerkei-Erdogans-Kalku...
2: https://www.tagesschau.de/ausland/griechenland-tuerkei-seerecht-101.html
3: https://www.heise.de/tp/features/Die-Tuerkei-zuendelt-auch-im-Irak-48831...
4: https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/05/turkey-saudi-arabia-u...
5: https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/monitor/videos...

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Elke Dangeleit ist Ethnologin und Journalistin und befasst sich seit den 80er Jahren mit der Kurd*innenfrage. Aktuell schreibt sie darüber für die Internetzeitung ‚Telepolis‘, ist Kommunalpolitikerin für ‚Die Linke‘ im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg und Mitglied der Städtepartnerschaft Friedrichshain-Kreuzberg – Dêrik e.V.