Die unkontrollierbare Berufsarmee - eine Folge der abgeschafften Wehr­pflicht?

von Christian Herz

Wird heutzutage die Forderung nach Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht erhoben, erschallt sofort die Warnung: Wir wollen keine un­kontrollierbare Berufsarmee ů la Weimarer Republik. Diese Behauptung stützt die Wehrpflicht, weil gemeinhin verinnerlicht wurde, das Dritte Reich wäre ohne die Wehrmacht nicht entstanden. Selbst manche Geg­ner der Wehrpflicht betrachten die Wehrpflicht als das kleinere Übel und fordern die Wehrpflicht nur dann abzuschaffen, wenn die ganze Armee entlassen wird.

Folge: Jahr für Jahr müssen sich Hun­derttausende der Wehrpflicht beugen. Auch Zivildienstleistende erfüllen die Wehrpflicht und stabilisieren damit das Wehrpflichtsystem. Trotzdem steht die Wehrpflicht zur Disposition. Ungeklärt ist jedoch, ob sie von oben abgeschafft wird und keine Kontrollmechanismen für den Rest der Armee eingeführt wer­den oder ob von unten genügend Druck entsteht, um die Wehrpflichtabschaf­fung mit weiteren Abrüstungsschritten zu koppeln.

Zunächst einmal gilt es, festzuhalten, daß es keine reine Wehrpflichtarmee gibt. Wenn Wehrpflichtige eingesetzt werden, dann unterstehen sie entweder einem Berufsarmeeteil (manchmal er­gänzt um Zeitsoldaten wie z.B. in der BRD) oder es handelt sich um ein Mi­lizsystem (wie z.B. in der Schweiz) für das ebenfalls Wehrpflichtige herange­zogen werden.

Sodann gilt: Wehrpflichtige haben noch keinen einzigen Krieg verhindert, aber sehr viele ermöglicht. (Die Wehrpflich­tigen der BRD haben auch nichts gegen die ersten Out-of-Area-Einsätze gelei­stet!).

Schließlich: Die 100.000 Berufssoldaten der Weimarer Republik hätten allein keine demokratievernichtende Wirkung entfalten können. Vielmehr ermöglichte die antidemokratische Grundeinstellung der Bevölkerung, der besiegten Soldaten und der Freikorps das Keimen des Na­tionalsozialismus. Statt die Freikorps zu bekämpfen, nutzten die Regierungen sie zur inneren Aufstandsbekämpfung.

Weitgehend unbehelligt blieben eben­falls die Nazis, die systematisch die Staatsübernahme vorbereiteten. Daß Hitler später die Berufsarmee benutzte und nicht die SA, hatte machtinterne Gründe und lag nicht primär im Wesen der Berufsarmee, die anschließend zur nationalsozialistischen Wehrmacht um­gebaut wurde.

Hätte Hitler "nur" dieses 100.000 Mann Berufsarmeeheer gehabt, wäre er für die Welt ungefährlicher gewesen. Die all­gemeine Wehrpflicht war strategischer Bestandteil von Hitlers Plänen für sein Millionenheer.

Bei der Beurteilung einer Berufsarmee muß stets der Zusammenhang zur ge­sellschaftlichen Umgebung hergestellt werden. In der Weimarer Republik or­ganisierten sich die radikalsten Demo­kratiefeinde außerhalb der Berufsarmee. Soldatenverbände, Freikorps, die Nazis, reaktionäre Gesellschaftsschichten so­wie ein großer Teil der Industriellen bil­deten den Staat im Staate. Es trägt daher zur Legendenbildung bei, zu behaupten, das 100.000-Mann-Heer sei der Staat im Staate gewesen. Dennoch darf die un­demokratische Eigendynamik einer Be­rufsarmee (selbst wenn sie nur als Übergangslösung geplant ist) nicht un­terschätzt werden.)

Dies ist übrigens auch der aktuelle Stand unter den kritischen Friedensfor­schern zur Wehrpflicht.

Die Abschaffung der Wehrpflicht als ein erster Abrüstungsschritt muß daher ein­hergehen mit der Forderung nach Kon­trollmechanismen. Dazu gehören u.a.:

a) Innere Kontrollmechanismen:

- Demokratischere Auswahlverfahren der Führungskräfte durch z.B. Bun­destag, Bundesrat, Landtage, Ge­werkschaften, Kirchen, Menschen­rechtsorgansiationen, Umweltschutz­verbände und Kriegsdienstverweige­rerorganisationen usw..

- Berufssoldatenanzahl drastisch kür­zen. Zeitsoldatenanteil klein halten.

- Institutionelle Stärkung von kriti­schen Soldaten z.B. des Darmstädter Signals.

- Schaffung einer soldatischen Ge­werkschaftsvertretung.

- Kompetenz- und Kapazitätserweite­rung des Wehrbeauftragten des Bun­destages.

- Schaffung von Wehrbeauftragten der Gewerkschaften, Kirchen, Menschen­rechtsorganisationen, Kriegsdienst­verweigererverbänden und des Aus­landes usw..

- ZivilistInnenkontrolle: Gewährung von zivilen Kontrollbesuchen in der Kaserne und bei Manövern, um z.B. die politischen und strategischen Lehrinhalte der Bundeswehr zu kon­trollieren usw..

- Fragerechte für die Zivilbevölkerung.

- Politische Schulung der Komman­deure und Mannschaften durch zivi­les Personal.

- Weitestgehende Aufhebung der Grundrechtseinschränkungen für Soldaten:

- Gewährung von Gewerkschaftsrech­ten/Soldatenräte u.ä.m.

- Jede größere Einheit erhält zivile Vertrauensleute.

- Auflösung der strengen Kasernie­rung.

- Defensive Eidesformel - kein An­griffs-, kein Präventivkrieg, kein in­nenpolitischer Einsatz.

- Befehls- und Gehorsamssyndrom entschärfen, kritisches Bewußtsein gegenüber Befehlen lehren.

b) Äußere Kontrollmechanismen:

- Internationale politische Verhandlun­gen zur Rüstungsbegrenzung/-kon­trolle.

- Politische Vereinbarungen zur gegen­seitigen Kontrolle, z.B. internationale Kasernen- und Manöverbeobachtun­gen.

- Internationaler Soldatenaustausch.

- Zulassung internationaler Kontrolle durch Wehrbeauftragte des Auslands.

- Keine militärische Kooperation mit ausländischen undemokratischen Sy­stemen. Ein zu bildender ausländi­scher Kontrollrat entscheidet in Zweifelsfällen.

Darüberhinaus ist die Forderung nach Abschaffung der Wehrpflicht durch eine Auseinandersetzung mit dem deutschen Militarismus zu begleiten. Relevante Themen wären u.a.:

- Völlige Rehabilitierung aller NS-Op­fer (Schmerzensgeld- und Rentenan­sprüche auszahlen).

- Deserteure aller Kriege rehabilitieren.

- Beseitigung aller Kriegsdenkmäler.

- Aufhebung sämtlicher Wehrkun­deerlässe.

- Abschaffung soldatischer Privilegien.

Fazit: Der Verzicht auf die allgemeine Wehrpflicht ist nicht gleichbedeutend mit der unkontrollierbaren Berufsarmee. Dennoch sollte die Abschaffung der Wehrpflicht stets im Zusammenhang mit demokratisierenden Forderungen an eine Berufsarmee erhoben werden, auch dann, wenn es sich "nur" um eine Über­gangsberufsarmee handelt.

Die Kontrollierbarkeit einer Armee hängt nicht nur von der Art der Armee, sondern auch von ihrem gesellschaftli­chen Umfeld ab.

Ausgabe

Christian Herz ist Mitarbeiter der Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär und Autor des Buches: Kein Frieden mit der Wehrpflicht.