Zur Aktualität der identitären Ideologie

Die Vordenker einer neuen rechten Internationale

von Micha Brumlik

Die Identitäre Bewegung vertritt eine Programmatik, die auf der politischen Ebene von rechtspopulistischen Parteien und Personen von Trumps USA über Geerd Wilders in den Niederlanden, Viktor Orban in Ungarn, Marine Le Pen in Frankreich bis hin zur AfD, zu Petry und Gauland in Deutschland umgesetzt wird.

1.Die Abstiegsängste der Mittelschichten bedienen?
In einer oberflächlich rationalen Argumentation hat das der noch immer der SPD angehörige, vormalige Berliner Finanzsenator und rassistische Autor Thilo Sarrazin kürzlich in nüchternen Worten unter der Überschrift „Lernt von Donald Trump“ so zusammengefasst:

„So schaffen Globalisierung und Einwanderung in den Industriestaaten große Gruppen von Verlierern, Es leiden ja nicht nur die unmittelbar Betroffenen, sondern auch Familien und ganze Regionen. Generell herrscht jedoch das Mantra, dass Globalisierung und Einwanderung für alle gut sind. Die Verlierer hatten bisher kaum eine Chance, gehört zu werden. Sie konnten sich kaum artikulieren, ohne in den Verdacht von Unverstand und Fremdenfeindlichkeit zu kommen. Zusätzlich kompliziert wird die Situation durch gern tabuisierte emotionale Komponenten, soweit es sich um kulturfremde Einwanderung handelt. Da spielen Sprache, Religion, soziale Gewohnheiten, abweichende Verhaltensmuster  auch ethnische Unterschiede eine Rolle. Wer dies zum Thema machte, geriet“, so etwas selbstmitleidig Sarrazin, „schnell unter den Verdacht, ein Fremdenfeind oder Rassist zu sein.“ (1)

Ähnlich argumentierte nach der Wahl Trumps der Herausgeber der rechtsreformistischen Wochenzeitung „Junge Freiheit“, Dieter Stein: „Wir sehen, dass das Volk – für einige völlig überraschend – das Recht hat, sich auch gegen ungebremste Globalisierung, die Auflösung der Staaten in multiethnische und supranationale Großstrukturen zu entscheiden.“ (2)

Das aber ist auch heute noch oder gerade wieder das Projekt der „Identitären“, das Projekt einer autoritären Staatlichkeit im Widerstand gegen Multikulturalismus, Islam und Immigration, das aktuell durch eine „Neue Rechte“ aus den USA, eine „alternative right“, Unterstützung erfährt. Deren Ansichten, deren radikales Weltbild wird gesellschaftlich durch die zunehmenden Abstiegsängste einer sich vernachlässigt und nicht respektiert fühlenden weißen, man muss sagen „unteren“ Mittelschicht akzeptabel. So hat der rechtsradikale Chefberater des künftigen US-amerikanischen Präsidenten Trump, der rechtsintellektuelle Polemiker Steve Bannon, selbst Sohn einer katholischen, verarmten Arbeiterfamilie, zu Protokoll gegeben, dass die Obama Administration amerikanische Arbeitsplätze vernichtet habe, um so neu entstehende Mittelschichten in Asien aufzubauen, eine Diagnose, der man – wenn man ihre verschwörungstheoretische, intentionalistische Form einklammert – „objektiv“ nur recht geben kann. So hat der keinerlei rechter Ideologie verdächtige Ungleichheitsforscher Branko Milanovic (3) nachweisen können, dass wachsender Verarmung und Ungleichheit in den westlichen (Industrie)staaten das allmähliche Entstehen einer relativ auf ihre Länder wohlhabenderen Arbeiter- und Mittelschicht entspricht – d.h., dass sich der relative Wohlstand auch der unteren Mittelschichten des Westens durch Produktionsverlagerung in asiatische Länder zugunsten der dortigen ArbeiterInnen verschiebt. Tatsächlich – und das macht die Ideologie der „Identitären“ diesseits und jenseits des Atlantiks so gefährlich und anschlussfähig – verbinden sie ihr Plädoyer für ethnisch geschlossene Staaten mit einer Kritik an einer kapitalistischen Globalisierung und einer entfremdend wirkenden, oberflächlichen Kulturindustrie, denen sie national geschlossene Sozialstaaten entgegensetzen wollen.

2.„Geistige Verschärfung“ und das Programm des „defensiven Ethnonationalismus“
Im Unterschied zu den eher nüchtern gehaltenen Worten Sarrazins und Steins geht es den intellektuellen Vordenkern dieser „Neuen Rechten“, den „Identitären“, dabei jedoch um etwas anderes: Um eine Emotionalisierung der politischen Auseinandersetzung – um das, was der diesem Denken nahestehende feuilletonistische Denker Peter Sloterdijk als „Thymotisierung“ der Politik bezeichnet. So etwa der österreichische Aktivist der identitären Bewegung, Martin Sellner, und sein deutscher Counterpart Walter Spatz in ihren Gesprächen zum Thema „Gelassen in den Widerstand“ (4):

„Unser Ziel ist die geistige Verschärfung. Wir wollen die Herzen in Brand setzen, etwas in Bewegung bringen, die entscheidenden Fragen erneut, tiefer und mit politischen Folgen stellen. Die geistige Unruhe, der schlafende Furor teutonicus, das ewig unzivilisierbare, urdeutsche Fieber, das uns aus germanischen Urwäldern wie aus gotischen Kathedralen entgegenstrahlt, versammelt sich in uns. Unsere Gegner wissen das, und sie haben Angst. Sie wissen von der Möglichkeit der spontanen Eruption und Regeneration. Und sie wissen, dass wir nicht mehr in ihre Fallen laufen, dass wir ihren Schablonen und Gängelbändern entwachsen sind. Ich glaube“, so beschließt Sellner dieses politische Glaubensbekenntnis, „wir leben in einer Zeit der Entscheidung. Ich glaube, dass unsere Arbeit als Kreis, im Denken und Hören auf das Sein, organisch in den politischen Kampf einer Massenbewegung, in die politische Arbeit einer Partei eingebunden ist.“

In kenntnisreichen Gesprächen, zumal über Heideggers „Schwarze Hefte“, in denen dessen Antisemitismus deutlich aufscheint, von denen sich jedoch diese Autoren distanzieren, loten die beiden rechtsintellektuellen Autoren die Handlungs- und Zukunftsmöglichkeiten einer entsprechenden Bewegung aus. Ihre Ziele sind klar: Neben einer ethnischen Schließung des Nationalstaats soll vor allem Immigration verhindert, der Islam ausgeschlossen und eine liberale, und daher multikulturelle Gesellschaft bekämpft werden – wozu systematisch in erster Linie eine Ablehnung der Menschenrechte gehört: „Der Sammelbegriff ‚Mensch’ ist“, so etwa Walter Spatz, „in seiner identitären Bedeutsamkeit nur für die jeweiligen Völker angebracht. Einen weltweiten An- und Zuspruch gibt es nicht. Dieser ist letztlich Ausdruck der Machenschaft einer abstrahierten Idealität, die uns vom Eigenen trennt.“ (5)

Mit Heidegger weiß sich die Identitäre Bewegung einig in ihrem Widerstand gegen die „angloamerikanisch dominierte Lebensart“, gegen Globalisierung, „Kulturindustrie“ und „Mediokratie“, gegen Prozesse also, die dazu führen „die Vielfalt der Völker zu negieren und ihre Selbstbehauptung und Selbstbesinnung zu verhindern“. (6)

Diese Rechtsintellektuellen offenbaren eine tiefliegende Strategie: Geht es ihnen doch um das Erreichen einer im Sinne von Antonio Gramsci geduldig anzustrebende – so eine begriffliche Neuschöpfung Sellners - Politik des „gelassenen Widerstandes“ zum Erreichen kultureller Hegemonie, einer Strategie freilich, die auch das Bündnis mit gewalttätigen Aktivisten nicht scheut. Bei alledem weisen die Identitären jeden Rassismus weit von sich: Gehe es doch nicht darum, das eigene Volk für wertvoller als andere zu erachten, sondern lediglich darum, es in seiner Eigenheit neben anderen zu bewahren. So gesehen, handelt es sich bei der Ideologie der Identitären nicht um einen expansiven, sondern um einen defensiven Ethnonationalismus. Darin auch sehen sie selbst die Differenz zum historischen Nationalsozialismus.

Indem etwa Martin Sellner an Martin Heidegger dessen mangelnde Kritik am nationalistischen Auserwähltheitswahn, an der Personalisierung politischen Denkens (ein Hinweis auf Heideggers Glaube an Hitler) sowie dessen Glaube an eine „kämpferische Erringung“ eines bedeutsamen politischen „Ereignisses“ kritisiert, bezieht er im ethnopluralistischen Sinne Stellung gegen jeden chauvinistischen Nationalismus. Das ändert freilich nichts am politischen Ziel des Widerstands gegen Immigration, Islam und multikulturelle Gesellschaft. Bei alledem wird das gelegentliche Bündnis auch mit gewalttätigen Aktivisten gerne hingenommen.

3.Auf der Suche nach gesellschaftlichen Gegenentwürfen
Was also tun – wie ist diesem Denken, das – wie jüngere, neu gegründete AfD Hochschulgruppen zeigen, intellektuell interessierte Personen anzieht, zu entgegnen? Kann die Antwort in einer Strategie bestehen, die neuerdings die – zu Unrecht – als noch immer „linksalternativ“ geltende „taz“ einschlägt, die Antwort eines irgendwie auf „links“ getrimmten Patriotismus sein?  Ein „linker“ Patriotismus, so ist zu befürchten, würde den allgemeinen neonationalistischen Trend nur verstärken. Vielmehr müsste es darum gehen, als erstes die politisch-wirtschaftliche Lage nüchtern zu analysieren, um dann – wenn denn ein Rückfall in Nationalismus verhindert werden soll – die europäische Idee auf ihren Begriff zu bringen, d.h. ein gesamteuropäisches Wirtschaftskonzept, das Arbeitsplätze schafft und soziale Sicherheit garantiert, also einen „europäischen Keynesianismus“ zu erörtern und zu befördern. Neben den politischen Parteien aber sind dazu jedenfalls hierzulande in erster Linie die Gewerkschaften  gefordert, die sich offen der Frage stellen müssen, wie es sein kann, dass auch in den westlichen Teilen Deutschlands relevante Teile der gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen- und Angestelltenschaft ihre Stimme der AfD gegeben haben oder mit dem Gedanken spielen, dies zu tun. In Bildung, in Fort-und Weiterbildung, auf Seminaren und auch in der alltäglichen Arbeit müssen Funktionäre und Vertrauensleute darauf hinwirken, gegen fremden- und flüchtlingsfeindliche Tendenzen den Gedanken der Solidarität zu stärken. Im Bereich der Hochschulen und der außerschulischen Bildungsarbeit ist jedoch sowohl mit Blick auf die Geschichte Europas und Deutschlands im zwanzigsten Jahrhundert auf die verheerenden Folgen nationalistischer Politik hinzuweisen. Im universitären Bereich aber wird es darauf ankommen, grundlagentheoretisch auf die Frage einzugehen, ob die angemessene Antwort auf anomieträchtige Wirkungen der Globalisierung wirklich im Rückzug auf die „Volksgemeinschaft“, also auf eine ohnehin unmögliche Sozialintegration der ganzen Bevölkerung unter dem Etikett ethnischer Gemeinsamkeit bestehen kann. Die einzelnen Schritte derartiger argumentativer Offensiven seitens einer liberalen Linken, die sich einer versöhnten Verschiedenheit in einer demokratisch verfassten Gesellschaft und sozialstaatlich gezügelten kapitalistischen Wirtschaft im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung verpflichtet weiß, können an dieser Stelle nicht mehr entfaltet werden. Dass genau dies die vordringliche Aufgabe politischer Bildung sein muss, sollte hoffentlich einleuchten.

 

Anmerkungen
1 FAS, 20.11.2016

2 Junge Freiheit 18.11. 2016

3 Branko Milanovic (2016): Die ungleiche Welt. Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht. Suhrkamp Berlin

4 Martin Sellner & Walter Spatz (2015): Gelassen in den Widerstand. Ein Gespräch über Heidegger. Schnellroda, S. 90

5 Ebenda, S. 33

6 Ebd., S. 51 f

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Derzeit ist Micha Brumlik Seniorprofessor am Zentrum für jüdische Studien Berlin/Brandenburg, Mitherausgeber der "Blätter für deutsche und internationale Politik" sowie regelmäßiger Kolumnist der "taz".