Die Zukunft der DDR

von Klaus Wazlawick

Die zukünftige Entwicklung der DDR läßt sich nicht trennen von ihrer 40-jähri­gen Geschichte. Dieser Zeitabschnitt bis November 1989 hat seine Prägung und Zeichen der Unvereinbarkeit zwischen bestimmten gesellschaftlichen Erschei­nungen hinterlassen: Angst - Wohlstand - "Nischendenken". Die Erziehung durch die Doktrin der vorherrschenden Weltanschauung erbrachte bei vielen, beson­ders jungen Menschen eine Mitläufermentalität - ein Überdenken des prokla­mierten gesellschaftlichen Ziels fand in den Köpfen meist keinen Raum. Als Prüfsteine der Praxis dienten Verallgemeinerungen der marxistisch-leninisti­schen Philosophie, deren Hintergrund und tiefer Inhalt durch flaches Vokabular sogar z.T. deutlich verfälscht wurde.

Besonders seit 1987/88 werden von In­itiativgruppen und Kirchen Verände­rungen in der DDR-Gesellschaft an­gemahnt - als Teil eines Aufrufs zur Vernunft und einer umfassenden Ge­rechtigkeit. In den Ergebnistexten der Ökumenischen Versammlung 1989* in der DDR für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung sind besonders folgende Themenbearbei­tungen interessant:

1. Umkehr zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung - Theologische Grundlegung;

2.1 Leben in Solidarität - eine Antwort auf weltweite Strukturen der Unge­rechtigkeit;

2.2. Leben in Solidarität mit Auslände­rinnen und Ausländern;

3. Mehr Gerechtigkeit in der DDR - unsere Aufgabe, unsere Erwartung.

Hierbei wird immer wieder die Not­wendigkeit eines Globalen Denkens betont. Das Erfassen von großen Zu­sammenhängen zieht auch zwingende Konsequenzen im Lokalen Handeln nach sich. Daraus ergeben sich m. E. für die Sozial-, Wirtschafts- und Au­ßenpolitik bestimmte Kriterien, die in Entwicklungskonzeptionen für die DDR ihren Niederschlag finden soll­ten:- wirkliche Alternative zum Kapi­talismus und damit auch Wege zum Ausstieg aus der "Ausplünderung" der 2/3-Welt;

  • Prüfstein für Planungen in der Pro­duktion: ökologische Verträglichkeit mit Sicht auf Folgegenerationen (ökologische Ökonomie);
  • die strukturelle Kriegsunfähigkeit in Europa läßt die Entwicklung zur Ab­rüstung m. E. auf "Null" und den Auf­bau einer sozialen Verteidigung zu. Von der DDR-Regierung wurden in den letzten drei bis vier Jahren Vor­schläge zur Aufnahme von neuen ge­sellschaftlichen Handlungsbegriffen gemacht: so z. B. der Begriff der "gemeinsamen Sicherheit", der im Abrüstungsprozeß Eingang gefunden hat;
  • die Koppelung von Wirtschafts- und Sozialpolitik muß integraler Bestand­teil bleiben. Die Wirtschaftsmecha­nismen sollen (auf sozialethische und ökologische Vertretbarkeit getestet) überschaubar und bremsbar sein. Meine Vorstellungen von der zukünf­tigen DDR lassen sich auf folgende Formel bringen: Einheit von Wirt­schafts-, Sozial-, ökologischer und so­lidarischer Politik.

Die seit Jahren aktiven kleinen Bewe­gungen "von unten" in der DDR haben gerade in jüngster Zeit an Stärke und Einfluß gewonnen oder sind in der Etablierungsphase. Drei Zielrichtun­gen scheinen mir wichtig zu nennen:

  • Durchsetzung der in der Menschen­rechtskonvention, KSZE-Akte und Verfassung der DDR festgelegten Menschen- und Friedensrechte;
  • Entwicklung eines demokratischen Sozialismus;
  • Einbeziehung möglichst aller Men­schen in Entwicklungsprozesse im gesellschaftlichen Bereich und in der Wirtschaft.

Nun bleibt die Frage nach dem Beitrag und "Aktionsradius" der sozialen Gruppen in der BRD. Ich sehe fol­gende "Realitäten", die inhaltlich bear­beitet werden müssen: Wachstumssog; Ausbeutung der 2/3-Welt; ökologische Katastrophen. Die diese Erscheinun­gen bedingenden Mechanismen müs­sen durchsichtiger und damit immer wieder auf ihre "gesellschaftliche Ver­träglichkeit" untersucht werden. Eine Analyse der Maßnahmen, die die Ei­genständigkeit der DDR erhöhen oder verringern könnten, ist notwendig, ebenfalls eine Auflistung der Kredit­vergaben von Banken und Konzernen sowohl an die DDR als auch an die Länder der 2/3-Welt. Dabei ist beson­deres Augenmerk auf den Grad der Beteiligung an der Ausbeutung der 2/3-Welt zu richten. Eine offene Dis­kussion über alle Kredit- und Wirtschaftsangebote an die DDR scheint mir sehr wichtig, auch die Medien sind dort stärker zu nutzen.

M. E. ist die BRD ein reformbedürfti­ges Land und ich möchte folgende Forderungen aufstellen:

  1. Ersatzlose Streichung der Schulden und Zinsen für die Länder der 2/3-Welt und Kontrollmechanismen für Banken und multinationale Kon­zerne, besonders im Hinblick auf die Preispolitik in der 2/3-Welt;
  2. Sofortige Veränderung der Militär­doktrin, d. h. von der nuklearen Abschreckungspolitik hin zur Sicher­heitspartnerschaft;
  3. Sofortiges Verbot neofaschistischer Gruppierungen und Parteien ein­schließlich ihrer Literatur, Filme und Videos;
  4. Beendigung der friedensgefährden­den Diskussion über die Infrage­stellung der Westgrenzen Polens und der CSSR;
  5. Sofortiger Stopp aller Müll-Lieferun­gen in die DDR, da die DDR keine Mülldeponie der Bundesrepublik ist;
  6. Verfassungsänderungen hinsichtlich des Bestehens von zwei deutschen Staaten und Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft.

Abschließend möchte ich der Hoff­nung Ausdruck geben, daß die östli­chen Teile Europas ihre einmalige Chance zur Entwicklung einer ge­rechteren Gesellschaftsordnung nut­zen.

* Die Ergebnisse der Ökumenischen Versammlungen in der DDR (Dresden und Magdeburg) sind in einer 103 Sei­ten umfassenden Broschüre zusam­mengefaßt, die für 2,50 DM + Porto bezogen werden kann: Erzbischöfliches Seelsorgeamt, Postfach 449, 7800 Freiburg, Bestell-Nr. 89-19.

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