Interview mit Dr. Martin Baraki

Ein Friedensprozess kann nur nach Abzug der NATO beginnen

von Redaktion FriedensForum

Red: Die Friedensbewegung fordert einmütig den sofortigen Abzug der Bundeswehr. Wenn das tatsächlich kurzfristig passieren würde: Was wäre dann? Würde die Lücke einfach durch andere Nationen geschlossen werden? Oder gäbe dies den Anstoß auch für andere Länder, vielleicht sogar die USA, ebenfalls einen kurzfristigen Abzug ins Auge zu fassen?

MB: Das Problem ist, den Mut zu finden, abzuziehen. Ein Abzug Deutschlands würde eine Kettenreaktion verursachen. Ich glaube, dass dann auch andere Länder  ebenfalls beschließen würden, ihre Truppen abzuziehen. Die Kanadier haben schon angekündigt, dass sie das tun würden.

Die zweite Folge wäre, dass der Widerstand in Afghanistan eingestellt würde, wenn die NATO das Land verließe.

Anschließend, so haben wir vorgeschlagen, sollte Militär aus den islamischen Ländern und von blockfreien Staaten mit Mandat der Vereinten Nationen stationiert werden, bis sich die Strukturen in Afghanistan stabilisiert haben.

Red: Wie könnte es dann weitergehen?

MB: Es würde ein Friedensprozess beginnen. Der Krieg kostet jede Woche eine Milliarde Dollar. Wenn man nur die Hälfte davon für Wiederaufbau ausgeben würde, könnte man Afghanistan in 10-15 Jahren wieder aufbauen. Ein Zivilcorps könnte eingerichtet werden, was die durchschnittliche Arbeitslosigkeit von 50%, im Süden sogar 70% abbauen würde.

Es ist wichtig, dass neue Strukturen geschaffen werden. Der erste Schritt wäre die Einberufung einer Großen Ratsversammlung (Loya Djerga), aus der eine provisorische Regierung für Afghanistan gebildet würde. Sie würde auch Kommissionen schaffen, die eine neue Verfassung, ein Parteiengesetz etc. erarbeiten. Am Ende dieses Prozesses stünden dann freie Wahlen.

Red: Den Medienberichten zufolge gibt es in Afghanistan viele Menschen, die ein sogar noch stärkeres militärisches Durchgreifen der Alliierten fordern. Stimmt dieser Eindruck? Wer in Afghanistan fordert einen Abzug? Wer tut es nicht?

MB: Natürlich sind es diejenigen Kräfte, die Karzai gewählt haben, das sind meist Leute, die mit Drogen zu tun haben und die von dem Krieg profitieren.  Die Kriegsprofiteure haben das Interesse, dass die Besatzer bleiben, weil sie keine afghanischen Staatsbürger sind. Wenn die Besatzer gehen, dann würden sie vielleicht nicht mehr von den Afghanen akzeptiert. Die eigentliche afghanische Bevölkerung hat dreißig Jahre Krieg erlebt und sie sieht den Krieg in direktem Zusammenhang mit der Besatzung und mit der NATO.

Es wird den Menschen hier Angst gemacht, dass, wenn der Westen abzieht, die Taliban wiederkämen. Aber die Taliban machen nur einen kleinen Teil des Widerstandes aus. Man kann heute von einem breiten nationalen Widerstand sprechen. Rund 2.200 verschiedenste Gruppen kämpfen gegen die Besetzer. Das sind nicht alles Taliban oder Terroristen.

Red: Was können Menschen wie Sie, also Menschen mit afghanischen Wurzeln, die in der Diaspora leben, zu einem Friedensprozess beitragen?

MB: Der Großteil der Diaspora hat die Besatzung nicht akzeptiert. Mitglieder der Diaspora sind im Moment in Afghanistan nicht erwünscht und werden in Afghanistan zum Teil von der jetzigen afghanischen Regierung verfolgt. Wenn wir anbieten zu helfen, werden wir abgelehnt mit der Begründung, es gebe keinen Bedarf. Aber es gibt andere Afghaninnen und Afghanen oder sogar Iraner, die die Arbeit machen, die wir machen könnten. Der wahre Grund ist, dass wir ihnen sagen, dass es eine militärische Lösung für Afghanistan nicht gibt, wie die afghanische Geschichte gezeigt hat, und der Konflikt durch einen nationalen Versöhnungsprozess gelöst werden muss.

Red: Falls es nicht zu einem Abzug von OEF und ISAF kommt: Was ist Ihre Vorhersage, was in den nächsten Jahren geschehen wird? Wird der Westen die Erfahrung der Sowjetunion wiederholen und irgendwann militärisch zum Abzug gezwungen werden? Oder ist das absurd, weil damals die Gegner der kommunistischen Regierung nur gewinnen konnten, weil sie massiv von außen militärisch und mit Geld unterstützt wurden?

MB: Das ist richtig. Die islamischen und westlichen Länder haben massiv die Aufständischen militärisch und finanziell unterstützt.

Aber wenn es keinen Abzug der NATO gibt, dann sagte Obama, er werde mit weit mehr Truppen durchgreifen. Das heißt, dann kommt es richtig zum Krieg und dann wird man alles kurz und klein schlagen wollen. Aber Afghanistan militärisch zu sichern, erfordert über eine Million Soldaten. Was das kostet, kann man sich überhaupt nicht vorstellen.

Dann besteht auch die Gefahr durch die Ausweitung des Krieges auf die Nachbarländer, z. B. die Gefahr, dass es in Pakistan zu einer Explosion kommt. Das Land steht schon am Rande eines Bürgerkrieges. Dort stehen Atomwaffen und massive islamistische Kräfte. Wenn es da losgeht, dann würde der Afghanistan-Konflikt beinahe harmlos erscheinen.

Red: Gibt es jemanden, der die Gesamt-Opferzahlen zählt? Laut der UN sind allein seit 2007 4.600 Zivilisten ums Leben gekommen. Wissen Sie, wie viele es ingesamt waren? Und wie viele Kombattanten getötet wurden?

MB: Wenn ich in Afghanistan bin und den Menschen mitteile, welche Zahlen hier verbreitet werden, dann lachen sie über mich. Sie sagen, dass über 50.000 Menschen ums Leben gekommen sind. Wenn man z. B. auf die Website der US Air Force geht, dann wird dort dokumentiert, wie oft Luftangriffe durchgeführt wurden. Jede Woche wird die Luftwaffe 500 Mal eingesetzt. Wenn man annimmt, dass nur fünf Zivilisten bei jedem Luftangriff umkommen, dann kann man schätzen, wie viele Menschen wirklich ums Leben gekommen sind.

Es geht aber nicht nur um die Zahlen. Die ISAF unternimmt Flächenbombardaments, bei denen Dörfer zerstört werden und Hunderte von Menschen auf einen Schlag ums Leben kommen. Diese Art der Kriegführung ist eine Strategie der verbrannten Erde. Das wissen die Menschen hier nicht.

Red: Worum geht es Ihrer Ansicht nach in dem Krieg wirklich?

MB: Es ist nicht der Wille der Besatzer, Demokratie wieder aufzubauen. Sondern es geht ihnen darum, Afghanistan als militärische Basis für weitere Interventionen in der Region aufzubauen. Von Afghanistan kann man leicht die gesamte Region des Nahen und Fernen Ostens, den Kaukasus und Südasien erreichen. Das ist das eigentliche Interesse der NATO.

Deshalb müssen wir als Friedensbewegung dafür sorgen, dass die Besatzung sehr schnell beendet wird.

Red: Vielen Dank für das Gespräch!

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