Warum Geflüchtete gegen Flüchtlingsorganisationen protestieren

Ein kritischer Blick auf die Arbeit von IOM und UNHCR: Für oder gegen Geflüchtete?

von Sarah Spasiano
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Dass geflüchtete Menschen zu Tausenden gegen das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR, United Nations High Commissioner for Refugees) protestieren, passt schlecht zu Bildern, die uns oft in den Medien begegnen. Viel häufiger sieht man Menschen traurig in die Kamera blicken, in Decken gehüllt oder in Zelten sitzend, auf denen groß das blaue Logo des UNHCR prangt. Flüchtende dargestellt als dankbare Hilfsempfänger von großzügigen Gaben. 2021 protestierten über 5000 Flüchtende monatelang vor dem libyschen Sitz des UNHCR. Sie forderten Schutz und Evakuierungen, bessere Versorgung und dass ihre grundlegenden Rechte respektiert werden. Die „Refugees in Libya“ haben sich institutionalisiert und verhandeln ihre Forderungen heute mit internationalen Organisationen und Politiker*innen. Eine beachtliche Ausnahme, denn die meisten Proteste von Geflüchteten gegen den UNHCR und die Internationale Organisation für Migration (IOM) verhallen ungehört.

Proteste von Geflüchteten sind jedoch viel zahlreicher, als man vielleicht vermuten könnte. Auf einem Plakat protestierender Geflüchteter im Libanon 2019 steht „UNHCR für oder gegen afrikanische Geflüchtete?“ Die Organisationen selbst sehen sich als Beschützerinnen und Fürsprecherinnen für Schutzsuchende – wie kommt es zu dieser Diskrepanz?

Historische Widersprüche
Der UNHCR wurde 1950 in Folge der Fluchtbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet. Sein Mandat umfasst die politische Fürsprache bei Staaten und die Organisierung von langfristigen Lösungen für Geflüchtete. Dafür gibt es drei Optionen: freiwillige Rückkehr in das Herkunftsland, Integration im Aufenthaltsland oder die Neuansiedlung in einen Drittstaat (Resettlement). Der UNHCR betreibt im Globalen Süden große Flüchtlingscamps und leistet humanitäre Hilfe für Geflüchtete in Notlagen, die nicht den Schutz eines Staates genießen. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Rolle des UNHCR jedoch gewandelt: Er ist immer mehr in das Migrationsmanagement der Geberstaaten integriert worden – und das sind hauptsächlich die finanzkräftigen Staaten des Globalen Nordens. Aus dieser Position ergeben sich wichtige Fragen: Wie kritisch kann die Position der Organisation etwa gegenüber der tödlichen Abschottungspolitik Europas oder der menschenrechtsverletzenden Internierungspolitik Australiens sein? Wie soll sie sich andererseits gegenüber Flüchtenden verhalten, deren Ziel diese Länder sind?

Die Vorgängerorganisation der IOM („IOM“ heißt sie erst seit 1989, Anm. d. Red.) wurde 1952 als Gegengewicht zum UNHCR gegründet, da besonders die USA mangelnden Einfluss auf das Flüchtlingshilfswerk beklagten. Von Beginn an hatte die IOM die Aufgabe, migrationspolitische Interessen der Geberstaaten praktisch umzusetzen – und diese bestanden ab den 1980er Jahren vor allem in der Migrationsabwehr und der Abschiebung unerwünschter Migrant*innen. Auch die IOM ist in einigen Regionen, wie etwa auf der sogenannten ‚Balkanroute‘ für die humanitäre Versorgung Geflüchteter zuständig. Ihr Ziel besteht jedoch nicht darin, die Rechte von Migrant*innen zu verteidigen. Aktivist*innen erheben eine ganze Reihe an Vorwürfen gegen die Organisation. 2017 protestierten ‚erfolgreich‘ zurückgeführte Migrant*innen in Gambia vor dem dortigen Sitz der IOM mit der Kritik, die Organisation habe sie mit falschen Geldversprechungen zurück gelockt.

Abhängigkeiten
Die Kritik an den beiden Agenturen ist in vielen Fällen auf eine ganze Reihe an praktischen Problemen zurückzuführen, mit denen sie in ihrer alltäglichen Arbeit kämpfen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Finanzierung. Beide sind finanziell von den Geberstaaten abhängig, allen voran die EU und die USA. Dennoch ist besonders der UNHCR unterfinanziert und sieht sich nicht in der Lage, wichtige Aufgaben wahrzunehmen. Als Folge der Unterfinanzierung werden in Flüchtlingscamps Lebensmittelrationen verringert, was für die Bewohner*innen Mangelernährung teilweise zu einem jahrelangen Dauerzustand macht. Wegen dieser und weiterer untragbarer Lebensumstände forderten Geflüchtete 2018 im Camp Kyaka II in Uganda „einen schnelleren Resettlement-Prozess, bevor wir in dieser lebensfeindlichen Umgebung alle sterben!”.

Infolge der finanziellen Abhängigkeit werden beide Agenturen von den Geberstaaten für eigene politische Interessen instrumentalisiert. Auch der UNHCR wurde in den vergangenen Jahrzehnten trotz seines stärkeren Mandats immer mehr für die Abschottungs- und Migrationsabwehrpolitik der Staaten des Globalen Nordens vereinnahmt. Noch dazu sind es hauptsächlich diese Staaten, bei denen der UNHCR für Resettlement-Plätze werben muss – und dafür fragwürdige Kompromisse eingeht. So gibt es immer wieder Kritik an der Priorisierung von Personen für die knappen Resettlement-Plätze. Doch wenn Geflüchtete ihre Kritik öffentlich machen, kommt es manchmal zu Kollektivstrafen, etwa durch Kürzen oder gar Streichen von überlebenswichtiger finanzieller Unterstützung oder der scheinbar willkürlichen Erhöhung der Wartezeiten auf Dokumente und Resettlement-Plätze. „UNHCR hör auf, politische Spiele mit den Leben Geflüchteter zu spielen”, forderten 2019 Geflüchtete vor dem UNHCR in Indonesien während eines Hungerstreiks.

Die Proteste von Geflüchteten deuten auf ein weiteres strukturelles Problem hin: Beide Agenturen verhalten sich gegenüber Geflüchteten ähnlich wie Regierungen. Sie treffen Entscheidungen, die weit ins Privatleben der Camp-Bewohner*innen reichen. So bestimmen IOM- und UNHCR-Büros insbesondere in Camps etwa den Wohnort und die Ernährung der Bewohner*innen, welche Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten bestehen, und natürlich legen sie auch die Priorisierung für Resettlement-Plätze fest. Diese umfassende Kontrolle des Privatlebens Geflüchteter ist allerdings in keiner Weise demokratisch legitimiert oder kontrolliert. Geflüchtete haben (außerhalb von wenigen ‚Leuchtturmprojekten‘) keinerlei Möglichkeit zur Mitbestimmung über das Vorgehen von UNHCR oder IOM. Die Agenturen verweigern in vielen Fällen sogar den Dialog und lassen friedliche Proteste teilweise polizeilich räumen. Das Demokratiedefizit in beiden Agenturen ist eklatant.

Was tun?
Aktuell wird die ohnehin vulnerable Situation von flüchtenden Menschen immer bedrohlicher. Die Abschottungs- und Abschreckungspolitik der Staaten des Globalen Nordens wird zunehmend gewaltvoller. Einflussreiche Fürsprecher*innen, die auf internationalem Parkett für die Rechte von Geflüchteten eintreten, sind von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Jedoch sind UNHCR und IOM in Positionen, die ihnen genau diese Fürsprache fast unmöglich machen. Noch dazu treffen Büros der Agenturen immer wieder Fehlentscheidungen, die verheerende Folgen für diejenigen Menschen haben, die von ihnen abhängig sind. Hier liegt die Ursache für die Entfremdung zwischen den Agenturen und den Geflüchteten, die sie vertreten sollen.

Es bleibt die Frage, wie sich eine kritische Zivilgesellschaft in Europa dazu verhalten kann. Forderungen schwanken zwischen der Abschaffung beider Organisationen bis hin zu ihrer Stärkung, um sie vom politischen Geschehen unabhängiger zu machen. Auf jeden Fall ist es unerlässlich, UNHCR und IOM genau im Blick zu behalten und ihr Verhalten kritisch zu beobachten – denn diese Agenturen üben auf Millionen der weltweit vulnerabelsten Menschen weitgehende und oft unsichtbare Kontrolle aus.

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Sarah Spasiano ist Migrationsforscherin an der Universität Bonn und setzt sich als Aktivistin für den Schutz von Menschenrechten an europäischen Grenzen ein.