Ukraine: Blut, Tränen und Adrenalin

Ein Stimmungsbild aus der Ukraine

von Bernhard Clasen
Schwerpunkt
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Erstarrung war gestern. Die Tage und Wochen des Frühlings 2022, als viele Ukrainer*innen es kaum fassen konnten, was los ist, viele zum Telefon gegriffen hatten, um ihren Verwandten in Russland zu sagen: „Wisst ihr eigentlich, was eure Soldaten hier bei uns machen?“ sind vorbei.

Gerade den Ukrainer*innen, die Verwandte in Russland haben, ist es unbegreiflich, warum diese eher ihren Journalist*innen und Schriftsteller*innen Gehör schenken als ihren Verwandten in der Ukraine. Solange Schriftsteller wie Wjatscheslaw Mironow, von der russischen Gesellschaft unterstützt, in Russland ihr Gift weiter verbreiten dürfen, ist mit Empathie für die Ukraine in Russland nicht zu rechnen. „Ich will Blut, Blut, Blut, meine Wut ausschütten, will, dass unter meinem Gewehrkolben ein Schädel zerbricht, unter meinem Stiefel Rippen knirschen. Mit den Fingerknöcheln will ich Arterien durchbohren und zerreißen, in seine Augen vor seinem Tod schauen und ihn fragen: ´Warum hast du, Abschaum, auf Russen geschossen?´“ heißt es in einem der Werke von Mironow, in dem dieser über seine Zeit als Soldat im Tschetschenien-Krieg berichtet. (1) Klar, dass derartige Werke in diesen Tagen auch den Hass auf die Ukrainer*innen rechtfertigen sollen.

Die meisten meiner ukrainischen Bekannten haben inzwischen den Kontakt zu ihren russischen Verwandten abgebrochen. „Seit dem 24.2.2022 habe ich keine Verwandten mehr in Russland“ sagte mir z.B. Olexandr Pidgornij vom Menschenrechtszentrum Tschernihiw. Und mit jeder russischen Rakete, die in ein Wohnhaus einschlägt, nimmt der Hass weiter zu. „Sollen sie ruhig noch einmal versuchen, unsere Stadt einzunehmen, die Russen“, warnt er. „Ich nehme gerne die Waffe noch mal in die Hand und schieße auf sie“, so Pidgornij.

Auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht der ukrainische Journalist Nikolai Klimeniouk am 29. April eine riesige schwarze Rauchwolke, die einem Atompilz zum Verwechseln ähnlich sieht und ist überglücklich. „А joyful view of my hometown of Sevastopol after a Russian naval base received a friendly visit from a Ukrainian drone“, kommentiert er die Umweltkatastrophe. Dass dieser „friendly visit from a Ukrainian drone“ nicht nur eine russische Marine-Basis auf der Krim schädigt, sondern auch den Ukrainer*innen, die auf der Krim und in anderen Teilen der Ukraine leben, die Luft zum Atmen nimmt, spielt bei so viel Glücksgefühl überhaupt keine Rolle.

Der Hass ist weit verbreitet
Russland hat mit seinen Raketen und Bomben, die auch mehrstöckige Wohnhäuser treffen, Männer, Frauen, Kinder töten, einen Hass in der ukrainischen Gesellschaft hervorgerufen, der jedes Mitgefühl für Russ*innen unmöglich macht. Ausgenommen von diesem Hass sind nur die Russen, die auf der Seite der Ukraine kämpfen. Im öffentlichen Raum zeigt sich niemand niedergeschlagen. Man hasst die Russen, ist bereit zum Angriff auf diese, befindet sich ständig im Kampfmodus. „Wenn das alles mal vorbei ist“, sagte mir Julia Barischewa, Oberst der Feuerwehr von Saporischschja, „werde ich erst mal weinen“. Doch noch ist die Zeit zum Weinen nicht gekommen.

Der Adrenalin-Spiegel ist größer als die Angst. Wer kann, sucht sich ein Kleid oder ein T-Shirt mit einem Leoparden-Muster und zeigt so auf Facebook oder Instagram seine Freude über die deutschen Leopard-Panzer.

Ich erinnere mich an den armenisch-aserbaidschanischen Krieg von 2020. Auf beiden Seiten habe ich Freunde und so rief ich schließlich nach einigen Tagen, nachdem sich meine erste Erstarrung gelegt hatte, bei einem aserbaidschanischen Freund an, wollte gemeinsam mit ihm am Telefon trauern, dass schon wieder geschossen wird. Seine Frau war am Telefon. Ich hatte alles erwartet, nur nicht das. Mit leicht euphorischer Stimme, fröhlich, als sei sie in Aufbruchstimmung, versuchte sie mich zu trösten. „Nun mach dir doch keine Sorgen um uns“, hatte sie mir gesagt. „Wir haben jetzt schon sechs Dörfer zurückerobert, und es geht weiter so. Bald haben wir wieder unsere territoriale Integrität hergestellt“, sagte sie ganz aufgeregt. Ich war sprachlos, legte nach zwei Minuten auf und rief mehrere Monate nicht mehr bei dieser Familie an. Wenn sie über Kriegserfolge jubeln wollen, dachte ich mir, dann bitte ohne mich.

Ähnlich ist heute auch die Stimmung in der Ukraine. Im öffentlichen Raum glaubt man fest an „Peremoha“, also an den Sieg. Ständig hört man die ungeduldige Frage: „Wann beginnt sie endlich, die Frühjahrsoffensive?“

Ich gebe es gerne zu: Auch mich hat das Leben im Krieg verändert. Auch ich verspüre manchmal Lust, mit diesen Gefühlen von „wann kommt sie endlich, die Gegenoffensive?“ zu leben. Und auch ich habe manchmal Lust, in einem Apache-Hubschrauber mitzufliegen, wenn ich mir Filme über den Vietnam-Krieg, untermalt mit Musik von Credence Clearwater Revival, ansehe.

Doch nicht alle denken so
Doch nicht alle denken so, wie die führenden Portale und Politiker verlauten lassen. Selenskji solle sich endlich auf Verhandlungen einlassen, meint Olha, eine 30-jährige Verkäuferin in Kiew. Sonst werde das Gemetzel weitergehen.

Auch sie hatte im Januar ein T-Shirt mit Leoparden-Muster aus dem Schrank geholt, um zu zeigen, dass sie sich über die deutsche Entscheidung, Leopard-Panzer zu liefern, freue, hatte auch auf Instagram ein Bild, das sie im Leoparden-Muster zeigt, gepostet. Doch jetzt im Mai sagt sie: „Das kann ja noch Jahre dauern, wenn das immer so weitergeht. Wenn nicht mein Mann wäre, der ja nicht das Land verlassen darf, würde ich sofort abhauen.“

Die Rentnerin Nadja gibt ihr Recht. „Ich bin in einem Internat aufgewachsen. Und da habe ich gelernt: wenn du überleben willst, musst du klüger sein als die, die dir körperlich überlegen sind.“ Doch daran fehle es der ukrainischen Führung. Sie wolle so stark sein wie Russland und gebe sich keine Mühe, klüger zu sein als Russland. „Solange Waffen geliefert werden, wird nicht verhandelt“, sagt die 76-Jährige. „Wenn nicht verhandelt wird, werden die Russen einen Vernichtungskrieg führen. So wie damals in Tschetschenien. Und da wird der Westen nicht danebenstehen, und dann haben wir einen großen Krieg.“ Olha widerspricht: „Doch, der Westen wird danebenstehen. Der will nicht, dass sich der Krieg nach Europa ausbreitet.“

Und die Bauarbeiterin Xenia aus Saporischschja sagte mir: „Lieber ein schlechter Frieden, als ein guter Krieg.“

In den staatlich kontrollierten Medien hört man diese Stimmen nicht. 

Und die Tränen?
Geweint wird alleine, außer bei Beerdigungen. Maria aus Isjum ist eine von ihnen. Sie hat eine behinderte Tochter und eine bettlägerige Mutter. Eines Tages musste sie vor den heranrückenden Russen fliehen. Und sie entschied sich, mit ihrer Tochter zu fliehen. Ihre Mutter auch noch mitzunehmen, hätte sie körperlich nicht geschafft, sagt sie. In Kiew angekommen, erfuhr sie, dass ihre Mutter gestorben ist. Niemand hatte sie versorgt, sie war ganz sich überlassen. Seitdem ist Maria jeden Tag betrunken.

Oder Olena: sie hatte in Mariupol jeden Tag ihre Eltern in den Luftschutzkeller gebracht, hatte es dann nach Wochen geschafft, gemeinsam mit ihnen die Stadt zu verlassen. Jede Nacht, so berichtet sie im Vier-Augen-Gespräch, liege sie weinend im Bett.

Auch Männer trauern. Hunderttausende von Frauen haben mit ihren Kindern nach Kriegsbeginn das Land verlassen und ihre Männer zurückgelassen. In den ersten Monaten war das noch gut gegangen. Doch mittlerweile halten viele Beziehungen dieser Belastung nicht mehr stand, Ehen und Familien brechen auseinander, der Alkohol-Konsum nimmt zu.

Und dann, wenn alles vorbei ist, werden die Gebäude schnell wieder aussehen wie vorher oder noch besser. Aber die Seelen der Menschen werden ihre Traumata weitergeben an die nächsten Generationen.

Anmerkung
1 http://artstandart.info/news/prose/I_was_in_this_war/

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