Eindrücke von einer Reise durch Ex-Jugoslawien - Februar 1994

von Klaus Vack

Klaus Vack war vom 6.-10.2.94 zum 29. Mal als Sekretär des Komitees für Grundrechte und Demokratie zu einer Reise in das ehem. Jugoslawien aufgebrochen.  Zum einen ging es wieder um die Übergabe humanitärer Hilfe; zum anderen um Gespräche mit friedenspolitischen und Menschenrechtsgruppen. Wir dokumentieren den ausführlichen Reisebericht in Auszügen. Der ganze Bericht (13 Seiten) kann gegen Portoerstattung von 3,- DM beim Komitee für Grundrechte und Demokratie, An der Gasse 1, 64759 Sensbachtal, angefordert werden.

Der erste Eindruck

Wenn man in Zagreb ankommt und sich die Menschen oder die Schaufensterauslagen anschaut, die Märkte besucht und durch die Staat bummelt, so ist der erste Eindruck der einer sozial und in gewissem Maße auch psychisch geteilten Stadt. Man trifft schnieke gekleidete Damen und Herren, die in den gar nicht so wenigen teuren Restaurants leicht 100 DM für ein Abendessen ausgeben, sieht immer wieder große und anspruchsvolle westeuropäische Autos und stößt im Gegensatz dazu  auf Flüchtlingsfamilien, die seit zwei oder drei Tagen nichts zu essen hatten und nicht wissen, wo sie die nächste (kalte!) Nacht verbringen werden. Die insgesamt acht Flüchtlingslager in Zagreb sind irgendwie gut "versteckt" und für Gäste von außerhalb überhaupt nicht wahrzunehmen, mit Ausnahme des Lagers im Hotel Park.

Sieht man von der kleinen Oberschicht ab, so leben mehr als neunzig Prozent der Zagreber Bürgerinnen und Bürger unter dem Existenzminimum. Die Inflation galoppiert, und die DM ist die führende Währung. Es gibt viele Arbeitslose, und wenn ein Arbeiter oder ein Busfahrer das Glück hat, im Monat 100 bis 120 DM zu verdienen, dann muß seine Familie im Fleischerladen für ein Kilo Rindfleisch oder auf dem Markt für ein Kilo Karotten fast genauso viel bezahlen wie wir in Deutschland.

So ist es schon fast verwunderlich, daß sich inzwischen vereinzelt und in kleinen Gruppen Zagreber Bürgerinnen und Bürger politisch engagieren, daß von Menschen, die in Zagreb zu Hause sind, zunehmend Privatinitiativen für Flüchtlinge und die anderen Ärmsten der Armen gebildet werden. Jedoch ist diese Solidarität noch ein schwaches Pflänzchen. Was wir aus der Geschichte anderenorts und zu anderer Zeit kennen, ist auch in Zagreb vorzufinden, nämlich, daß, wie es Bertolt Brecht formulierte, die dümmsten Kälber ihre Schlächter selber wählen. Zwar ist Tujdmans Popularität rückläufig, aber die meisten sagen dann doch, er hat uns von dem serbischen Joch befreit, und da müssen wir es in Kauf nehmen, daß es uns jetzt zehnmal schlechter geht als früher.

In die Zukunft denken

Meine erste Begegnung am Sonntagvormittag fand mit drei Vertretern des Friedenszentrums Sarajevo statt. Sie sind nach vorheriger Absprache allein zu diesem Zweck auf irgendwelchen Schleichwegen nach Zagreb gekommen und werden von dort wieder nach Sarajevo zurückkehren. Sinn des Treffens war es, Möglichkeiten zu eruieren, daß und wie mir von der UN ein Flug nach Sarajevo genehmigt wird, einerseits um wichtige und wertvolle Medikamente (aber von leichtem Gewicht) nach Sarajevo zu bringen und um weitere Hilfspläne zu erörtern. Es ist mir und denjenigen aus dem Komitee, die sich aktiv an unserem Hilfsengagement beteiligen, inzwischen eine wichtige Erfahrung, daß nur langfristige Planung einiges an Gewähr bietet, daß die Hilfe auch ankommt.

Flüchtlingslager in Zagreb

Am zweiten Tag haben wir mehrere Flüchtlingslager in Zagreb besucht. Dort haben wir unter großem Hallo u.a. im Wert von 900.- DM Vitaminpräparate für Kinder verteilt, die die Apotheke aus der Obersensbach nahe gelegenen Kleinstadt Beerfelden gespendet hat. NEXUS versorgt bereits regelmäßig zweimal in der Woche in zwei Flüchtlingslagern die Kinder mit einem Liter Milch und einmal in der Woche alle Flüchtlinge mit Gemüse und Obst. Dabei geht es nicht um die kulinarische Bereicherung des tristen Speiseplans, sondern darum, die Unterversorgung an Vitaminen und Mineralien zu beheben.

Internationale Freiwillige in Flüchtlingslagern

Anschließend war ich sechs Stunden mit Hilfe von Joe von NEXUS (ein Amerikaner aus Worchester und zugleich ein Sprachgenie) bei Suncokret. Man kann ohne zu übertreiben sagen, daß diese registrierten Organisationen (die Registrierung ist Voraussetzung für ihre Arbeit) über die Schiene des Fiskus fast polizeistaatlichen Methoden ausgesetzt sind. Gerade weil alle kroatischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Suncokret Kriegsgegnerinnen sind, werden sie selbstredend besonders scharf kontrolliert.

Zur Zeit betreut Suncokret 22 Flüchtlingslager, in denen zusammen jeweils etwa 300 Internationale Freiwillige, zu achtzig Prozent aus Westeuropa, zu fünfzehn Prozent aus Osteuropa und vereinzelt aus den USA, Australien, Japan.. arbeiten.

Die Antikriegskampagne in Zagreb

Besonders intensiv war am Montagabend und bis in die tiefe Nacht das Gespräch mit Vertreterinnen und Vertretern der Antikriegskampagne in Zagreb. Sie ist sowohl was die friedenspolitische und menschenrechtliche  Arbeit angeht Dreh- und Angelpunkt für ganz Kroatien, aber auch für Serbien und Bosnien-Herzegowina. Dafür sorgt nicht nur das E-mail-System, sondern von großer Bedeutung ist die von der Antikriegskampagne herausgegebene Monatszeitung ARKzin. Man kann ohne Übertreibung behaupten, daß sie die einzige  überregionale Oppositionszeitung ist.

Der Verkauf von ARKzin an den Zeitungskiosken ist offiziell untersagt, und so kommt die Zeitung vor allem von Hand zu Hand an ihre Leserinnen und Leser. Die derzeitige Auflage ist 10.000 Exemplare (im Oktober 1993 waren es noch 7.000 Exemplare), wovon etwa 3.000 Exemplare  oft unter Preis verkauft werden.

Die Antikriegskampagne hat eine Frauengruppe, die ein großes autonomes Frauenzentrum in Zagreb betreut. Sie verfolgen das Konzept stiller Arbeit, d.h. sie leisten psychische und materielle Unterstützung und zerren das Leid geschändeter Frauen nicht an die Öffentlichkeit. Über diese Frauenarbeit gibt es auch enge Verbindung zu Frauengruppen anderer Organisationen wie z.B., der Friedensliga oder zur Frauenbeauftragten der Deutschen Ökumene in Zagreb.

Die Antikriegskampagne organisiert meist kleinere Demonstrationen bei denen gegen Menschenrechtsverletzungen protestiert wird, z.B. wenn Kriegsdienstverweigerer, obwohl sie ihren Antrag verfassungsgemäß gestellt haben, zur Armee eingezogen werden oder wenn serbische Arbeiter, die bereits ihr Leben lang Zagreber sind, willkürlich entlassen, bzw. ihre Familien aus den seit Jahrzehnten angestammten Wohnungen vertrieben werden. Die Antikriegskampagne verfügt inzwischen in Kroatien über kleine lokale Gruppen u.a. in Split, Zadar, Rijeka, Karlovac, Slavonski Brod, Ossijek und Varazdin.

Das Hauptproblem ist selbstverständlich das Geld. Die etwa hundert aktiven und etwa noch zweimal so viel passiven Mitglieder sind allesamt Graswurzelleute, kommen aus armen Verhältnissen und haben nicht einmal genug Geld für eine zureichende Lebensversorgung. Unter einer friedenspolitischen und menschenrechtlichen Perspektive ist die Arbeit der Antikriegskampagne jedoch unverzichtbar, wenn man sich überhaupt noch ein Ende des Krieges, die Entwicklung von Verständigung und Demokratie in den neuen Republiken des ehemaligen Jugoslawiens vorstellen kann.

Die Rundfahrt durch die Provinz

Die härtesten und anstrengendsten Tage waren die Rundfahrten durch die Provinz. Sie sollen hier aus gewissen Sicherheitsgründen nicht in jedem Detail geschildert werden.

Diesmal wurden die Medikamentenspenden überwiegend in die kleinen Ambulanzen "auf dem flachen Land' in Slawonien und in Flüchtlingslager in der Vojvodina (das gehört zu Serbien) gebracht.

Die Not in der medizinischen Versorgung ist in den "serbischen Teilabschnitten“ bzw. in den Flüchtlingslagern in der Vojvodina weitaus extremer als in Kroatien. Und die Menschen, die dort leben, sind längst von der Regierung in Belgrad abgeschrieben. Einige sagten mir: Alles Geld wird in die Kanonen gesteckt, wir können verrecken, außer daß sie uns unsere Söhne weggenommen und in die Armee gesteckt haben.

Das Aufbauprojekt Pakrac

Das Aufbauprojekt Pakrac ist einer der wenigen Lichtblicke und vielleicht auch ein Modell für die Zukunft in dieser zerstörten Region. Pakrac, eine Stadt von einst 20.000 Einwohnern, etwa je zur Hälfte Serben und Kroaten, aber auch andere kleine Minderheiten, wurde im Krieg um Slawonien elf Mal "erobert"; sechsmal von der serbischen Armee, fünfmal von der damaligen kroatischen Miliz. Zum Schluß kämpften die Soldaten nur noch gegen die letzten nichtzerstörten Häuser, denn alle Einwohner, die nicht umgekommen waren, sind entweder in Richtung Kroatien oder in Richtung Serbien geflüchtet. Das war im Frühjahr 1992.

Nachdem mit dem Krieg in Bosnien-Herzegovina begonnen wurde und sich die Situation in Slawonien langsam beruhigte, handelten die Vereinten Nationen mit den Regierungen Kroatiens und Serbiens jenen Status "durch die Vereinten Nationen geschütztes Gebiet (UNPA)" aus.

Im Zuge dieses Abkommens wurde die Stadt Pakrac, in die ab Frühjahr 1993, erst vereinzelt, dann vermehrt, Flüchtlinge zurückkehrten, zu einem Projekt sozialer Rekonstruktion mit Unterstützung der UN erklärt: Allerdings war der erste Schritt, den die "serbische" und "kroatische" Seite durchsetzten, daß Pakrac geteilt wurde. Zwar ohne "Berliner" Mauer, aber in einen "serbischen" und einen "kroatischen" Teil. Zugleich leben jedoch auf der "kroatischen" Seite etwa 12% Serben und auf der "serbischen" Seite etwa 15% Kroaten (meist in gemischten Familien). Die Grenze durch die zerstörte Stadt hat ebenfalls einen UN-Checkpoint, aber wichtiger (s.o.) sind die militärisch-polizeilichen Kontrollpunkte an der "kroatischen" und auf der serbischen Seite.

Dennoch, das im Sommer 1993 begonnene Rekonstruktionsprojekt fängt langsam an zu funktionieren. Die jeweiligen Stadtautoritäten beginnen sich zu verständigen. Sie ernten dafür zwar Unmut in den Zentralen in Belgrad und Zagreb. Aber wie bekommt Pakracs "kroatische" Seite Wasser, wenn das Wasserwerk, bzw. die Wassersammelstelle, in Pakrac "serbische" Seite liegt? Wie ist es mit der Stromversorgung über die Grenze? Wie organisiert man den Mülltransport und vor  allem die Deponierung des Trümmerschuttes? Wie ist es mit den serbischen Kindern, die im "kroatischen" Teil leben, aber in die Schule auf der "serbischen" Seite gehen wollen und umgekehrt?

Die praktischen Probleme zwingen, auch wenn es nur langsam erkannt wurde, zur Kooperation. Eine wichtige Rolle im Pakrac-Projekt erfüllen dreißig Internationale Freiwillige, die etwa seit Herbst 1993, zuerst auf der "kroatischen" Seite, zu arbeiten begonnen haben. Sie helfen den Trümmerfrauen beim Schuttwegräumen, Steineklopfen und Steineschichten. Sie haben eine notdürftige Schule gebaut und geben z.T. Unterricht. Sie besorgen Wolle und Stoff, sitzen abends mit den einheimischen Frauen zusammen, stricken, nähen und plaudern, wobei die Ausländer die Landessprache lernen, was dadurch erleichtert wird, daß nicht wenige der Einheimischen als Gastarbeiterinnen im Ausland waren und z.B. etwas Englisch oder Deutsch können.

Da die Freiwilligen Ausländer sind, können sie relativ unkompliziert die Grenze in der Stadt überqueren. Anfänglich haben sie dafür von den Leuten auf der "kroatischen" Seite viel Tadel zu hören bekommen. Heute, nach einem halben Jahr, transportieren sie Briefe oder andere Botschaften auf die "serbische" Seite und zurück, denn vor dem Krieg lebten die Menschen ja nicht getrennt in zwei Stadtteilen, sondern als direkte Nachbarn oder zusammen in einem Haus und meist auch familiär verbunden.

Wam Kat, unermüdlicher Ideenspender, Diplomat und Graswurzelrevolutionär in einem, hat es nun geschafft, daß auch die ersten Freiwilligen auf der "serbischen" Seite arbeiten. Es sind vier Totalverweigerer aus Österreich und drei Frauen aus Polen. Was aber noch wichtiger ist, über die Verbindung Antikriegskampagne Zagreb und Friedenszentrum Belgrad wird es gelingen, daß bereits in den nächsten vier Wochen etwa zehn Leute aus Belgrad kommen, und zwar als Freiwillige auf der "serbischen" Seite, was die Annäherung noch vertiefen dürfte.

Klaus Vack ist Sekretär des Komitees für Grundrechte und Demokratie in Sensbachtal (Odenwald).

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Krisen und Kriege