Atommacht Indien

Eine Bedrohung für den Weltfrieden?

von Andreas Schmidt

Als die indische Regierung unter Premierminister Vajpayee im Mai 1998 in der Wüste von Rajasthan, genauer gesagt in Pokhran, fünf unterirdische Kernwaffentests durchführte, löste dies nahezu weltweit einen Aufschrei der Empörung aus.

Allen voran die USA und einige weitere führende Industriestaaten reagierten prompt mit wirtschaftlichen Sanktionen, mit denen der südasiatische Riese zu einer Abkehr von seinem Nuklearwaffenprogramm bewegt werden sollte. Weiterhin verkündeten Vertreter der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, die gemäß dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) zugleich den offiziellen Club der Atommächte repräsentieren, dass Indien de jure keinesfalls der Status eines Nuklearwaffenstaates zukomme. Indiens Nachbar und Erzrivale Pakistan rief auf internationaler Ebene mit seinen sechs Kernwaffentests, die den indischen in einem zeitlichen Abstand von gerade mal zwei Wochen folgten, genau das gleiche Echo hervor. Doch weder die Rhetorik des Sicherheitsrates noch die ökonomischen Zwangsmaßnahmen, die im Falle der USA ohnehin auf Beschluss des Kongresses nach nur wenigen Monaten wieder zurückgefahren wurden, konnten die Verantwortlichen in Neu Delhi zur Umkehr bewegen.

Gegenwärtig wird das indische Atomwaffenarsenal auf 60–120 Sprengköpfe geschätzt. Zudem verfügt Indien über eine Vielzahl land-, luft- und seegestützter Trägersysteme. Das modernste ist eine Rakete des Typs Agni III, die über eine Reichweite von über 3000 Kilometern verfügt, und damit sogar Chinas Millionenmetropolen erreichen kann.

Daraus folgt die unumstößliche Tatsache, dass Indien heute de facto eine Atommacht ist. Das haben inzwischen auch die USA indirekt mit der Signatur des so genannten „Atomdeals“ vom 18. Juni 2005 bestätigt. Dabei handelt es sich um ein bilaterales Abkommen zwischen der größten und der ältesten Demokratie der Welt, worin sich Indien verpflichtet den zivilen Teil seines Nuklearsektors unter die Kontrolle der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) zu stellen, um im Gegenzug in den nuklearen Weltmarkt integriert zu werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob der bislang nicht ratifizierte Vertrag jemals in Kraft tritt. Entscheidend ist an dieser Stelle, dass die Unterzeichnung des Vertrages durch die einzige derzeit existierende Supermacht einer impliziten Anerkennung Indiens als Nuklearwaffenstaat gleich kommt.

An Indiens gegenwärtigem Status als Atommacht gibt es somit nichts zu deuten. Es stellt sich jedoch die Frage, was die konservative indische Regierung unter Führung der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) im Mai 1998 zu einer solchen Demonstration militärischer Stärke veranlasste. Warum spielten die politischen Entscheidungsträger in Neu Delhi die nukleare Karte zu einem Zeitpunkt, da doch nach dem Ende des Kalten Krieges alle Vorzeichen auf Abrüstung standen und das Nichtverbreitungsregime eine deutliche Stärkung zu verzeichnen hatte? Dies lässt sich nur beantworten, wenn man den Blick zurück wendet und sich Indiens jahrzehntelangen Weg zur Bombe Schritt für Schritt vor Augen führt.

Seit seiner Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahre 1947 setzte sich Indien unter Premierminister Jawaharlal Nehru wiederholt in internationalen Foren für nukleare Abrüstung ein. Zudem warb man für einen nicht-diskriminierenden nuklearen Nichtverbreitungsvertrag und unterzeichnete den Vertrag zum Verbot von Nuklearwaffentests in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser.

Im Jahre 1964 erfuhr die indische Nuklearpolitik jedoch eine deutliche Zäsur. China – das Land, gegen das man im indisch-chinesischen Grenzkrieg 1962 eine herbe militärische Niederlage erlitten hatte – führte seinen ersten Nukleartest durch und untermauerte damit seine Vormachtstellung im asiatischen Raum. Indien sah dadurch seine vitalen Sicherheitsinteressen bedroht und wandte sich mit der Bitte um nuklearen Schutz an die übrigen Großmächte. Dieser wurde jedoch verwährt, da Indien als (Gründungs-)Mitglied der Bewegung der Blockfreien Staaten nicht bereit war, sich während des Kalten Krieges ausdrücklich auf eine der beiden Seiten festzulegen.

Unter diesen sicherheitspolitischen Vorzeichen ist es auch nicht verwunderlich, dass man in Neu Delhi die Unterzeichnung des 1970 in Kraft getretenen NVV verweigerte, der das nukleare Monopol der fünf bis dato existenten Atomwaffenstaaten (inklusive China) zumindest vorläufig völkerrechtlich fundierte. Stattdessen übte Indien harsche Kritik an dem Vertragswerk, welches als asymmetrisch und unfair empfunden wurde. Indiens Ablehnung des NVV erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt 1974 unter der Ägide Indira Gandhis, als in Pokhran der erste indische Atomtest erfolgte, den man euphemistisch als „friedliche Kernexplosion“ bezeichnete.

An dieser Stelle muss jedoch konstatiert werden, dass Indien als Nicht-Vertragsstaat des NVV mit keinem seiner Kernwaffentests jemals gegen international geltendes Recht verstoßen hat. Im Gegenteil: Obwohl Indien dem NVV bis heute nicht beigetreten ist, hielt man sich in Neu Delhi immer strikt an die dort gesetzten Regeln der Nichtverbreitung. Ganz im Gegensatz zu China, das Anfang der achtziger Jahre damit begann Nuklearwaffentechnik an den Nicht-Vertragsstaat Pakistan zu liefern, mit dem Indien bis zu diesem Zeitpunkt bereits drei Kriege ausgefochten hatte.

Anstatt den klaren Verstoß Chinas gegen das Nichtverbreitungsregime jedoch mit strenger Kritik oder handfesten Sanktionen zu quittieren, zeigten sich die USA auf diesem Auge blind. Washington kooperierte weiterhin auf wirtschaftlichem und militärischem Gebiet mit Pakistan und China, wie es das bereits seit längerem im Zuge des Ost-West-Konfliktes tat, in dem die USA beide Staaten als wichtige Gegengewichte zur Sowjetunion ansahen. Ein Grund mehr für Indien auch künftig auf Selbsthilfe zu setzen und zumindest an der nuklearen Option, für den Fall einer direkten atomaren Bedrohung, festzuhalten.

Diese Politik der nuklearen Ambivalenz, d.h. die Aufrechterhaltung eines nuklearen Potentials ohne indes einsatzfähige Atomwaffen zusammenzusetzen, fand jedoch Mitte der neunziger Jahre ihr Ende, als zwei einschneidende Ereignisse in Bezug auf das Nichtverbreitungsregime Indien in Zugzwang brachten. Zum einen die unbegrenzte Verlängerung des NVV, wodurch die Nuklearwaffenstaaten ihr Nuklearmonopol auf alle Zeiten zu legalisieren versuchten und dadurch nach indischer Auffassung ein System nuklearer Apartheid konstituierten. Zum anderen die Verabschiedung des noch nicht ratifizierten Kernwaffenteststopp-Vertrags über ein umfassendes Verbot von Nuklearversuchen, dessen Unterzeichnung die indische Regierung aus den gleichen Gründen wie den NVV ablehnte. Aus Sicht der politischen Entscheidungsträger in Neu Delhi erschien es rational noch vor dem Inkrafttreten des Kernwaffenteststopp-Vertrags eine zweite Testreihe nach 1974 durchzuführen, da eine Kernexplosion auf indischem Boden nach dessen Ratifikation sicherlich härtere Sanktionen nach sich gezogen hätte, als dies im Anschluss an die Tests von Pokhran 1998 tatsächlich der Fall war.

Neben sicherheitspolitischen Erwägungen und der Neugliederung der Weltnuklearordnung gibt es derweil einen weiteren Grund für Indiens Aufstieg in den Rang einer Atommacht, der tief im Selbstbild der zweitbevölkerungsreichsten Nation der Welt verwurzelt ist: der unbedingte Wille als Großmacht anerkannt zu werden und das damit einhergehende Ansinnen, einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu erlangen. Beides lässt sich nach vorherrschender Meinung politischer Eliten in Indien nur durch den Besitz von Atomwaffen erreichen.

Auch wenn Indien bislang keinen festen Sitz im Sicherheitsrat erringen konnte, gilt das Land doch als einer der aussichtsreichsten Anwärter für die Zukunft. Zudem hat Neu Delhi in den letzten Jahren nicht nur die Beziehungen zu seinen asiatischen Nachbarn China und Pakistan verbessert, sondern ist unlängst eine strategische Partnerschaft mit den USA auf wirtschaftlicher, technologischer und militärsicher Ebene eingegangen. Die Frage ist allerdings schwer zu beantworten, ob Indien gerade wegen seiner Demonstration militärischer Stärke international mehr Anerkennung erfahren hat oder ob dieser Umstand nicht doch auf andere (z.B. wirtschaftliche) Faktoren zurückzuführen ist. Gleichwohl betrachten viele Indien-Experten das Land heute als angehende Weltmacht des 21. Jahrhunderts. Ob von dieser, um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen, zukünftig eine (nukleare) Bedrohung des Weltfriedens ausgehen wird, darf jedoch bezweifelt werden.

Zum einen hielt sich man sich in Neu Delhi immer an die Regeln der nuklearen Nichtverbreitung. Es ist nicht ersichtlich, weshalb man gerade jetzt von dieser Haltung abrücken sollte, zumal man damit die strategische Partnerschaft mit den USA und die verbesserten Beziehungen zu China aufs Spiel setzen würde. Zum anderen ist Indien eine seit 60 Jahren stabile Demokratie, von der nicht zu befürchten ist, dass sie sich auf waghalsige militärische Manöver einläßt. Ferner hält man in Indien weiterhin an den Prinzipien der Blockfreiheit fest, was die Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einschließt. So erteilte man der so genannten Koalition der Willigen eine Absage und beteiligte sich nicht am Irak-Krieg 2003. Zu guter Letzt hat sich Indien – anders als Pakistan – unilateral für eine Politik des No First Use ausgesprochen. Dabei verpflichtet sich Indien einerseits Atomwaffen nie zuerst einzusetzen und gegenüber Nicht-Nuklearwaffenstaaten in jedem Fall darauf zu verzichten.

Demzufolge erscheint ein vorsichtiger Optimismus durchaus angebracht, dass Indien auch in Zukunft seine Rolle als Atom- und aufstrebende Weltmacht mit dem nötigen Verantwortungsbewusstsein ausfüllen wird.

 

Literaturempfehlungen
Müller, Harald/Rauch, Carsten (2007): Der Atomdeal – Die indisch-amerikanische Nuklearkooperation und ihre Auswirkung auf das globale Nichtverbreitungsregime, HSFK-Report 6/2007, Frankfurt am Main.

Wagner, Christoph (2005): Die „verhinderte“ Großmacht? Die Außenpolitik der indischen Union, 1947–1998, Berlin.

Rothermund, Dietmar (2003): Atommacht Indien. Von der Bündnisfreiheit zur amerikanischen Allianz, Wien.

Daase, Christopher (2003): Der Anfang vom Ende des nuklearen Tabus. Zur Legitimitätskrise der Weltnuklearordnung, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, Jg. 10, Nr. 1, S. 7–41.

Tellis, Ashley J. (2001): India's Emerging Nuclear Posture, Santa Monica, CA.

Perkovich, George (1999): India's Nuclear Bomb – The Impact on Global Proliferation, Berkeley, CA.

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Andreas Schmidt ist wisschenschaftlicher Mitarbeiter im Programmbereich "Internationale Organisation, demokratischer Friede und Herrschaft des Rechts" bei der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.