NATO und Türkei

Eine Partnerschaft in Turbulenzen oder eine Allianz zum gegenseitigen Nutzen?

von Mehmet Alper SözerCüneyt Gürer
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Die Beziehungen zwischen der NATO und der Türkei können auf eine fast 70-jährige Geschichte zurückblicken. Diese ist nicht immer reibungslos und harmonisch verlaufen, vielmehr kann dieses Bündnis als die meiste Zeit bestenfalls problematisch beschrieben werden. Das bedeutet nicht unbedingt, dass beide Seiten nicht gegenseitig voneinander profitiert haben. Historisch am offensichtlichsten ist, dass die Türkei Schutz vor sowjetischer Aggression, beträchtliche militärische Unterstützung sowie wirtschaftliche Erleichterungen innerhalb des Marshallplans und Zugang türkischer Arbeiter*innen nach Westeuropa und insbesondere in Deutschland erhielt. Außerdem bedeutete die Mitgliedschaft der neugeborenen Republik im Bündnis, zumindest symbolisch, dass die Richtung des Landes in Richtung Westen ging. Im Gegenzug entsandte die NATO Truppen, errichtete Militärstützpunkte und Plattformen zur Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse, kontrollierte den sowjetischen Zugang zum Mittelmeer, moderierte und managte die lang anhaltenden Streitigkeiten in der Ägäis zwischen Griechenland und der Türkei. (1)

Die Türkei mit ihrer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung und ihrem osmanischen Erbe hat von jeher unterschiedliche politische und kulturelle Werte vertreten, die innerhalb des Bündnisses zu Dissonanzen führen. Die Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei sind die herausragenden und lang anhaltenden Konflikte, die im Großen und Ganzen von den USA als Vermittler bearbeitet wurden. Doch gab es eine Zeit, wo die Spannungen zwischen den beiden Ländern zu Brüchen in der NATO führten. Inmitten der Streitigkeiten über die Souveränität Zyperns und der Verfolgung türkischer Zyprioten intervenierte die Türkei in Zypern, indem sie Truppen entsandte und einen bedeutenden Teil des Nordens der Insel einnahm. Im Gegenzug widersetzten sich die Vereinigten Staaten der türkischen Operation und verhängten zwischen 1975-1978 ein Embargo für militärische Unterstützung und Waffenverkäufe an die Türkei. Noch wichtiger ist, dass der anhaltende Streit um Zypern und die jüngsten Spannungen im östlichen Mittelmeerraum nach wie vor als entscheidende Hindernisse für die interinstitutionelle Zusammenarbeit zwischen der NATO und der EU, der Republik Zypern als Nicht-NATO-EU-Mitgliedstaat und der Türkei als Nicht-EU-NATO-Verbündeter angesehen werden. (2) Während der Ära Erdogans hat sich die Haltung der Türkei gegenüber der NATO und dem Westen ständig verändert, mit dem Beginn des arabischen Aufstands 2011 ist sie komplizierter geworden und hat sich verschlechtert, was zu einer ständigen Diskussion darüber führt, ob die Türkei weiterhin Teil der NATO sein soll.  

Brüche in der Allianz
Als Erdogan 2002 an die Macht kam, hatte er noch nicht einmal eine konsolidierte Macht in seiner eigenen Partei, der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die damals eher eine Koalition aus ehemaligen Konservativen, gemäßigten Nationalisten und Zentralisten war. Sie war nicht, wie sie es heute ist, eine Partei, die von neo-osmanischen Gefühlen inspiriert, durch eine ultranationalistische Weltsicht verhärtet und mit Pragmatismus vermischt ist. Als Erdogan bei seinem Debüt sein islamistisches Hemd auszog, erfuhr er starken Rückenwind aus dem Westen, weil er in seinem pro-EU-Diskurs die antidemokratische militärische Bevormundung der Politik des Landes stürzen wollte. Obwohl seine Partei den USA 2003 die Genehmigung verweigerte, die Türkei für eine Invasion des Irak zu nutzen, unterstützte er persönlich die Idee und erklärte sich zum Ko-Vorsitzenden des "Greater Middle East Project".

Im Erwachen des arabischen Aufstands verursachten Machtverschiebungen, politische Unruhen und neu aufkommende Bedrohungen in Nordafrika und im Nahen Osten zusammen mit Erdogans Leidenschaft für die Hauptrolle und seiner damit einhergehenden unorthodoxen Politik erheblichen Schaden in den Beziehungen der Türkei zur westlichen Welt. Die NATO konnte nicht mit einer einheitlichen Strategie handeln, da jedes Land seine Sicherheitsprioritäten und -interessen hatte, und in dieser Hinsicht ist die Türkei nicht das einzige Land mit einer deutlichen Distanz. (3)

Washington erklärte lange vor der militärischen Intervention einer von der NATO geführten Mehrstaatenkoalition in Libyen, dass sich sein strategischer Schwerpunkt in Richtung auf den Pazifik verlagert habe und dass es die führende Rolle der Bündnispartner innerhalb der NATO in Regionen unter dem Einfluss des arabischen Aufstands verlassen und eine Strategie der "Führung von hinten" übernommen habe, insbesondere in Libyen und Syrien. Der sicherheitspolitische Strategiewechsel der Vereinigten Staaten belastete nicht nur die Bündnispartner der NATO in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht, sondern gab auch Staaten wie Russland, Frankreich und der Türkei grünes Licht, die ihren Einfluss vergrößern und eine durchsetzungsstarke Politik verfolgen wollten.

Viele Wissenschaftler*innen und Fachleute behaupten, dass die Divergenzen zwischen der Türkei und der NATO in Syrien auf unterschiedliche politische und sicherheitspolitische Prioritäten auf beiden Seiten zurückzuführen sind. Sie behaupten, die Türkei wolle nicht, dass die Syrische Kurdische Demokratische Unionspartei (PYD) und ihre Miliz, die People's Protection Units (YPG), Territorium gewinnen und ihren Einfluss auf Nordsyrien vergrößern würde. Während die USA und ihre Verbündeten in der NATO die YPG als einen loyalen Partner betrachteten und sie in jeder Hinsicht militärisch befähigten, den sog. IslamischenStaat zu besiegen. Dieses Argument ist nicht falsch, aber unvollständig. In der Frühphase des syrischen Konflikts widersetzte sich Erdogan der Idee, dass die Türkei die Aktivitäten der PYD begrenzen müsse, um nicht eine anhaltende kurdische Öffnung zu riskieren, was von hohen Mitgliedern der damaligen Sicherheitsbürokratie vertreten wurde. Viele dieser Personen wurden inzwischen aus ihren Ämtern entfernt und/oder inhaftiert. Erdogan wollte die Kurden in Übereinstimmung mit seinem Ehrgeiz, Assad zu stürzen sehen und erwartete ihre Unterstützung. Der Strategie zufolge empfing Erdogan den Führer der PYD, Salih Muslim, zweimal in den Jahren 2013 und 2014; dies geschah inmitten harter Kritik an der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), die gegenwärtig ein starker Unterstützer Erdogans ist. Solche innenpolitischen Konflikte und Erdogans Ehrgeiz, um jeden Preis an der Macht zu bleiben, führten zu radikalen Veränderungen sowohl in der Außen- als auch in der Innenpolitik hin zu einer pro-russischen und nicht-demokratischen Richtung.

Wegen des mangelnden amerikanischen Interesses, Assad von der Macht zu verdrängen, wurde der Türkei die unvermeidliche Annäherung an das dominante Russland und Assads Rückendeckung für den Iran in Syrien überlassen, obwohl Russland, wie die USA, ein gutes Verhältnis zur PYD hatte. Ein Gegensatz zu dieser Annäherung wären unerschöpfliche Konflikte gewesen, in denen alle Seiten enorme Mengen aller Arten von Quellen und Energie verschwendet hätten. Der begleitende S-400-Streit (russisches Langstrecken-Boden-Luft-Raketen-System zur Bekämpfung von Kampfflugzeugen und Marschflugkörpern in allen Flughöhen, Anm. der Red.) könnte als Versuch der Türkei interpretiert werden, die Aufmerksamkeit der NATO auf ihre Bedürfnisse zu lenken, zusammen mit einer Warnung, die signalisierte, "mich mit Russland nicht allein zu lassen", und nicht als drastischer Paradigmenwechsel. Die Türkei unterstützt die Regierung der Nationalen Einheit in Libyen in Übereinstimmung mit den Vereinten Nationen und den USA, indem sie ihre Hard-power trotz der französischen und russischen Unterstützung für ihren Rivalen General Haftar einsetzt. Die Türkei steuert ihren eigenen Kurs, indem sie ihren Fußabdruck in Libyen ausweitet und dabei auf relative Sicherheiten zurückgreift, die die NATO-Mitgliedschaft bietet; andernfalls könnten sich widersprüchliche Interessen in Libyen und eskalierende Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei leicht zu einem größeren Konflikt entwickeln.

Fazit
In den letzten Jahren schien es Erdogan gelungen zu sein, a) einen Konsens mit Russland in Syrien zu erreichen, b) einen kurdischen Einfluss westlich des Euphrats nicht zuzulassen, c) es zu schaffen, islamistische Gruppen in Syrien anzuführen und ihre Energie nach Libyen umzuleiten, d) die volle Unterstützung von Trump zu erhalten und e) Gasvorkommen im Schwarzen Meer zu erkunden. Darüber hinaus suchte er inmitten der starken Opposition Frankreichs, Ägyptens, Griechenlands, der Republik Zypern und der Vereinigten Arabischen Emirate nach weiteren Gasvorkommen in unstrittigen Gebieten des östlichen Mittelmeers, wo er sich mehr Feinde als Freunde machte, während er sich von "Null Problemen" zu "kostbarer Einsamkeit" bewegte. Das türkische Militär befindet sich in einem Prozess einer massiven Entwicklung, die mit Erdogans Willen in Einklang steht, unter seiner Hegemonie über die türkische Politik, einen neuen Militärapparat unter seiner vollen Kontrolle zu schaffen; dies führt jedoch zu einem Mangel an qualifizierten und gut ausgebildeten Offizieren. Sein Appetit auf die Neuorganisation von Stellvertreterkräften und deren Einsatz in regionalen Konflikten sowie seine jüngsten Bemühungen um die Gründung privater Militärunternehmen sind es wert, dass man sie beobachtet. Trotz dieses gefährlichen Risikos neben vielen anderen, wird Erdogan, der ein ernsthafter Risikoträger und ein meisterhafter Pragmatiker mit der Fähigkeit zu scharfen Kehrtwendungen ist, weiterhin eine durchsetzungsstarke Politik verfolgen, die manchmal im Gegensatz zu den Interessen der NATO-Verbündeten steht. Darüber hinaus wird er die Grenzen der Türkei so weit ausreizen, wie es in der republikanischen Ära noch nie vorgekommen ist, ohne zu zögern, auf Streitkräfte zurückzugreifen. Wenn es nicht zu einer drastischen Änderung der Politik der USA gegenüber der Türkei kommt, wird das türkische Bündnis mit der NATO auf der Grundlage gegenseitiger Vorteile und Abhängigkeiten Bestand haben.

Anmerkungen
1 Turkey-U.S. Defense Cooperation: Prospects and Challenges. Jim Zanotti. Analyst in Middle Eastern Affairs April 8, 2011
2 The EU AND NATO: essential partners. Gustav Lindstrom and Thierry Tardy (Eds), 2019
3 Deutschland weigerte sich, sich an einem Luftangriff auf Libyen zu beteiligen und eine Flugverbotszone einzurichten, während 8 Mitgliedstaaten des NATO-Bündnisses aktiv am Kampf teilnahmen.

Übersetzung aus dem Englischen: C. Schweitzer

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Mehmet Alper Sözer, Ph.D., ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Zentrum für Terrorismus und transnationale Kriminalität in der Türkei.
Cüneyt Gürer, Ph.D. Alexander von Humboldt, Philipp Schwartz Initiative Fellow an der Universität Siegen.