Eine Perspektive aus der Kampagne Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung

von Wolfgang Sternstein

Die Kampagne hatte von Anfang an eine klare Entscheidung getroffen hinsichtlich der Methode, mit der ihr Ziel - die Rücknahme der stationierten Pershing-II-Raketen - erreicht werden sollte: ziviler Ungehorsam, hauptsächlich in Gestalt gewaltfreier Blockaden an den Stationierungsorten. Sie besaß eine effiziente, verbindliche Organisationsstruktur in Gestalt der Initiativgruppe, der Selbstverpflichtungs- bzw. Solidaritätserklärung der Mitglieder, der Rundbriefe und Seminare. Und sie hatte schließlich eine Strategie, wie sie durch Blockaden einen politischen. Druck aufbauen wollte, der zur Rücknahme der Stationierung führen sollte. Wäre nicht Gorbi dazwischengekommen, hätte sie noch jahrelang an der Verwirklichung dieses Zieles gearbeitet.

Was ist daraus zu lernen? Einmal, daß die gewaltfreie Kampagne im Vergleich zu relativ zufällig aneinandergereihten Demonstrationen und Aktionen eine neue Qualität der politischen Auseinandersetzung darstellt, hinter die die Friedensbewegung nicht wieder zurückfallen sollte. Elemente einer gewaltfreien Kampagne sind: Situationsanalysen, Zielfestlegung, Methodenwahl, verbindlicher Organisationszusammenhang aus Initiativgruppen und Unterzeichnern, Ausarbeitung einer Strategie, die das angestrebte Ziel Schritt für Schritt zu erreichen sucht, Auswertung der Erfahrungen nach Abschluß der Kampagne.

Zum anderen ist zu lernen, eine bloß negative Zielsetzung genügt nicht. Bloß nein sagen, ablehnen, Widerstand leisten, ist nicht genug. Der politische Gegner bestimmt dann Zeit, Ort, Inhalt und weitgehend auch die Form der Auseinandersetzung. Die Friedensbewegung hat nur eine Erfolgschance, wenn es ihr gelingt, aus der Defensive herauszukommen und in die Offensive zu gehen. Sie muß autonom ihre Ziele wählen und an ihrer Verwirklichung arbeiten, statt sich an den vom politischen Gegner vorgegebenen Themen abzuarbeiten.

Worin besteht unser Ziel? Meine Antwort: Unser Fernziel ist eine Welt ohne Waffen, positiv gewendet, eine klassenlose, umweltverträgliche (ökologische), herrschafts- und gewaltfreie Gesellschaft. Die Methode, mit der dieses Fernziel erreicht werden soll, ist die gewaltfreie Aktion. Darunter verstehe ich eine konstruktive Alternative zur Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung.

Im Bereich der Verteidigung heißt die konstruktive Alternative zur militärischen Verteidigung Soziale Verteidigung. Jede Blockade, jede Kriegsdienstverweigerung, Totalverweigerung, Kriegssteuerverweigerung, jeder Volkszählungsboykott ist zugleich ein Schritt in Richtung Soziale Verteidigung, denn die Methoden der gewaltfreien Aktion, auf denen die Soziale Verteidigung aufbaut, werden auf diese Weise erlernt und eingeübt. Mit dem schrittweisen Abbau der militärischen Verteidigung geht folglich ein schrittweiser Aufbau der Sozialen Verteidigung einher. Ein Volk, das in einem jahrzehntelangen Prozeß wirtschaftlich-sozialer Umgestaltung und politisch-militärischer "Umrüstung" eine Soziale Verteidigung aufgebaut hat, ist am Ende dieser "Perestroika" keineswegs wehrlos, im Gegenteil, es hat auf dem Manövergelände der innenpolitischen Konfliktaustragung so viel Erfahrung und Kenntnis im Umgang mit den gewaltfreien Aktionsmethoden gesammelt, daß es für jeden Angreifer, gleichgültig ob von innen oder von außen, zu einem ernstzunehmenden Gegner wird.

Ich habe vor Jahren ein Konzept zur Umrüstung der BRD auf Soziale Verteidigung entworfen, das folgende Phasen vorsah:

Erste Phase: Rücknahme der Raketenstationierung.

Zweite Phase: Beseitigung sämtlicher Massenvernichtungsmittel von deutschem Boden (DDR und BRD). Bildung einer massenvernichtungswaffenfreien Zone in Europa aus Schweiz, Österreich, Dänemark, Finnland, Schweden, DDR und BRD, die in Zusammenarbeit mit den Friedensbewegungen der betreffenden Länder nach Norden und Süden, Westen und Osten ausgeweitet werden könnte.

Dritte Phase: Abbau der konventionellen Offensivwaffen

Vierte Phase: Abbau der konventionellen Defensivwaffen und offizieller Übergang zu einer Sozialen Verteidigung.

Wer mehr darüber erfahren will, kann ein 12-Seitenpapier für 1,80 DM in Briefmarken bei mir bestellen. Hauptmannsreute 45, 7000 Stuttgart 1

Die erste Phase wird voraussichtlich in zwei Jahren abgeschlossen sein. Die zweite Phase könnte uns für die nächsten 20Jahre beschäftigen. Dabei kann es selbstverständlich Überschneidungen geben, z.B. konventionelle Abrüstung der Warschauer-Pakt-Staaten als Voraussetzung für atomare Abrüstung der NATO.

Die zweite Phase ist ein großer Rahmen, der durch Kampagnen mit Teilzielen ausgefüllt werden müßte. Denkbar wären u.a. Kampagnen zur

  • Auflösung der Raketendepots nach der Verschrottung der Raketen,
  • Beseitigung der Kurzstreckenraketen. (z.B. in Großengstingen),
  • Beseitigung der taktischen Atomwaffen von deutschem Territorium,
  • Beseitigung der Giftgaslager von deutschem Territorium,
  • Beseitigung der EUCOM bei Stuttgart (Kommandozentrale der amerikanischen Streitkräfte für Europa, Nordafrika und den Nahen Osten)
  • Verhinderung von Wackersdorf (zivil-militärische Nutzung der Atomenergie).

Die Kräfte der Friedensbewegung reichen zweifellos nicht aus, alle diese Ziele gleichzeitig in Angriff zu nehmen. Wir müssen ein oder zwei Schwerpunkte bilden. Ob wir Erfolg haben werden, hängt letztlich davon ab, ob sich eine Initiativgruppe bildet, die mit Leidenschaft und Augenmaß eines dieser harten Politbretter zu bohren beginnt.

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Dr. Wolfgang Sternstein ist Friedens- und Konfliktforscher mit dem Schwerpunkt Theorie und Praxis der gewaltfreien Aktion. Er kam als Wissenschaftler nach Wyhl, schloss sich aber schon bald der Widerstandsbewegung gegen das Atomkraftwerk an. In seiner Autobiografie „Mein Weg zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit“ berichtet er ausführlich über den „Kampf um Wyhl“.