Der permanente Ausnahmezustand

Eine Reflexion über die außergewöhnliche politisch-rechtsstaatliche Kultur der Türkei

von Ceylan Begüm Yıldız
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Es ist üblich, den gegenwärtigen Zustand der Türkei durch eine plötzliche "autoritäre Wende" zu erklären, die seit den Gezi-Protesten 2013 die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit erregte. (1) Dieser autoritäre Griff wurde fester und nahm mit dem gescheiterten Putschversuch 2016 eine weitere Wende. Durch den vom Präsidenten gesteuerten Regimewechsel, der durch das Verfassungsreferendum vom April 2017 stattfand, erhielt das autoritäre Regime der Türkei sein gesetzliches Siegel.

Eine autoritäre Herrschaft durch die Autorität des Rechts ist jedoch kein neuer Trend im politischen und rechtlichen Klima der Türkei. Die heutige Frage, was an der Rechtsdiktatur der Türkei “schief gelaufen ist", findet ihre Antwort in der schrittweisen Ausweitung der seit ihrer Gründung erlassenen rechtlichen Sondermaßnahmen für die kurdische Bevölkerung.

Kurz gesagt, sind Sondermaßnahmen jene, die die Rechtsordnung außer Kraft setzen, um sie wiederherzustellen oder zu verteidigen, wie im Falle eines nationalen Notstands oder Belagerungszustands. Durch die Erklärung von Ausnahmemaßnahmen verlieren die Nationalstaaten nicht die Legitimität, die mit ihnen als "demokratisch" einhergeht, da dies nicht die Abschaffung des gesamten Rechtssystems bedeutet. Vielmehr führt die Annahme von Ausnahmemaßnahmen zu einem dualen System, in dem sowohl die Rechtsordnung als auch ihre Ausnahme koexistieren. Bei der Verfolgung der Ausnahmemaßnahmen möchte ich ein in der politisch-rechtlichen Ordnung der Türkei erkennbares Muster aufdecken, nämlich dass die willkürlichen rechtlichen Ausnahmemaßnahmen, die gegenüber der kurdischen Bevölkerung ergriffen wurden, die rechtlichen Grenzen der Ausnahmemaßnahmen, die den Weg für die heutige Rechtsdiktatur geebnet haben, schrittweise erweitert haben. 

Während seiner gesamten Geschichte hat der türkische Staat die kurdische Region durch außergewöhnliche Maßnahmen regiert, während er diese Maßnahmen durch die Rhetorik des "Kriegs gegen den Terror", Jahrzehnte vor seinem globalen Einsatz, legitimiert hat. Nach der Gründung der Türkischen Republik im Jahr 1923 wurde die erste Ausnahmemaßnahme gegen eine kurdische Rebellion, bekannt als die Rebellion Sheikh Said von 1925, erlassen. Daraufhin verabschiedete die Regierung das Gesetz zur Aufrechterhaltung der Ordnung (Nr. 578), das das Mehrparteienregime beendete und durch eine Einparteienherrschaft ersetzte, die mit außerordentlichen Befugnissen ausgestattet war und bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs andauerte. Obwohl in der Zwischenkriegszeit außergewöhnliche Maßnahmen weltweit durchaus üblich waren, ist es bemerkenswert, dass im Fall der Türkei der Auslöser für das Einparteienregime nicht eine Bedrohung von außen, sondern eher eine Bedrohung von innen war.

1951 wurden als Reaktion auf den Kalten Krieg einige Änderungen am türkischen Strafgesetzbuch (Nr. 5844) vorgenommen, die den Kommunismus als Bedrohung hinzufügten. Nach den Militärputschen von 1960, 1971 und 1980 wurde ein separates Notstandsgesetz in die neue Verfassung aufgenommen, das allgemein als OHAL (Nr. 2935) bezeichnet wird, obwohl die vorherige Verfassung von 1961 bereits einen Artikel bezüglich eines Belagerungszustands enthielt. Das OHAL wurde sofort umgesetzt und betraf hauptsächlich die kurdischen Mehrheitsprovinzen im Süden und Südosten der Türkei. Während das Territorium der Türkei durch die antikommunistischen Ausnahmegesetze regiert wurde, wurden die kurdischen Mehrheitsprovinzen unter einem doppelten Ausnahme-Regime regiert, das durch die Kombination der antikommunistischen Gesetze und der OHAL-Notstandsmaßnahmen geschaffen wurde.

Während das OHAL in den kurdischen Provinzen weitergeführt wurde, verabschiedete die Türkei 1991 ihre erste Version des Antiterrorgesetzes (Nr. 3713). Dieses wurde als eine umfassendere Version der antikommunistischen Artikel des türkischen Strafgesetzbuches vorgelegt. Die 1990er Jahre, in denen durch die Kombination des OHAL und des Antiterrorgesetzes das Regime der außergewöhnlichen Regierungsführung intensiviert wurde, gelten als eine der tödlichsten Zeiten in der kurdischen Region. Noch heute versammeln sich seit dem 27. März 1995 jeden Samstag in Istanbul auf dem Galatasaray-Platz die Angehörigen derer, die in dieser Zeit gewaltsam verschwunden sind, die so genannten Samstagsmütter (Cumartesi Anneleri). Bemerkenswert an dieser kurzen politisch-juristischen Geschichte ist, dass zwei parallele außergewöhnliche Maßnahmen in unmittelbarer Nähe zueinander stattfinden. Während sich die eine vollständig auf das Gebiet der Türkei erstreckt, ist die andere spezifisch für die Provinzen mit kurdischer Mehrheit im Osten und Südosten der Türkei, die rechtlich noch willkürlicher und militärisch stärker befestigt ist als die erstgenannte.

Dies war auch der Fall gewesen, als die Türkei 2017 einen Regimewechsel durchmachte. Im Sommer 2015 beendete der türkische Staat die Friedensverhandlungen mit der PKK und ließ das berüchtigte Regime der 1990er Jahre mit der Verhängung einer Ausgangssperre rund um die Uhr, die von den Militäroperationen begleitet wurde, wieder aufleben. Im Gegensatz zum verfassungsmäßig verhängten Ausnahmezustand beruhten die Ausgangssperren und Militäroperationen auf dem Provinzverwaltungsgesetz (Nr. 5442), was eine Debatte über seine Rechtmäßigkeit auslöste. Die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht, bekannt als Venedig-Kommission, gab einen detaillierten Bericht über den rechtlichen Rahmen der Ausgangssperren heraus. Die Kommission kam zu dem Schluss, dass "die seit August 2015 verhängten Ausgangssperren nicht auf dem verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Rahmen beruhen, der speziell die Anwendung von Sondermaßnahmen in der Türkei, einschließlich der Ausgangssperre, regelt".

Während die Provinzen mit kurdischer Bevölkerungsmehrheit in einen Kriegszustand verfielen, der durch eine willkürliche gesetzliche Ausnahmemaßnahme legitimiert war, wurde 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch der landesweite Ausnahmezustand ausgerufen. Die AKP-Regierung nutzte diese Gelegenheit, um mit Massensäuberungen in Regierungsämtern einschließlich des öffentlichen Dienstes und des Militärs jegliche Opposition auszuschalten. In einem solchen Klima vollzog die Türkei einen parlamentarischen Regimewechsel von einem parlamentarischen System zu einem starken Präsidialsystem.

Seit der Gründung der Türkischen Republik, als die kurdische Region verschiedene Ausnahmeregelungen durchlief, von denen jede willkürlicher und gewalttätiger war als die vorangegangende, erodierten die rechtlichen Grenzen der Ausnahmemaßnahmen. Da sich jede Ausnahmeregelung über die kurdische Region normalisiert hatte, ist die Ausnahme schließlich zur Regel geworden.

Anmerkungen
1 Für eine erweiterte Version dieses Artikels siehe: Yildiz, C.B. 2020 ‘A State in Anomie: An Analysis of Modern Turkey’s States of Exception’ in States of Exception: Law, History, Theory edited by Cosmin Cercel, Gian Giacomo Fusco and Simon Lavis, Oxon: Routledge.
2 European Commission for Democracy Through Law. 2016. Opinion on the Legal Framework Governing Curfews. http://www.venice.coe.int/webforms/documents/?pdf=CDL-AD(2016)010-e

Übersetzung aus dem Englischen: C. Schweitzer  

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Ceylan Begüm Yıldız ist Friedenswissenschaftlerin und Doktorandin am Birkbeck College der Universität London.