Eine Reise nach Osijek

von Traudel Rebmann
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Anfang März war ich zum zweiten Mal in Kroatien. Ich war von der Anti­kriegskampagne eingeladen worden, Einführungs-Workshops über Me­diation und weitere für das Friedenstiften notwendige Fähigkeiten durchzuführen.

Ich wurde gebeten, nach Osijek zu kommen, eine Stadt etwa 300 km östlich von Zagreb gelegen - ein Ort, der da­mals viel zu oft in den Nachrichten auf­tauchte. Während ich am Telefon die letzten Absprachen traf, mußten wir auflegen, weil sich am anderen Ende - in Osijek - die Menschen in Sicherheit bringen mußten. So war es an mir, mir darüber klar zu werden, was ich tun sollte, insbesondere deshalb, weil es niemanden gab, der mit mir zusammen hätte fahren können. Sollte ich es riskie­ren, nach meiner Ankunft dort mehrere Tage lang in einem Keller zu verbrin­gen, ohne irgendein Training ausüben zu können? Mir war die Botschaft übermittelt worden, daß "Menschen auf mich warten". Und Friedenstiften be­deutet nicht immer, in Sicherheit zu le­ben. So fuhr ich um 5.30 Uhr los - fast buchstäblich ins Dunkel hinein. Doch kurz darauf erlebte ich die sanfte Mor­gendämmerung und einen strahlenden Sonnenaufgang. Fünf Stunden später hatte ich Osijek erreicht. Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, wurde er auf bei­den Seiten von Frachtzügen geschützt. Jemand rief meinen Namen, und ich wurde von mir völlig fremden Men­schen gegrüßt, die aber bald Gastgeber, Freunde, Verbündete, Mitarbeiter und Quellen der Hoffnung angesichts von soviel Zerstörung und Verwirrung für mich wurden.

"Willkommen in unserer verwundeten Stadt" waren die nächsten Worte, die ich vernahm. Und verwundet ist sie. In gewisser Weise ist die neobarocke Stadt noch immer schön, obwohl vielleicht 70 % der Gebäude beschädigt wurden. Un­zählige Fenster sind zerbrochen, und viele Gebäude sind mit Brettern verna­gelt. Aber irgendwie scheint das Leben zurückzukehren. Viele Flüchtlinge, die im Herbst geflohen waren, kamen jetzt zurück. Ich nahm den beginnenden Frühling war. Das Wetter war herrlich.

Die Leute sahen in der Anwesenheit von Kindern ein unerwartetes Zeichen der Hoffnung. Offensichtlich waren die meisten von ihnen evakuiert worden. Die Schulen waren nach wie vor ge­schlossen. Sie waren voller Flüchtlinge vom Lande. Oder voller Soldaten, was sie zu Zielscheiben für den Feind macht. Unsere Workshops wurden im Stadt­zentrum abgehalten - in der Universität, die zwangsläufig beschädigt wurde, aber wieder "arbeitete". Teile der Gebäude werden auch vom Militär genutzt. Der Eingang war sogar von Soldaten be­wacht. Und einer von ihnen stellte sich als Deutscher heraus, der der kroati­schen Armee beigetreten ist. Er erzählte mir, wie viele verschiedene Nationali­täten in seiner Kompanie seien - Men­schen, mit guten Absichten, Abenteu­erlustige, die sich selbst beweisen wol­len.

Von den Personen, die an den drei Nachmittags-Workshops teilnahmen, kannten sich nur wenige untereinander. Aber sie wurden gestärkt und ermutigt, als sie merkten, daß sie nicht allein wa­ren mit ihrem Wunsch, etwas zu tun, um die Gewalt, die Verzweiflung, den Hass und die Zerstörung zu überwinden. Sie kamen aus allen Lebensbereichen. ei­nige warteten darauf, wieder an ihre Ar­beitsstelle zurückzukehren (nur 10 % der Industrie war zu dem Zeitpunkt in Betrieb). Andere halfen Flüchtlingen und mittellosen Menschen, lehrten an der Universität oder arbeiteten im medi­zinischen Bereich.

Sie waren sehr daran interessiert, Wege einzuüben, um das Bewußtsein anderer Menschen zu wecken, ihre Unterstüt­zung zu bekommen und sie in die Lage zu versetzen, die andere Seite der Me­daille zu sehen. Jede Seite hat ähnliche Vorurteile gegen die andere, einige da­von eingeimpft durch die Medien. die Menschen fangen an zu erkennen, daß sie das Opfer so vieler Interesser sind.

Sie sind bereits Opfer. Einige werden für viele entwurzelt bleiben. Andere ha­ben Familienangehörige verloren. Viele andere sind nicht länger fähig, Freunden und Nachbarn zu vertrauen, die plötz­lich als einer anderen Nationalität zuge­hörig erklärt wurden (oder sich selbst erklärten).

Wir machten einige Übungen, bei denen die Leute zu überlegen anfingen, wer denn überhaupt ein wirklich echter "Vollblut"-Kroate sei. Diese Fragen wurden ständig gestellt: Wie können wir diesen Haß und all diese schlechten Ge­fühle überwinden?

Selbst wenn der Krieg morgen beendet wäre, würden viele Probleme noch lange bestehen bleiben. Ein Hauptpro­blem ist der wirtschaftliche Zustand - eine Hauptursache für den Krieg. Viele Fabriken arbeiten nicht mehr. Viele Handelsbeziehungen sind abgebrochen. Der Tourismus ist sehr wahrscheinlich für mehrere Jahre dem Tode geweiht - ein Teil der Infrastruktur existiert nicht mehr.

So viele Menschen sind verletzt, desil­lusioniert, traumatisiert. Familien wur­den getrennt, Besitztum ist zerstört wor­den. Und Seelen sind demoralisiert.

Man stelle sich die Soldaten vor, die aus dem Krieg heimkehren, einige von ih­nen äußerlich verwundet, wahrschein­lich sehr viele mehr innerlich gebrochen und zerstört. Wie werden sie in der Lage sein, zum normalen Leben zurückzukeh­ren; Wie werden sie mit ihren Erlebnis­sen und ihrem Alpträumen leben?

Und dann sind da all die Kinder, die so­viel miterleben mußten. einige wurden in andere Länder geschickt, wo sie mo­natelang ohne ihre Familien lebten. Sie werden lange Zeit brauchen, um sich zu erholen. Werden die Schulen imstande sein, ihnen da hindurchzuhelfen?

Ich war in einer Wohnung unterge­bracht, die einmal schön gewesen ist. Nun war sie schlimm beschädigt. Man sagte mir, daß etwa 50 % der Wohnun­gen nun von Fremden besetzt seien, weil die Besitzer vor dem Krieg geflohen sind. Aber die Besitzer werden zurück­kommen. Was wird dann geschehen?

Dann sind da die Flüchtlinge aus ländli­chen Gebieten - jetzt in Flüchtlingsla­gern festsitzend. Die meisten Bauern wollen jetzt zu ihrem Land zurückkeh­ren. Aber ihre Dörfer (sowohl serbische als auch kroatische) wurden wahr­scheinlich zerstört. Doch auch wenn sie es nicht sind, werden die Felder voller Landminen sein.

Was wird mit all den alten Menschen passieren, die sich zum Bleiben ent­schlossen haben und nicht mit jemand anderem weggehen wollen? Vielleicht werden ihre Kinder versuchen, in einem fremden Land ein neues Leben zu be­ginnen. Wer wird sich um die Kranken kümmern? Wer wird sie in ihrer Ein­samkeit besuchen? Es gibt so viele Fra­gen - eine Herausforderung an uns alle.

Wir müssen tun, was wir können. Einige von uns können vielleicht Flüchtlinge begleiten, wenn sie nach Hause zurück­kehren. Oder wir könnten gebeten wer­den, irgendwo für eine Zeitlang mit Ser­ben, Kroaten und Moslems zusammen­zuleben. Vielleicht sehen wir eine Gele­genheit, einer Familie oder einem Stu­denten finanziell zu helfen. Vielleicht können wir Fähigkeiten oder Sach­kenntnis einbringen. Vielleicht können wir uns - um unsere Solidarität zu be­kunden - in diesen Teil der Welt wagen, während man noch auf die Wiederbele­bung des Tourismus wartet.

Ich habe so viele Leute getroffen, die in ihrem Glauben tief verwurzelt sind oder sich auf einer spirituellen Reise befin­den. Es erscheint ihnen wichtig, "den Zeitpunkt zu ergreifen" und ihrem volk zu helfen. Sie hoffen und beten für eine neue Denkweise, einen neuen Tagesan­bruch, wo Frieden und Gerechtigkeit an der Tagesordnung sind.

Als ich Osijek verließ, überreichte man mir einen Straß Narzissen - ein Symbol des Dankes, der Wertschätzung und der Freundschaft. Ich nahm sie mit nach Deutschland- ein Symbol der Hoffnung.

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Traudel Rebmann ist Mediatorin im ehem. Jugoslawien in Auftrag des Bundes für Soziale Verteidigung