Von der "Direktive 59" bis zu "Discriminate Deterrence"

Eine Rückschau ins Schreckenskabinett

von Christine Schweitzer

Die Friedensbewegung kann nächstes Jahr auf ihr zehnjähriges Bestehen zurückblicken, wenn wir als Stichdatum den NATO-Doppelbeschluß von 1979 nehmen wollen. Grund genug, einmal Rückschau zu halten auf die militärstrategisehen Planungen, die uns in diesen zehn Jahren beschäftigt haben.

In einem doppelten Sinne wurde "der Sieg ist möglich" zu einem Leitmotiv der jungen Anti-Raketen-Bewegung. Der Sieg schien möglich gegen die Realisierung der Stationierung - und daß er dann doch nicht möglich war, bedeutete den ersten Einbruch in die Bewegung. "Der Sieg ist möglich" war aber auch der Titel eines Aufsatzes, in dem die zukünftige US-Aufrüstungspolitik beschrieben wurde:
"Ein Atomkrieg ist möglich. Die Erkenntnis, daß ein Krieg auf jeder Ebene der Auseinandersetzung gewonnen oder verloren werden kann, ist für eine intelligente Verteidigungsplanung essentiell. Eine Kombination von offensivem Entwaffnungsschlag, Zivilschutz und einem Abwehrsystem ge-gen ballistische Raketen bzw. Luftabwehr müßten die US-Verluste so niedrig halten, daß ein nationales überleben und Wiederaufbau möglich sind." Da dieser Aufsatz nicht alleine stand - nicht nur bekamen seine Autoren wichtige Aufgaben in der Administration des neuen, als Scharfmacher bekannten US-Präsidenten, sondern auch zahlreiche Zitate von Bush, Weinberger und Reagan selbst belegte, daß die Zeit der Entspannung vorläufig vorbei war schien die Drohung eines Dritten Weltkrieges auf einmal hautnah herangerückt.

Abschreckung durch Vergeltung 
Nachdem bereits zweimal in diesem Jahrhundert die Abschreckung durch scheinbar mehr und bessere Waffen versagt hatte, meinte man Mitte der fünfziger Jahre ein todsicheres Konzept gefunden zu haben: Die Abschreckung durch massive Vergeltung mit Atomwaffen. Sie wurde sehr schnell unglaubwürdig, weil es unrealistisch schien, daß jeder lokal begrenzte Konflikt zum atomaren Inferno führen würde. Um die Drohung mit. der gegenseitig zugesicherten Zerstörung glaubhaft zu machen, bauten daher beide Seiten ihre Waffensysteme aus und differenzierten sie: Es begann die Entwicklung von Kurz- und Mittelstreckenwaffen. Seit 1967 bekennt sich die NATO zur Strategie der Flexiblen Reaktion, deren entscheidendes Merkmal die Ungewißheit ist, in der sie den ankommenden Gegner läßt, mit welchen Waffen und auf welcher Eskalationsebene zurückgeschlagen wird. Sie sieht dreierlei militärische Reaktionen vor; die je nach Lage  nacheinander oder gleichzeitig möglich sind3: die "Direktverteidigung" auf der militärischen Stufe des Konflikts, die der Angreifer gewählt hat, die ''vorbedachte Eskalation" durch den 'politisch kontrollierten selektiven Einsatz nuklearer Waffen' und die "Allgemeine nukleare Reaktion", den Angriff gegen das strategische Potential des Gegners. Doch diese Strategie reicht den Militärs inzwischen auch nicht mehr aus:  Auf eine verhängnisvolle Weise war es nur logisch, wenn ihnen Abschreckung nur noch dadurch glaubhaft zu machen scheint, daß man einen Krieg auch führen und gewinnen kann.

Auf dem Weg zu einer neuen Strategie Die sogenannte "Carter-Doktrin" vom Sommer 1980, die Direktive 59, in der erstmalig Militäranlagen und Kommandozentralen der Sowjetunion in die Reihe der offiziellen Ziel der westlichen Atomwaffen mit aufgenommen wurden, war eine der ersten von einer breiten Öffentlichkeit hierzulande wahrgenommene militärstrategische Anpassung des Westens an die Vorstellung eines führ- und gewinnbaren (Atom-)krieges.
Zum eigentlichen Kristallisationspunkt der Bewegung wurde aber der NATO-Doppelbeschluß. Nachdem der damalige SPD-Bundeskanzler 1977 eine "Raketenlücke" bei den Raketen mittlerer Reichweite zu entdecken meinte und die Stationierung der Neutronenbombe in Europa, die als erste die zweifelhafte Ehre hatte, die SS-20 ausgleichen zu sollen, am Widerstand einiger europäischer Regierungen gescheitert war, faßte die NATO am 12.12.1979 den Beschluß, 1983 mit Pershing II und Cruise Missiles "nachzurüsten, falls es bis dahin nicht zu einer Vereinbarung zwischen USA und UdSSR über den Verzicht auf landgestützte Mittelstreckenraketen gekommen sei. Diese Raketen wurden zum Symbol der Kriegsgefahr. Ihre extrem verkürzten Vorwarnzeiten von ca. acht Minuten, die Tatsache, daß sie von der Sowjetunion als strategische Waffen angesehen werden mußten, ihre Zielgenauigkeit und ihre hohe

Verwundbarkeit, die sie eigentlich nur als Erstschlagswaffen brauchbar machte, ließen die Frage aufkommen, ob sie sich noch mit der offiziell behaupteten defensiven Strategie vereinbaren ließen oder ob sie Mittel zur Vorbereitung eines Dritten Weltkrieges waren.

Doch an diesem Punkt, so scheint es im Rückblick, ist uns in der Analyse vielfach ein Fehler unterlaufend: die schreckliche Vision eines atomaren Holocaust ließ in den Hintergrund treten, daß die Entwicklung der Strategie in den USA und bald auch in der gesamten NATO einen führbaren und gewinnbaren Krieg eher auf dem Wege der Konventionalisierung und der Integration aller Waffentypen statt auf dem Wege eines "großen", wenn auch auf Europa begrenzten atomaren Schlagabtausches ansteuerte. Besonders deutlich wird dies schon in AirLand Battle, seit 1982 offizielle Kriegsführungsstrategie des US-Heeres (festgeschrieben im Field Manual 100-5) und der AirLand Battle-Variante FOFA (Follow-on-Forces-Attack, Schlag in die Tiefe), die 1984 zum offiziellen Element der Flexiblen Reaktion wurde. Nicht nur sieht AirLand Battle (und FOFA) den gleichzeitigen Einsatz konventioneller, chemischer und atomarer Systeme mit elektronischer Unterstützung vor, sondern ihr aggressiver Charakter wird deutlich mit der Ausweitung des Schlachtfeldes in der Gegenoffensive auf das gegnerische Hinterland, wo Infrastruktur und Militäreinheiten, die noch nicht im Kampfeinsatz stehen: vernichtet werden sollen.

Pershing II und Cruise Missiles hatten hierbei nicht nur Vorteile: Neben ihren rein technischen Mängeln war es wohl vor allem ihre extreme Verwundbarkeit als Iandgestützte Systeme, die sie vielleicht auch ohne INF-Abkommen irgendwann verschrottungsreif gemacht hätte: Ihre Hauptfunktion zumindest in den Augen der Europäer war sowieso immer eine politische gewesen: Sie waren der letzte V ersuch der europäischen NATO-Partner, die USA und Europa anzukoppeln.-(Unter Ankoppelung wird verstanden, daß die Verbündeten der USA den Anspruch auf "gleiche Sicherheit'' gegenüber den USA selbst haben wollen, was militärisch-operativ den frühzeitigen Er-steinsatz (early first use) von Atomwaffen bedeutet.) Die Politik der Amerikaner strebt hingegen seit längerer Zeit eher hin zur Abkoppelung, wovon die "Strategische Verteidigungsinitiative'' (SDI) neben anderem Zeugnis ablegt.

US-Gesamtstrategie
Die militärstrategische Abkoppelung wird nirgends deutlicher als in dem Bericht "Discriminate Deterrence ("Differenzierende Abschreckung"), einem Entwurf einer US-Expertengruppe für eine Gesamtstrategie der USA bis ins Jahr 2010, der Anfang diesen Jahres publiziert wurde. Er versucht, die bestehenden Strategien der einzelnen Teilstreitkräfte der USA (u.a. AirLand Battle, SDI, Marine Strategy), die derzeit noch ziemlich unkoordiniert nebeneinanderstehen, zu einem Gesamtkonzept zusammenzubauen. "Discriminate Deterrence" erklärt weiterhin das weltpolitische Geschehen aus dem Ost-West-Konflikt heraus, hält aber einen Angriff der UdSSR auf Westeuropa für extrem unrealistisch und legt daher sein Hauptgewicht auf Konflikte in der sog. "Dritten Welt".

In Europa soll konventionell aufgerüstet werden (vergl. Rogers-Plan), um Angriffe des WV O in einer zeitgleich erfolgenden Gegenoffensive' zurückzuschlagen; für die "Dritte Welt" heiß! das Stichwort "Low Intensity Conflict'' (Konflikt niedriger Intensität). LIC ist ein Sammelbegriff für diverse Operationen der USA gegen alles, was ihre ökonomischen oder politischen Interessen gefährdet - von kommunistischen Untergrundbewegungen bis zu Regierungen, die sich kritisch gegenüber dem Weltwirtschaftssystem zeigen. Die Methoden reichen von Counter-Insurgency ("Aufstandsbekämpfung"), Ausbildung und Finanzierung von Contras, Terrorismusbekämpfung bis hin zu eng begrenzten militärischen Operationen der eigenen Truppen als letztes Mittel, falls alle "weicheren" Methoden versagen (mensch denke an Grenada).

Zusammenfassung
Die in dieser Rückschau vertretene These sagt, daß wir es mit einer etwa zehnjährigen Kontinuität in der Veränderung der militärstrategischen Planungen weg von der Abschreckung durch gegenseitige Zerstörung hin zu einem führbaren und gewinnbaren Krieg in Europa und dem gleichzeitigen offenerem Eingeständnis, daß das Hauptinteresse mehr in der "Dritten Welt" als in Europa liegt, zu tun haben. Das INF-Abkommen von 1987 ist sicherlich Grund zur Freude - immerhin werden vier Prozent der Atomwaffen, und nicht die ungefährlichsten dieser Waffengattung, abgerüstet, aber es gibt keinen Grund zu glauben, daß sich deshalb an den militärischen Strategien etwas geändert habe. Es bleibt nur zu hoffen, daß die Friedensbewegung ihren zehnjährigen Geburtstag in wieder alter Frische erlebt.
 

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.