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Konferenz: Der Afghanistankrieg der NATO
Eine vorläufige Bilanz der Friedensbewegung zu Afghanistan
vonAm 31.Oktober fand unter den schwierigen Bedingungen der Corona-Einschränkungen eine von wichtigen Friedensorganisationen getragene (hybride) Veranstaltung statt, mit etwa 200 Teilnehmer*innen insgesamt, davon 70 persönlich präsent im Frankfurter Gewerkschaftshaus. Hier ein - notwendigerweise summarischer - Bericht. Die ausführliche Online-Dokumentation ist inzwischen abrufbar.
Lange angekündigt, aber dann doch ziemlich abrupt zogen die USA und dann auch die verbündeten NATO-Regierungen Ende August 2021 ihre Interventionstruppen nach 20 Jahren aus dem Land am Hindukusch ab, darunter auch die deutsche Bundeswehr. Ganz allgemein wurde anlässlich des hastigen Abzugs der NATO-Truppen und der prompten Machtübernahme der so lange militärisch bekämpften islamistischen Taliban von einem Debakel gesprochen – allerdings aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Während NATO-Regierungskreise an Aufrüstung und militärischen Auslandseinsätzen – sprich Kriegen – festhalten wollen, nur eben mit adäquateren Strategien und Waffen, sieht die Friedensbewegung ihre schon vor 20 Jahren geäußerten Warnungen, Proteste und ihre grundsätzliche Ablehnung solcher Interventionen voll bestätigt.
Um die Analysen zu den fatalen Wirkungen des NATO-Krieges in Afghanistan aus den verschiedenen Blickwinkeln zusammenzutragen und öffentlich zu präsentieren, lud eine breite Koalition, darunter die IPPNW, für den 31. Oktober 2021 zu einer Konferenz ins Frankfurter Gewerkschaftshaus – und virtuell ins Internet – ein.
Willi van Ooyen, seit langem bewährter Organisator der Friedensbewegung, eröffnete die Tagung mit dem Hinweis, dass dies eine erste Bewertung des NATO-Krieges sein werde – von einer Position aus, die Sicherheit nicht als militärische Kategorie verstehe, sondern bei der es um soziale Sicherheit, Ernährungssicherheit, Umwelt- und Klima-Sicherheit für die Menschen ginge. Für diese Sicherheiten sei eine sozial-ökologische Transformation unabdingbar, die ohne Frieden und Abrüstung nicht zu erreichen sein werde.
Grußworte wurden (virtuell) von Malalai Joya gesprochen, frühere Kabuler Parlamentsabgeordnete und mutigen Verfechterin von demokratischen und Frauen-Rechten, die sich dezidiert ebenso gegen den NATO-Krieg wie gegen die Despotie der Taliban aussprach; sowie am Saal-Mikro von der früheren SPD-Bundestagsabgeordneten Christa Lörcher, die 2001 als einzige SPD-MdB die Zustimmung zum Kriegseintritt der Bundeswehr und damit die Vertrauenserklärung für Kanzler Schröder verweigert hatte.
Dann sprach der aus Afghanistan stammende Marburger Politologe Dr. Matin Baraki, der alljährlich sein Herkunftsland besucht, dort aktuelle Informationen einholt und kleine Hilfsprojekte betreibt. Baraki schilderte in sehr konzentrierter Form die seit 40 Jahren geführten (Interventions-) Kriege in Afghanistan und den 1978 von der „Demokratischen Volkspartei Afghanistans“ mit Unterstützung der Armee herbeigeführten Umsturz. Dem folgten damals einerseits Modernisierungs-Reformen der noch feudalistischen gesellschaftlichen Strukturen – etwa Alphabetisierungskampagnen, Frauenrechte, Bodenreform zugunsten der Landlosen - andererseits heftige Machtkämpfe der verschiedenen Fraktionen, bis hin zu mörderischen Auseinandersetzungen. (Anmerkung M.J.: Schließlich griff die Sowjetunion 1979 mit dem dann erfolgten Einmarsch der Roten Armee ein, stürzte den amtierenden Präsidenten Amin und zog erst 1989 unter Präsident Gorbatschow wieder ab.) Schon vor dem Einmarsch der Sowjetunion hatte die US-Regierung, beraten von Zbigniew Brzezinski, und ihr Alliierter Pakistan damit begonnen, die Kämpfer der Mudschaheddin, später auch der Taliban, massiv aufzurüsten.
Nach ihrem Sieg über die Regierung von Mohammad Najibullah 1992 kam es zunächst zu erbitterten Kämpfen verschiedener Mudschaheddin-Organisationen in der Hauptstadt, die erst durch den Sieg der Taliban in weiten Teilen des Landes beendet wurden. Allerdings zeigte sich das Taliban-Regime dann widerspenstig, etwa bei der Genehmigung einer von US-Konzernen geplanten Pipeline, und schließlich nach den Terroranschlägen des 9. September 2001 auch bei dem Begehren der US-Regierung, den saudischen al-Qaida-Chef Bin Laden ohne förmliches, durch Beweise gestütztes Verfahren, an die USA auszuliefern. Am 7. Oktober 2001 begann mit Luftbombardements der US-Streitkräfte das nächste Kapitel des Afghanistan-Krieges, welches bis 2021 fortgeführt wurde. Baraki erinnerte an die dunkelsten Episoden der NATO-Intervention, etwa das Massaker in der Kundus-Region, das 2009 durch das Bombardement auf Befehl des deutschen Bundeswehr-Oberst Klein etwa 130 afghanischen Bewohnern das Leben kostete, als diese sich aus havarierten Tanklastwagen mit Brennstoff versorgen wollten. Dies habe zu einer massiven Verschlechterung der Beziehungen zur örtlichen Bevölkerung geführt – die deutschen Soldatinnen und Soldaten bewegten sich zunehmend nur noch in gepanzerten Fahrzeugen in ihrem Stationierungsgebiet.
Die politische und soziale Entwicklung in seinem Herkunftsland in der Zeit der NATO-Besetzung beurteilte Baraki sehr kritisch – die Teilnahme an den allgemeinen Wahlen sei mit etwa 1 Million Voten (bei einer Bevölkerung von rund 37 Millionen Bewohnern des Landes) sehr eingeschränkt gewesen, die reale Macht habe weitgehend bei korrupten „Warlords“ gelegen. Weder die gut ausgerüsteten Regierungs-Streitkräfte, noch die mit Drogenbaronen durchsetzte Zentralregierung seien zu nachhaltigem Widerstand gegen die Taliban bereit gewesen, die in weiten ländlichen Regionen bereits gut verankerte Strukturen entwickelt hatten.
Der Völkerrechtler Prof. Dr- Norman Paech stellte in präziser Weise die äußerst fragwürdige rechtliche Legitimation der westlichen Militärintervention dar. Claudia Haydt befasste sich mit den realen Interessen der deutschen Entscheidungsträger und verwies dabei als Motiv auf die Rohstoffschätze Afghanistans – unter anderem Lithium, bekanntlich ein gerade für Elektromobilität äußerst wichtiges Metall, das in Afghanistan in großer Quantität erwartet wird.
Einen wichtigen Beitrag zum Versuch einer rechtlichen Verarbeitung, gerade auch der Verbrechen gegen zivile Opfer, hat der in Deutschland arbeitende, aus Afghanistan stammende Anwalt Karim Popal geleistet. Eine Sisyphusarbeit: Er musste feststellen, dass bis hin zum Bundesgerichtshof und zum Europäischen Gerichtshof keine Bereitschaft besteht, die Akteure von NATO-Massakern gegen die Zivilbevölkerung rechtlich zur Verantwortung zu ziehen. So sollten die Angehörigen der Kundus-Opfer mit einem viel zu geringen „Schmerzensgeld“ abgespeist werden.
Auch Joachim Guilliard musste bei seinen Recherchen feststellen, dass Militärs und Regierungsstellen offiziell wenig Interesse an der Erfassung und Dokumentation der Opferzahlen, insbesondere unter der Zivilbevölkerung, aufbringen. Guilliard hat Analogien und Plausibilitätsüberlegungen anhand vorliegender Daten herangezogen und ist so zu einer Schätzung der Opferzahlen unter der afghanischen Bevölkerung gelangt: Er geht von mindestens 800.000 durch Kriegseinwirkung getöteten Afghaninnen und Afghanen aus. Da wird aus einem „Krieg gegen den Terror“ der Terror des Krieges.
Diese eintägige Konferenz hat eine ganze Fülle von Material und Argumenten geliefert. Hervorheben möchte ich noch die Teilnahme von Stefan Recker, der seit 2004 für europäische Hilfsorganisationen in Afghanistan gearbeitet hat, zuletzt als Projektkoordinator von Caritas International. Sein Votum war eindeutig: Wege zu suchen, den notleidenden Menschen vor Ort Unterstützung zu bieten, unabhängig von eigenen Macht- und Einflussinteressen.
Eine Dokumentation der Tagung findet sich auf https://www.kultur-des-friedens.de/afghanistankonferenz/dokumentation.html