Frauen

Elf Jahre Militäreinsatz, elf Jahre internationale Afghanistanpolitik – Durchbruch oder Fehlschlag für Frauenrechte in Afghanistan?

von Jessica Mosbahi

Mit dem Fall der Taliban 2001 beginnt auch die Arbeit von medica mondiale in Afghanistan zunächst mit dem Aufbau eines Schutzhauses, bald mit einem breit angelegten Programm zur Unterstützung afghanischer Frauen: Psychosoziale Beratung, Rechtshilfe und natürlich Menschenrechtsarbeit. 2010 entstand daraus die selbständige, afghanische Frauenorganisation Medica Afghanistan – Women Support Organisation, die sich seither kompromisslos für die Rechte afghanischer Frauen einsetzt.

Der Aufbau eines reinen Frauenprojektes, gekoppelt an ein öffentliches politisches Engagement afghanischer Frauen, war vor 2001 undenkbar gewesen. Nach dem Sturz der Taliban aber gab es das berühmte „Window of Opportunity“, Chancen also, Afghanistan endlich einer friedlichen Zukunft zuzuführen und eine Entwicklung voranzutreiben, die das Land auch für seine Frauen zu einem gerechteren und lebenswerteren Ort machen würde.

Frauenrechte in Afghanistan heute
Heute, mehr als zehn Jahre später, gibt es noch immer keinen Frieden in Afghanistan und auch keine Gerechtigkeit für die Frauen und Mädchen des Landes. Im Gegenteil, die Gewalt gegen Frauen ist nach wie vor extrem hoch. Seit Anfang 2012 nehmen Fälle von Folter und Gewaltakten laut Medica Afghanistan sogar zu. Besonders brutale Fälle, wie der der 30-jährigen Serata, die vor den Augen ihrer Kinder von ihrem Ehemann geköpft wurde, gingen weltweit durch die Medien und schockierten die Welt. Seratas Vergehen: Sie hatte sich nach zehn Jahren von ihrem gewalttätigen Ehemann scheiden lassen.

Die aufsehenerregende Aufsehen Tat darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Verbrechen dieser Art in Afghanistan an der Tagesordnung sind. Die unabhängige afghanische Menschenrechtskommission berichtet, dass es allein im April und Mai dieses Jahres 16 Fälle von sogenannten Ehrenmorden gab, für das gesamte Jahr 2011 waren es 20.(1)

Diese Horrormeldungen machen vor allem eines klar: Die viel beschworene „Befreiung“ der afghanischen Frau von Gewalt und Unterdrückung, die von der internationalen Gemeinschaft als ein wesentlicher Grund für die militärische Intervention in Afghanistan angeführt wurde, ist gescheitert. Und es darf stark bezweifelt werden, ob diese „Befreiung“ und auch die Demokratisierung je ernsthafte Ziele internationaler Afghanistanpolitik gewesen sind.

Der Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen, der Schutz der Menschenrechte und die Stärkung der afghanischen Zivilgesellschaft standen jedenfalls von Anfang an im Schatten der Terrorbekämpfung und anderer, der Öffentlichkeit weitgehend unbekannter Interessen. Die anfänglich schnellen militärischen Erfolge gegenüber den Taliban beflügelten die USA und ihre Verbündeten und bestätigten sie in der Annahme, dass ein möglichst hartes militärisches Vorgehen das einzig probate Mittel im Kampf gegen unbeugsame Aufständische und zur Befriedung des Landes sei. Von Frauenrechten und Demokratie war schon bald nicht mehr die Rede.

Diese militärisch ausgerichtete Politik schlug sich auch in Zahlen nieder. So flossen zwischen 2002 und 2010 mehr als 29 Milliarden US-Dollar in den Aufbau der afghanischen Armee und Polizei. Also mehr als die Hälfte der gesamten internationalen Hilfe für Afghanistan in diesem Zeitraum. (2)

In der Sache spricht nichts gegen den Aufbau einer afghanischen Polizei. Vielmehr könnte die Arbeit einer gut funktionierenden, an rechtsstaatlichen Prinzipien orientierten Ordnungsmacht auch zum Schutz afghanischer Frauen vor Gewalt beitragen. Allerdings nur unter zwei Bedingungen: Erstens, die Polizei wird zum Schutz der Zivilbevölkerung eingesetzt und nicht überwiegend zur Terroristenbekämpfung im Land. Und zweitens, die rekrutierten Polizisten erhalten eine Ausbildung, die des Wortes auch würdig ist. Beides war in Afghanistan bislang nicht der Fall und führte in der Folge zum Aufbau einer Polizei, vor der sich die afghanische Bevölkerung mehr fürchtet als vor den Taliban. (3)

Mit der Vorstellung afghanischer Frauen und Mädchen von Sicherheit deckte sich diese Strategie jedenfalls nicht. Deren Bewegungsfreiheit wird heute mehr denn je durch die Sicherheitskräfte eingeschränkt; dazu zählen auch lokale Polizeimilizen, die wie im Fall Lal Bibi durch Entführungen und Vergewaltigungen auf sich aufmerksam machen. (4)

Hinzu kommt, dass in Afghanistan bis heute weitgehend Straflosigkeit für geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen herrscht. Auch, weil der Aufbau des Justizsektors von der internationalen Gemeinschaft jahrelang vernachlässigt wurde. Das Ergebnis: Korrupte und schlecht ausgebildete Richter legen Gesetze zum Schutz von Frauen nach ihrem Gutdünken aus oder wenden sie erst gar nicht an. So landen Frauen, die vergewaltigt wurden, meist selbst im Gefängnis und werden wegen Ehebruchs angeklagt.

Der vermeintliche Strategiewechsel
Obwohl sich die Sicherheitslage in Afghanistan seit 2006 stetig verschlechtert hat, haben die Truppen-stellenden Staaten bislang unbeirrt an ihrer Sicherheitspolitik festgehalten. 2010 erklärten die USA und ihre Verbündeten, der Krieg in Afghanistan sei nicht militärisch, sondern nur politisch zu gewinnen und verkündeten vollmundig einen Strategiewechsel. (5) Doch es blieb bei leeren Versprechungen: Eine kohärente zivile Strategie, einschließlich der Stärkung der afghanischen Zivilgesellschaft, der Förderung des Staats- und Justizaufbaus sowie der gleichberechtigten Teilhabe afghanischer Frauen an allen Friedens- und Sicherheitsprozessen, lässt bis heute auf sich warten. Stattdessen einigte sich die internationale Gemeinschaft lediglich darauf, neben der Fortführung der Aufstandsbekämpfung den eingeschlafenen Friedensprozess durch Gespräche zwischen den USA und den Taliban wiederzubeleben und schloss dabei die Zivilgesellschaft weitestgehend aus.

Wie weiter nach 2014?
Trotz all dieser Versäumnisse gibt es aber auch Errungenschaften, die es nun zu wahren gilt.

Zu einer der größten zählt sicherlich die Wiederbelebung der afghanischen Zivilgesellschaft, zu der auch die zahlreichen afghanischen Frauenaktivistinnen gehören. Seit dem Sturz der Taliban kämpfen sie – allen patriarchalen Widerständen zum Trotz – in der Hauptstadt Kabul, aber auch in abgelegenen Provinzen, für die Durchsetzung ihrer Rechte, sei es in Parlamenten, in Frauenschutzhäusern oder Netzwerken. Dennoch realisiert die internationale Politik immer noch nicht, dass es diese Zivilgesellschaft ist, von der die Zukunft Afghanistans maßgeblich abhängt. Denn wer sonst sollte das Gegengewicht zu einem nicht-funktionierenden Staatsgebilde in dem kriegsgebeutelten Land darstellen?

Spätestens Ende 2014 sollen alle internationalen Kampftruppen aus Afghanistan abgezogen sein. Sicherheit und Stabilität haben sie den afghanischen Frauen und ihrem Land nicht bringen können. Umso schwerer wiegt die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, vor ihrem Rückzug endlich die richtigen Weichen zu stellen.

Im Klartext: Wenn die internationale Staatengemeinschaft ihre gebetsmühlenartig wiederholte Aussage, sie werde Afghanistan und seine Menschen auch nach 2014 nicht im Stich lassen, auch nur ansatzweise ernst meint, dann muss sie ihre Politik endlich an den realen Bedürfnissen afghanischer Frauen und Männer ausrichten.

Das hieße dann auch, dass die auf der Tokio-Geberkonferenz im Juli zugesagten 16 Milliarden USD für die kommenden drei Jahre (6) künftig in die bislang vernachlässigten Sektoren der Justiz, Verwaltung und Menschenrechte fließen müssen.

Beleg dafür, dass diese Erwartungen mit hoher Wahrscheinlichkeit unerfüllt bleiben, ist das Abschlussdokument der NATO-Konferenz in Chicago im Juni 2012. Darin wurde u. a. behauptet, dass sich die Professionalität der afghanischen Polizei erheblich verbessert habe. (7) Keine afghanische Frau konnte der Absurdität dieser Aussage widersprechen, denn nicht eine einzige Afghanin war zur Konferenz eingeladen, wie auch kein männlicher Vertreter der afghanischen Zivilgesellschaft – obwohl es doch um die Sicherheit des afghanischen Volkes gehen sollte.

Anmerkungen
1 Vgl. Harooni, Mirwais, Women, children beheaded in Afghan „honor killing“, Reuters, 4. Juli 2012, einzusehen unter: http://uk.reuters.com/article/2012/07/04/uk-afghanistan-honourkilling-id....

2 Vgl. International Crisis Group (a), Aid and Conflict in Afghanistan, Asia Report N° 210, August 2011, S. I, einzusehen

unter: www.crisisgroup.org/~/media/Files/asia/south-asia/afghanistan/210%20Aid%....

3 Vgl. United States Institute of Peace, Afghanistan’s Police. The Weak Link in Security Sector Reform, Special Report, August 2009, S. 7f, einzusehen unter: www.usip.org/files/afghanistan_police.pdf. Die Ausbildung afghanischer Polizisten dauert lediglich acht Wochen und legt nach wie vor einen zu starken Fokus auf die Terrorbekämpfung. Vgl. Project 2049 Institute, The Police Challenge: Advancing Afghan National Police Training, 13. Juni 2011, einzusehen unter: www.project2049.net/documents/police_challenge_advancing_afghan_national...

4 Siehe hierzu den Fall der 18-jährigen Lal Bibi. Vgl. Rubin, Alissa J., Rape Case, in Public, Cites Abuse by Armed Groups in Afghanistan, New York Times, 1. Juni 2012, einzusehen unter: www.nytimes.com/2012/06/02/world/asia/afghan-rape-case-is-a-challenge-fo....

5 Vgl. Nordland, Rod, Afghanistan Strategy Focuses on Civilian Effort, New York Times, 8. Juni 2010, einzusehen unter: www. nytimes.com/2010/06/09/world/asia/09kandahar.html?pagewanted=all.

6 Vgl. Süddeutsche Zeitung, Konferenz in Tokio: Geberländer sagen Afghanistan 16 Milliarden Dollar zu, 8. Juli 2012, einzusehen unter: www.sueddeutsche.de/politik/konferenz-in-tokio-geberlaender-sagen-afghan....

7 Vgl. Chicago Summit Declaration on Afghanistan, einzusehen unter: www.nato.int/cps/en/natolive/official_texts_87595.htm.

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Jessica Mosbahi, LL.M (Kapstadt) ist Referentin für Menschenrechte und Politik bei der internationalen Hilfs- und Frauenrechtsorganisation medica mondiale e.V. Spendenkonto: medica mondiale e. V., Sparkasse KölnBonn, BLZ 370 501 98, Konto-Nr. 45 000 163. Oder spenden Sie online unter: www.medicamondiale.org.