Europa ohne Armee

Entmilitarisierung bleibt der Hebel für eine neue Entwicklungsrichtung Europas

von Ingo Arend

Die Umbrüche in Europa haben mit unabweisbarer Dringlichkeit die Frage nach den Umrissen eines neuen europäischen Friedensordnung auf die politische Tagesordnung gestzt. Die SPD diskutiert unter anderem über eine eigenständige deutsche Armee. Bei seinem letzten Polen-Besuch setzt Kanzlerkandidat Lafontaine noch eine überraschung drauf und warb - nach dem Muster der deutsch-französischen Brigade - für eine deutsch-polinische Brigade, so als ob die deutsch-polnische Aussöhnung am beseten mit den Kommißstiefeln zu bewerkstelligen sei. Das ist überhaupt das Charakteristikum der SPD-Forderungen, das sie sich noch nicht genügend über den militärischen Begründungszusammenhang hinauswagen.

Die Errichtung einer neuen Militäreinrichtung in Form einer "Europäischen Verteidigungsgemeinschaft", oder die entsprechende Erweiterung der EG durch militärische Strukturen sowie die Etablierung eines Systems kollektiver Sicherheit, all das verlässt noch nicht erkennbar genug die Bahnen herkömmlicher Verteidigungspolitik, die nur in den auf Feindbildern beruhenden Kategorien wechselseitig angedrohter Vernichtung denken konnte. Eine EVG ohne Sowjetunion, USA und Kanada als Mitglied, liefe zudem Gefahr, eine dritte Nuklearmacht unter deutscher Hegemonie zu werden. Solange nicht die Nuklearwaffen in Europa generell abgeschafft sind, droht mit einer EVG eine europäische Neuauflage und Fortschreibung der Abschreckungspolitik. Notwendig ist dagegen ein radikaler Rüstungsschnitt auf dem alten Kontinent - nuklear wie konventionell. Dazu gehört auch die sofortige Abschaffung der britischen und französischen Nuklearwaffen.
Mit Verlaub: Solche Ideen sind nur schwer mit den SPD-Forderungen nach Denuklearisierung und schließlich Entnuklearisierung Europas in Einklang zu bringen. Stattdessen brauchen wir die Installierung eines Systems politischer Friedenssicherung. Dies kann durch die Institutionalisierung des KSZE-Prozesses in den Bereichen Politik, Ökonomie, Wissenschaft, Bildung und Kultur erreicht werden. Nur dieser Prozeß, parallel zu konsequenter Abrüstung kann die Militärbündnisse überflüssig machen und muß schleunigst eingeleitet werden. Defensive Umorientierungen der Armeen können nur ein Zwischenschritt sein.
Notwendig erscheit stattdessen eine sofortige, international kontrollierte Abschaffung von Bundeswehr und Nationaler Volksarmee in Form eines gemeinsamen Abrüstungs - Pilotprojektes von KSZE und UNO. Die noch bestehenden Militäreinrichtungen in beiden deutschen Staaten sollten unter eine neu zu errichtende europäische Agentur für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Konversion bei der KSZE-Konferenz. Statt einer europäischen Armee erscheint die Einrichtung einer muluinational kontrollierten, zivilen Konfliktlösungseinheit unter der Verantwortung eines KSZE-Konfliktzentrums sinnvoll.
Außerdem muß in einer neuen deutschen Verfassung auch ein deutscher Atomverzicht und die Abschaffung der Wehrpflicht verankert werden. Darüber sollten die beiden deutschen Staaten unverzüglich entsprechende Verhandlungen aufnehmen. Damit könnten sie ihrer besonderen historischen Friedensverantwortung in Europa gerecht werden. Die bevorstehendende deutsch-deutsche Vereinigung macht diese neue europäischen Aufgabenstellungen nicht überflüssig. Im Gegenteil. Eine deutsche Schrittmacherrolle in diesem Bereich könnte zugleich die Angst vor einem geeinten deutschen Militär- und Wirtschaftskoloß zerstreuen.
Konkret könnten folgende Institutionen unter der Verantwortung der KSZE eingerichtet werden:

  • Europäische Umweltbehörde zur Ausarbeitung eines Programms ökologischer Soforthilfe in Osteuropa und eines ökologischen Umbaus der europäischen Industrie.
  • Europäische Wirtschafts- und Sozialbehörde, die die Ausarbeitung eines Dringlichkeitsplans zur Beseitigung der ökolomischen und sozialen Sisparitäten in Euripa übernimmt.
  • Europäische Konfliktlösungseinheit, die - etwa bei nationalistischen Unruhen - schlichtende Funktionen wie die UNO-Friedenstruppen ausüben könnte. Parallel zu ihrer Aufstellung sollte ein Plan zur Reduzierung der restlichen europäischen Armee aufgestellt werden.
  • Europäische Behörde für friedliche Entwicklung, die die Ausarbeitung eines Programms zur schrittweisen Einführung einer gerechten Weltwirtschaftsordnung gemeinsam mit den Staaten der südlich Hemisphäre erarbeitet.

Als Sofortmaßnahmen sollten eine Wehrdienstverkürzung auf neun Monate, einen Stop der großen Rüstungsprojekte wie Jäger 90 und das Verbot aller Rüstungsexportgeschäfte der Bundesrepublik durchgesetzt werden.
Zentraler Punkt der künftigen Auseinandersetzung um die Entmilitarisierung wird es bleiben, keine Aufweichung des atomaren Abrüstungspostulates, das die Freiedensbewegungen erkämpft haben, zuzulassen, etwa im Bereich der luftgestützten Nuklearwaffen. Konsequente Friedenspolitik wendet sich auf diese Weise auch gegen ein gefahrvolles Erstarken der anachronistisch gewordenen Souveränität des bewaffneten Nationalstaates, der im Zeichen transnationaler Verflechtung und Probemstellungen ausgedient hat. Wann, wenn nicht jetzt, besteht die Chance, mit dem Militarismus endgüktig zu brechen. Ein Initialzündung dafür könnte die Abschaffung der deutschen Armeen geben. Parallel dazu brauchen wir eine "Initiative Europa ohne Armeen (EoA)" vom Atlantik bis zum Ural im Rahmen der europäischen Friedensbewegung END.
 

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt