Ressourcenausbeutung

Entwicklung, Gewalt und spontaner Widerstand

von Anand Mazgaonkar

Entwicklung ist die neue Religion, der eine überwältigende Mehrheit der Nationalstaaten anhängt. Sie ist das neue Gesicht einer Theokratie des 21. Jahrhunderts. Neue „religiöse“ Schriften ordnen an, dass Wachstum nach unten durchsickern wird. Und das ist eine Sache des Glaubens, nicht der  Vernunft oder empirischer Beweise. Ausgerüstet mit dieser Vorstellung konkurrieren verschiedene Regierungen miteinander bei dem Bemühen, Investitionen von Unternehmen anzulocken, egal, ob sie dafür politische Prioritäten neu ordnen, lokale Gesetze verändern, hohe öffentliche Ausgaben umleiten, um Infrastruktur zu schaffen, und massive Förderung für „ausländische Investoren“ bereitstellen müssen. Fragen zu stellen ist Blasphemie.

Regierungen aller Färbungen und Überzeugungen schließen sich dieser neuen Religion an. In der Tat sind Demokratie und kapitalistische Vetternwirtschaft eine wahnsinnig gesunde Allianz. Regierungen können vorgeben, „allen Menschen“ gegenüber verantwortlich zu sein, während sie ungehemmt den Interessen von Unternehmen dienen. Die echte Definition von „Rohstoffindustrie“ schließt ein:

  • Bergbauunternehmen
  • Unternehmen, die Land, Wasser, Wälder ausbeuten
  • Regierungsgesetze, Politik, Maßnahmen, die das Recht auf Leben, Unterhalt, d.h. das Überleben selbst der arbeitenden Menschen bedrohen – Bauern, UreinwohnerInnen, Fischer, Fabrikarbeiter und jede/r, die/der nichtbezahlte manuelle Arbeit leistet.

Es ist aus zwei Gründen essentiell, Regierungsgesetze und –politik als Rohstoffindustrie zu bezeichnen, denn die Größe der Operation und die Rolle heutiger Regierungen dienen als willfähriges Instrument in den Händen von Unternehmen. In Indien gibt es z.B. fremdartige Gesetze, die nicht nur Transparenz und die Rechte der Menschen beschneiden, sondern diese vorbeugend völlig unterdrücken. Dazu gehört das Biotechnik-Gesetz (1), das für alle eine Haftstrafe vorsieht, die über Biotechnik „falsch informieren“. Das Wasser/Wasserzuteilungsgesetz (2) bestraft Bauern und Viehhüter für etwas, was eigentlich völlig normale Aktivitäten sind. Andere Gesetze schaffen spezielle Enklaven für Firmen, die außerhalb der Rechtsetzung der gewählten Körperschaften sind. Ein Gesetz über Verantwortung bei der Nutzung von Atomenergie (3) schafft Auswege für Lieferanten für die Atomindustrie, anstatt ihre Verantwortung zu regeln. Diese Gesetze werden genutzt, um Kritik an den Machenschaften von Unternehmen zu unterbinden, seien es Biotechnologie-Firmen wie Monsanto, Zulieferer für Atomenergie wie General Electric, Westinghouse, Areva etc. oder Wasserversorgungsunternehmen, die Zugriff auf diese privatisierte natürliche Ressource bekommen haben.  

Die Kontrolle der Unternehmen erstreckt sich heute nicht nur über deren Operationen, sondern besteht in den Korridoren der Regierung und über große Teile des Landes. Wir hatten zuerst Spezielle Wirtschaftszonen, die von Steuern, Arbeitsschutzgesetzen und politischer/öffentlicher Kontrolle ausgenommen waren. Jetzt haben wir viel größere Spezielle Investitionsregionen, die zwischen 100 und 1000 Quadratkilometer groß sein können. Dort können Unternehmen unbehindert tätig werden.

„Entwicklung“ bedeutet daher für diejenigen, die das Unglück haben, am falschen Ende zu sein (und das sind über 80% der Bevölkerung):

  • Vertreibung (rund 30-50 Millionen Menschen sind in den letzten 60 Jahren wegen „Entwicklungs“-Projekten des unabhängigen Indiens vertrieben worden
  • Enteignung (mindestens 60% der Vertriebenen sind Ureinwohner)
  • Verlust von Arbeit (Bauern, Fischer, Ureinwohner, Fabrikarbeiter, die ihre traditionelle Beschäftigung verlieren und oft in sklavenähnlichen Bedingungen enden)
  • Entmenschlichung (Landbevölkerung, die in Slums und Shanty Towns enden und dort „illegal“ leben)
  • Tod (rund 250.000 Bauern haben in den letzten 15 Jahren wegen ihrer Schuldenlast Suizid begangen)

Der Widerstand derjenigen, die mit Vertreibung oder Enteignung bedroht sind, wird vom Staat versucht zu unterdrücken, indem er die AktivistInnen als „EntwicklungsgegnerInnen“ und „anti-national“ bezeichnet, falsche Anklagen gegen AktivistInnen und Betroffene betreibt, versucht, ihre Infrastruktur zu zerstören, ihre UnterstützerInnen zu belästigen, das Bild der „ausländischen Hand, die gegen die Entwicklung des Landes arbeitet“ zu erwecken, usw. Die neue rechte Regierung, die im Mai 2014 an die Macht kam, hat die widerständischen AktivistInnen und Volksbewegungen für 3 % Schaden am Bruttoinlandsprodukt verantwortlich gemacht (so ein durchgesickerter Geheimdienstreport).

Die Gewalt und Unterdrückung durch den Staat ist kein Merkmal irgendeiner besonderen Ideologie oder politischen Partei. Es gibt einen breiten Konsens zwischen allen etablierten politischen Parteien, einen fundamentalistischen neo-liberalen Pfad der industriellen Entwicklung zu beschreiten. Dies ist auch gewöhnliche Praxis in allen Staaten (Provinzen), in denen verschiedene politische Parteien regieren.

Die Gewalt des Staates hat folgende Dimensionen:

  • offene, sichtbare Gewalt: sie resultiert in Vertreibung, Enteignung und Verlust von Arbeit
  • indirekte Gewalt: die Schaffung von Bedingungen, indem Löhne in der Landwirtschaft oder anderer Arbeit so gesenkt werden, dass die Landbevölkerung in die Städte getrieben wird
  • unsichtbare, systemische Gewalt: Gesetze, Regeln, Politik, Unzugänglichkeit der Bürokratie
  • letztlich, dass die Unterdrückten anfangen zu glauben, dass sie selbst an ihrer Not Schuld haben.

All dies hat ernste Folgen für das Leben der Menschen und für die Gesellschaft. Die Merkmale der heutigen Zeit sind:

  • Satelliten- und Dienstleistungswirtschaft – anstatt Herstellung von Grund-Bedarfsmitteln
  • Bezahlen und Nutzen: Nur diejenigen, die die Mittel dafür haben, haben das Recht auf und Zugang zu Dienstleistungen
  • Verallgemeinerung der Normen und des Lebensstils der Mittelschicht, die nicht realisierbaren Träumen nachjagt
  • Veränderung der Sprache, Gleichbleiben der Realität: Lippenbekenntnisse werden zu Modewörtern wie „nachhaltige Entwicklung“, Teilhabe“, Menschenrechte“, „Gerechtigkeit“ abgelegt
  • Ein alarmierendes Fehlen von Sensibilität für die wachsende Gewalt und Ungleichheit
  • Menschen gegen Menschen: Ein Teil der unterdrückten Armen wird gegen einen anderen Teil aufgehetzt
  • Die Medizin ist schlimmer als die Krankheit: Knappe Ressourcen wie Wasser, Land usw. werden privatisiert, um „die Dienstleistungen zu verbessern“
  • Dämonisierung: Die Gewalt vom System wird geleugnet oder ignoriert, Selbst-Verteidigung durch die Armen führt dazu, dass sie als „anti-national“, „anti-Entwicklung“, als Maoisten, Terroristen usw. dämonisiert werden
  • Verlust der Unschuld, wachsende Militanz: Die Menschen verlieren ihren Glauben an die Gewaltfreiheit und beginnen zu denken, dass nur Gewalt und Militanz funktionieren, obwohl dies das natürliche menschliche Wesen zerstört

Die Herausforderungen, denen sich jeder, der gegen die Gewalt des Staates wendet, gegenüber sieht, sind:

  • Diejenigen, die sich organisieren müssen, kämpfen jeden Tag, ihren Lebensunterhalt sicherzustellen
  • Sie sehen sich einer feindseligen aber lautstarken Mittelschicht (urbanisiert, verwestlicht, konsumorientiert, isoliert/nuklearisiert) gegenüber
  • Eine Alternative zu präsentieren
  • Kämpfe werden immer technischer.

Es gibt aber auch Grund zur Hoffnung selbst inmitten dieser allumfassenden Gegnerschaft. Es gibt viele Nester des Widerstands im ganzen Land. Sie finden ihren Platz in den Medien aufgrund der Schwere der Repression – hoffentlich morgen aufgrund ihrer Zahl und Ausbreitung. Widerstand heute ist lokal und oft spontan. Er passiert oft ohne etablierte AnführerInnen oder Ikonen. Das Establishment muss Lippenbekenntnisse zu Wandel ablegen, und es gibt Druck, einen rechtlichen Rahmen für Informationsfreiheit und Transparenz zu schaffen sowie dafür, dass die Stimmen der Menschen gehört werden (auch wenn sie nicht beachtet werden). Und der Staat und die Unternehmen müssen heute oft höhere Entschädigungen zahlen und sich auf Vermittlung bei Problemen einlassen.

 

Anmerkungen
1 The Biotechnology Regulatory Authority Of India Bill, 2013

2 The Gujarat Irrigation and Drainage Act, 2013

3 The Civil Liability for Nuclear Damage Act, 2010

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