Junge Menschen sollen gegen ihren mehrheitlichen Willen „kriegstüchtig“ gemacht werden

Erfassung, Reaktivierung der Wehrpflicht oder gar eine allgemeine Dienstpflicht?

von Christine Schweitzer
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An dem Tag im November, der abends das Aus der Ampelregierung sah, passierte es noch das Kabinett: Ein von Ex-Verteidigungsminister Pistorius entworfenes „Gesetz zum Neuen Wehrdienst“. Es sollte die Wehrerfassung wieder installieren, die es seit der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 nicht mehr gibt.

„Mit dem Neuen Wehrdienst reagiert Deutschland auf die veränderte geopolitische Lage und die Zeitenwende. Die Wiedereinführung der Wehrerfassung und der Wehrüberwachung forcieren den Aufbau einer starken personellen Reserve. Der Neue Wehrdienst betont damit auch den Fokus der Bundeswehr auf die Landes- und Bündnisverteidigung“, so das Verteidigungsministerium. (1) Angelehnt an das schwedische Wehrpflichtmodell sollen lt. Gesetzentwurf alle jungen Menschen vor ihrem 18. Geburtstag erfasst und zu ihrer Bereitschaft und Fähigkeit, Militärdienst zu leisten, befragt werden. Männer müssen den entsprechenden Fragebogen zurücksenden; Frauen sollen es freiwillig tun, da nach dem Grundgesetz nur Männer wehrpflichtig sind. Wer sich im Fragebogen bereit erklärt, zur Bundeswehr zu gehen, soll zu einer verpflichtenden Musterung eingeladen werden. Die Dienstlänge soll zwischen sechs und 23 Monate betragen. Innerhalb von zehn Jahren sollen alle dann ein zweites Mal befragt werden. Bis 2031 soll die Zahl der Soldat*innen von derzeit 180.000 auf 203.000 erhöht und eine Reserve mit derzeit rund 60.000 auf bis zu 260.000 Frauen und Männern gebildet werden. (2) Pistorius machte allerdings auch klar, dass Zwangsverpflichtungen möglich sein sollen, falls die neu anvisierte Personalstärke der Bundeswehr und ihrer Reservist*innen nicht erreicht wird. (3)

Die Vorstellungen der verschiedenen Parteien
Der Gesetzentwurf gehört nicht zu denen, die vor der Wahl noch den Bundestag passierten, denn es war zu erwarten, dass sowohl die FDP (4) wie die CDU (5) ihn ablehnen würden. Hier ist, was in den Wahlprogrammen zu finden ist:

Die CDU möchte eine „echte Wehrpflicht“ und strebt eine Truppenstärke von 203.000 Soldat*innen an. In ihrem Wahlprogramm heißt es: „Wir setzen perspektivisch auf ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr, das wir mit der aufwachsenden Wehrpflicht zusammendenken. So werden wir dem Personalbedarf zur Stärkung unserer Verteidigungsfähigkeit gerecht. Aus dem Kreis der Gemusterten sollen diejenigen benötigten Tauglichen kontingentiert und zum Grundwehrdienst einberufen werden, die ihre Bereitschaft zum Wehrdienst signalisiert haben. Bis zu einer Umsetzung eines Gesellschaftsjahres wollen wir die Freiwilligendienste und den Bundesfreiwilligendienst stärken.“ (6) Das heißt: Sie und auch Teile der SPD (so Bundespräsident Steinmeier) befürworten seit Jahren gar die mittelfristige Einführung einer Allgemeinen Dienstpflicht mit dem beschönigenden Namen „verpflichtendes Gesellschaftsjahr“ für alle Geschlechter.  Zur Bundeswehr eingezogen sollten dann nur diejenigen werden, ‚die die Bundeswehr wirklich braucht‘. Alle anderen sollten dann andere Dienste leisten. (7) Beides würde eine Verfassungsänderung erfordern, für die eine Regierung eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat braucht.

Im Wahlprogramm der SPD ist davon allerdings nichts zu finden. Dort ist von einem „neuen, flexiblen Wehrdienst“ die Rede, also dem ‚Modell Pistorius‘: „Angesichts der veränderten sicherheitspolitischen Lage plant die SPD die Einführung eines neuen, flexiblen Wehrdienstes. Der neue Wehrdienst soll auf Freiwilligkeit basieren und sich dabei am Bedarf der Bundeswehr orientieren. Es müssen zügig die Grundlagen für eine Wehrerfassung geschaffen werden. Der neue Wehrdienst dient zentral dem Aufbau einer durchhaltefähigen Reserve.“ (8)

Was die GRÜNEN in ihrem Wahlprogramm schreiben, klingt im Kern genauso: „Um die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr sicherzustellen, wollen wir den freiwilligen Wehrdienst  und die Reserve für eine breite Zielgruppe attraktiver machen …. Für den potenziellen Verteidigungsfall braucht es schnelle Rekrutierungsmechanismen – unterstützt durch eine neue Form der Wehrerfassung, die auch den Zivil- und Heimatschutz stärkt.“ (9)

Die FDP lehnt eine Wiedereinführung der Wehrpflicht explizit ab: „Wir Freie Demokraten setzen uns für eine professionelle Freiwilligenarmee aus Aktiven und einer starken Reserve und für eine nationale Datenbank zur Erfassung wehrfähiger Männer und Frauen ein. Wir orientieren uns hierbei an den Fähigkeitszielen der NATO. … Die Wiedereinsetzung der allgemeinen Wehrpflicht lehnen wir ab.“ (S.47) (10)

Die LINKE möchte die Bundeswehr zu einer „strukturell nicht angriffsfähigen Verteidigungsarmee“ umbauen. Im Wahlprogramm heißt es: „Wir stellen uns gegen eine Militarisierung der Gesellschaft: Keine Wiedereinführung der Wehrpflicht, kein Werben fürs Sterben an Schulen, auf Bildungsmessen, an Universitäten oder per Briefsendungen. Zivilklauseln für Hochschulen ohne Militär wollen wir verteidigen und ausbauen. Wir unterstützen das Jugendbündnis gegen Wehrpflicht!“ (11)

Auch das BSW lehnt eine Wiedereinführung der Wehrpflicht ab und schreibt, dass das „Prinzip der Freiwilligkeit … in der beruflichen Orientierungsphase der Heranwachsenden von enormer Bedeutung(ist)  und … nicht für Kriegs- und Aufrüstungspolitik außer Kraft gesetzt werden“ darf. (12)

Last aber leider nicht least die AfD (Triggerwarnung: Es kann einem schlecht werden beim Lesen): „Neben der Stärkung der personellen und materiellen Einsatzbereitschaft muss die Bundeswehr auch ideell revitalisiert werden. Motivation und Bindung unserer Soldaten zu Deutschland entscheiden im Verteidigungsfall maßgeblich über Sieg und Niederlage. Die Bundeswehr soll deshalb wieder einen starken Korpsgeist, ihre Traditionen und deutsche Werte pflegen. Die Tugenden des Soldaten sind Ehre, Treue, Kameradschaft und Tapferkeit. Die Bundeswehr muss die besten Traditionen der deutschen Militärgeschichte leben. Diese helfen soldatische Haltung und Tugenden – auch in der Öffentlichkeit – zu manifestieren. Militärisches Liedgut und Brauchtum sind Teil davon.“ Zum Thema Wehrpflicht findet sich in dem Papier nichts. (13)

Dieses Friedensforum wurde vor den Bundestagswahlen fertiggestellt. Deshalb sind wir auf Spekulationen angewiesen, was die Politik einer neuen Bundesregierung sein dürfte. Es scheint aber recht wahrscheinlich, dass der Pistorius-Vorschlag einer Wehrerfassung der erste Schritt sein könnte, während eine neue Regierung prüft, ob die Wehrpflicht reaktiviert oder eine Allgemeine Dienstpflicht eingeführt werden könnte. Denn beides dürfte auf Hürden stoßen:

Verfassungsrechtliche Bedenken
Sowohl gegen eine Reaktivierung der Wehrpflicht wie gegen eine Allgemeine Dienstpflicht gibt es auch verfassungsrechtliche Bedenken. Einer Praxis, die nur einen Teil der Wehrpflichtigen einberuft, steht das Prinzip der sog. „Wehrgerechtigkeit“ entgegen. Außerdem widerspricht es nach Art. 3 Grundgesetz der Gleichbehandlung von Frauen und Männer, wenn nur Männer zum Kriegsdienst einberufen werden. (14) Eine Allgemeine Dienstpflicht mit Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen „Diensten“ könnte gegen das Verbot eines Arbeitsdienstes (s. Art. 12a GG und die Europäische Menschenrechtskonvention Art 4.) verstoßen. (15)

Zustimmung bei Wähler*innen aller Parteien, nur nicht bei den Betroffenen
In einer Umfrage im März 2023 gaben insgesamt 43 Prozent der befragten Wahlberechtigten in Deutschland an, dass sie für eine Wiedereinführung des Wehrdienstes für alle Geschlechter sind. Die Zahlen variieren nur leicht je nach Parteipräferenz. (16) Im März 2024 waren 52% dafür. Allerdings gilt das nicht für diejenigen, die direkt betroffen sind: Die stärksten Befürworter*innen einer Wehrpflicht „finden sich mit 59 Prozent in der älteren Generation (60 Jahre und darüber). Bei den 18- bis 29-Jährigen, die persönlich von der Wiedereinführung betroffen wären, sind hingegen 59 Prozent gegen einen militärischen Pflichtdienst. Bei den Jüngeren gibt es allerdings Unterschiede zwischen den Geschlechtern: 52 Prozent der jüngeren Männer sind gegen die Wehrpflicht, bei den jüngeren Frauen sind es sogar 68 Prozent.“ (17)

Anmerkungen
1 https://www.bmvg.de/de/neuer-wehrdienst
2 https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/wehrpflicht-pistorius...
3 https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/wehrpflicht-debatte-100.html
4 https://www.fdp.de/absage-allgemeine-wehrpflicht
5 https://www.zeit.de/politik/deutschland/2024-11/ampelkoalition-wehrdiens...
6 https://www.bundestagswahl-bw.de/fileadmin/bundestagswahl-bw/2025/Partei..., Seite 50
7 https://www.cdu-parteitag.de/artikel/wehrpflicht-kommt-zurueck
8 https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Beschluesse/Programm/SPD_Programm..., Seite 58
9 Bis Ende Januar gab es im Netz lediglich den Entwurf des Wahlprogramms: https://www.bundestagswahl-bw.de/fileadmin/bundestagswahl-bw/2025/Wahlpr...
10 https://www.fdp.de/sites/default/files/2024-12/fdp-wahlprogramm_2025.pdf
11 https://www.die-linke.de/bundestagswahl-2025/wahlprogramm/
12 https://bsw-vg.de/wp-content/themes/bsw/assets/downloads/BSW%20Wahlprogr...
13 https://www.bundestagswahl-bw.de/fileadmin/bundestagswahl-bw/2025/Wahlpr.... Im Netz war bis Ende Januar lediglich ein 20-Punkte-Papier zu finden, nicht das verabschiedete volle Wahlprogramm.
14 https://verfassungsblog.de/wehrpflicht-demnachst-auch-fur-frauen/
15 https://www.juwiss.de/73-2018/
16 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1372253/umfrage/wiederein...
17 https://www.stern.de/politik/wehrpflicht-umfrage--vor-allem-eine-altersg...

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.