Erich-Mühsam-Preis für Totalverweige­rer Andreas Speck

von Wolfgang Hertle
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Im Rahmen der diesjährigen Tagung der Erich-Mühsam-Gesellschaft wurde dem Totalverweigerer Andreas Speck aus Oldenburg der Erich-Mühsam-Preis verliehen. Andreas Speck ist Totalverweigerer und war 1990 für die Anwendung des abgemilderten Tucholsky-Zitates "Alle Soldaten sind potentielle Mörder" zu 100 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe verurteilt worden. Erich Mühsam war 1934 als unbeugsamer Kämpfer für Menschlichkeit und gegen Militarismus im KZ Oranienburg ermordet worden. (Ein Schriftenverzeichnis über Mühsam kann bei der Erich-Mühsam-Gesellschaft, Musterbahn 5 b, 23552 Lübeck, angefordert wer­den.) Wir dokumentieren nachfolgend die Laudatio aus Anlass der Preis­verleihung, die Wolfgang Hertle gehalten hat.

Fünfzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges besteht Anlass, darüber nachzudenken, was wir Deutschen aus Krieg und Faschismus gelernt haben.

Die vom Hamburger Institut für Sozial­forschung erarbeitete Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht löste ein bemerkenswertes Phänomen aus:

Angesichts der vielfältigen dokumen­tierten Befehle und Berichte behaupte­ten fast alle damit konfrontierten ehe­maligen Soldaten, daß sie nichts von der "Erledigung", d.h. meist der Erschie­ßung von Hunderttausenden Juden, rus­sischen Kriegsgefangenen, "roten Kommissaren und Partisanen, aber auch von Frauen und Kindern, die der Zu­sammenarbeit mit "dem Feind" ver­dächtigt wurden, gewusst hätten oder gar an diesem Massenmord beteiligt gewe­sen seien.

Es ist erstaunlich, wie viele Offiziere und Landser gerade in dem Moment im Heimaturlaub oder im Lazarett waren, als ihre jeweiligen Einheiten an soge­nannten "Säuberungen" beteiligt waren.

Aber auch der "normale" Krieg, bei dem seit langem mehr Zivilisten als Soldaten umgebracht werden, muß als Massen­mord bezeichnet werden. Weshalb soll eigentlich Mord nicht als Mord bezeich­net werden, wenn er von Uniformierten im Auftrag des Staates begangen wird? Zwei Gründe verhindern die Stigmati­sierung des Krieges als staatlich organi­siertes Verbrechen: Die kollektive Ver­drängung der individuellen Mitschuld und der Nachfolge-Staat, der an eine Tradition des ehrenvollen und unpoliti­schen Soldatenhandwerks anknüpfen will, um seine Zwangsdienstsysteme zu rechtfertigen. Der Staat braucht weiter­hin den Gehorsam seiner Bürger. Eine Tradition des Ungehorsams soll sich nicht bilden.

Deshalb wurden bis heute die überle­benden Deserteure nicht rehabilitiert, die nicht nur ihre eigene Haut gerettet, sondern das eigentlich Vernünftige ge­tan haben. Deshalb wurden die NS-Richter nicht zur Rechenschaft gezogen. Deshalb gibt es den Aufschrei, wenn heute jemand Tucholskys Satz öffent­lich ausspricht, daß Soldaten Mörder, bzw. vorsichtiger formuliert, potentielle Mörder sind. Die meisten Täter wurden geschont und landeten nach 1945 wieder in gehobenen Positionen, während viele Opfer noch immer auf Entschädigung und Rehabilitation warten.

So ist es nur "konsequent", wenn heute deutsche Beamte Deserteure z.B. aus Ex-Jugoslawien oder Russland in ihre Krieg führende Heimat zurückschicken, statt sich mit ihnen zu solidarisieren oder sie zumindest vor der Militärjustiz ihrer Länder zu schützen. Der in Tschet­schenien geborene Berufssoldat und De­serteur Dschangulow z.B. wollte sich nicht länger an der Tötung seiner Landsleute beteiligen und suchte in Deutschland nach Asyl. Ihm fehlt zu Recht das Vertrauen in die Gerichte sei­nes Landes. Sehen diese den Tschet­schenienfeldzug als das an, was er ist, nämlich als Krieg, dann droht ihm im Fall der Auslieferung die Todesstrafe. Sollte er der deutschen Regierung ver­trauen, die mit dem Staats- und Kriegs­herrn Boris Jelzin die Zerstörung von Grosny und anderen Städten als inner­staatliche Angelegenheit ansieht? In diesem Fall käme er "nur" mit Haft da­von.

Um die weltweite Missachtung von Ge­wissensentscheidungen zu kennzeich­nen, hier ein anderes Beispiel von vielen, diesmal aus dem "Musterland der Demokratie", den USA. Der Offizier Rockwood hatte entgegen den Befehlen seines direkten Vorgesetzten während der Invasion in Haiti im September 1994 seinen Posten verlassen, um die Haftbedingungen in einem haitianischen Gefängnis zu untersuchen. Dabei berief er sich auf Oberbefehlshaber Bill Clin­ton, der angewiesen hatte, einzugreifen, wenn Menschenrechte missachtet wür­den. Nun drohen Rockwood zehn Jahre Gefängnis!

Die Bundesrepublik Deutschland hat unter dem Eindruck des Zweiten Welt­kriegs das Recht auf Verweigerung des Kriegsdienstes in das Grundgesetz auf­genommen, was nicht verhindert, daß Jahre lang eine unwürdige Gewissen­sinquisition betrieben wurde. Inzwi­schen sind die Bedingungen relativ ge­lockert, es besteht nahezu freie Wahl zwischen Kriegs- und Ersatzdienst. Der Ersatzdienst ist jedoch ein Zwangsdienst und kein Friedensdienst, er beschafft billige Arbeitskräfte, ohne die das Ge­sundheits- und Sozialwesen schon längst zusammengebrochen wäre. Die hohe Zahl der Kriegsdienstverweigerer in der BRD sollte nicht darüber hin­wegtäuschen, daß die Zivildienstleisten­den für den Ernstfall in die zivil-militä­rische Planung eingeplant sind. Abgese­hen davon, daß im Krieg üblicherweise die geltenden Gesetze ohnehin rasch au­ßer Kraft gesetzt werden. Totalverwei­gerung und Engagement für Frieden durch gerechtere gesellschaftliche Ver­hältnisse sind die konsequenteren und deutlicheren Zeichen.

Der französische Schriftsteller Boris Vian, u.a. bekannt durch das Lied "Le Deserteur", dessen Aufführung während des Algerienkrieges in Frankreich ver­boten wurde, sagte einmal: "Wann soll eigentlich der Krieg abgeschafft werden, wenn nicht im Frieden?"

In diesem Sinn ist die Totalverweige­rung, ist der Satz "Soldaten sind (potentielle) Mörder", sind andere For­men Zivilen Ungehorsams notwendige Provokationen, um in relativ ruhigen und "normalen" Zeiten darauf hinzuwei­sen, daß der Wahnsinn des Krieges nicht erst beginnt, wenn geschossen wird und Städte zerbombt werden, sondern lange vorher: Schon dann, wenn wir mit unse­ren Steuern die Vorbereitung des Wahn­sinns ermöglichen und finanzieren, wenn wir zulassen, daß deutsche Waf­fen in Krisengebiet exportiert werden, wenn wir zulassen, daß demnächst deut­sche Soldaten wieder in fremden Län­dern Krieg führen - sei es mit blauen oder olivgrünen Helmen.

Jetzt, wo die angebliche Bedrohung aus dem Osten nicht mehr glaubwürdig zur Rechtfertigung der Rüstungsausgaben herangezogen werden kann, suchen Bundeswehr und NATO neue Rechtfer­tigungsgründe. Der "Feind" der Zukunft ist arm und lebt im Süden. Zur selben Zeit, da sich das reiche Europa gegen die Flüchtlinge abschottet, die nicht zu­letzt durch seine eigene Ausbeutungs- und Rüstungsexportpolitik zu Flüchtlin­gen gemacht werden, ist die Bundes­wehr dabei, sich auf ihre neue Rolle als Weltpolizist neben den USA vorzube­reiten. Im Golfkrieg haben wir den Ein­satz der alliierten Truppen "nur" mitbe­zahlt bzw. die Infrastruktur in Deutschland zur Verfügung gestellt. In Zukunft sollen deutsche Truppen das schmutzige Geschäft wahrscheinlich selber besorgen!

Wenn wir erkennen, daß der Krieg in friedlichen Zeiten nahezu unbemerkt vorbereitet wird, wenn wir nicht mehr als gehorsame Werkzeuge des Staates funktionieren wollen, dann bleibt nur die demokratische Tugend des Zivilen Ungehorsams.

Der Erich - Mühsam - Preis 1995 geht an den Totalverweigerer Andreas Speck, stellvertretend für viele, die heute Nein! sagen und nicht bereit sind, das Morden im Namen des Staates welcher Ideologie auch immer mitzumachen oder zu er­möglichen. Andreas Speck gehört zu denen, die ihr Leben freiwillig als Frie­densdienst organisieren.

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