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Erinnerungsarbeit für die Zukunft
von"Die bundesdeutsche Erziehungswissenschaft hat sich den Aufgaben der 'Erziehung nach Auschwitz' und 'Erziehung nach Nagasaki' nur partiell durch das Engagement einiger 'nicht zu Beschwichtigender', wie Hans Joachim Gamm sie nennt, gestellt. Die Auseinandersetzung darüber ist im Fluß, und wir alle sind aufgerufen, diesen Streit zu qualifizieren. Unsere Chance, aus der Geschichte zu lernen, ist gebunden an die Perspektive, die wir einnehmen. Daraus entwickelt sich dann auch die Sensibilität gegenüber neuen Faschismuspotentialen."
Der Beitrag ist eine leicht gekürzte Fassung der Abschlußrede, die Johanna Pütz auf dem PädagogInnen-Kongreß am 24. September in Berlin gehalten hat.
Lernen aus der Geschichte für die Zukunft läßt uns eben nicht die Freiheit zu flexiblen Deutungsmustern, wie die Konservativen sie in ihr entsorgtes Verhältnis zur jüngsten Vergangenheit einschleusen. Lernen aus der Geschichte entscheidet sich an der Perspektive und diese erwächst für uns aus der Verpflichtung gegenüber den Opfern des Faschismus und ihrem Vermächtnis.
Ausgehend von den Opfern offenbart sich, wie die Nazis über eine perfektionierte Bevölkerungskontrolle sowohl hinsichtlich der Arbeitsleistung als auch hinsichtlich der Reproduktionsleistung, Modernisierungsschübe zugunsten von Profitmaximierung abgesichert haben. Dieser Prozeß wurde mit verbrecherischen Wissenschaftserfolgen vorangetrieben und führte zum Triumph einer entmenschlichten Funktionalität als Gesellschaftsprinzip. Dieses Prinzip war gekennzeichnet durch die vielfältig gegeneinanderklassifizierten und voneinanderpriviligierten Bevölkerungsgruppen (Detlef Peukert), ideologisch abgebunden als "Volksgenossen" und "Gemeinschaftsfremde".
Die Frage nach den Strukturen und Motiven, welche die einen zu Verfolgten und Opfern und die anderen zu Tätern und Mitschuldigen machte, beschäftigt uns als Pädagogen und Pädagoginnen in besonderem Maße.
Die neueren historischen Forschungen vermitteln uns hier die Zusammenhänge zwischen wirtschaftlichen und bevölkerungspolitischen Interessen, die von der Ausgrenzung hin zu Erfassung, über die Verfolgung bis zur Vernichtung führte. Dies alles war zusammengefaßt unter einer Zweckrationalität, an der die Eingegrenzten profitierten, ohne dabei freier zu werden. Durch die jüngsten Aufarbeitungen über den Nationalsozialismus werden uns die Dimensionen prozeßhafter Lebenswirklichkeit in der Dialektik von Fortschritt und Vernichtung zunehmend faßbar.
Ein solches integratives Verständnis macht dann auch die Nahtstellen deutlich, zwischen Gesellschaftsstruktur und politischem Machtsystem, zwischen profitgebundener Technologie und den allgemeinen sozialen Bedürfnissen, bis hin zu den subjektiven Gelenkstellen, die diesen Gesamtkomplex erst binden und erschließen.
In der ganzheitlichen Perspektive ist m.e. das Spannungsfeld einer geschichtsbewußten, emanzipatorischen Erziehungsarbeit enthalten und die Praxis gefordert. Und aus diesem Ansatz heraus können wir die Potentiale historischer Aufklärungsarbeit für unsere aktuellen Konfliktbewältigungen nutzen.
Humane Orientierung
Erziehung für den Frieden impliziert die Empfindsamkeit gegenüber leidvollen Erfahrungen von Unterdrükkung und Zerstörung. Wir streben also danach, destruktives Agieren nicht ewig dumpf zu wiederholen, sondern Verständigung und Solidarität zu festigen, um die politische, ökologischen und sozialen Probleme unserer Gegenwart zu lösen.
Lernen aus der Geschichte in der Verpflichtung gegenüber den Opfern bedeutet konkret Verantwortung gegenüber den überlebenden NS-Verfolgten und Solidarität mit heutigen Opfern von Unrecht und Gewalt.
Die juristische, materielle und moralische Nichtanerkennung zahlreicher NS-Opfer wurde für die Betroffenen zu einer wiederholten Verfolgung und ist jene "zweiten Schuld", wie Ralph Giordano die Nichtaufarbeitung und die erneute Selbstbestätigung der Täter und Handlanger kennzeichnete.
So ist unser Verhältnis zu sozial wie auch politisch diskriminierten und verleugneten Gruppen der Indikator dafür, was wir gesamtgesellschaftlich aus der Vergangenheit begriffen und bearbeitet haben. Die herabsetzende, unempfindliche Haltung, mit der Ausgrenzung und soziale Erniedrigung praktiziert werden, verweist auch auf die Verantwortlichen in Erziehung und Bildung.
Lernen aus der Geschichte für die Zukunft meint insbesondere Aufklärung über die aktuellen Faschismuspotentiale. Und die bedeutet zunächst einmal die Verständigung darüber, was wir als solche zu identifizieren und zu begreifen haben. Faschistoide Tendenzen bahnen sich ihren Weg ja nicht nur lauthals mit brutalen Forderungen und über konkrete Gewalt, wie sie die Rechtsradikalen und Neonazis präsentieren.
Der gezielte Verlust humaner Orientierung ereignet sich vielmehr in der profitorientierten Festlegung von technischen Erledigungskonzepten für soziale Konflikte.
Die moderne Krisenbewältigung versteckt ihre Vernichtungslogik heute in Fortschrittsverheißungen und in der um Akzeptanz werbenden Aufmachung von "Chancen und Risiken". Und ihr Erfolg liegt immer noch darin, daß sie privilegierten Individuen praktische Nutzeffekte zuteilt. Die gesellschaftlich geprägte Faszination für Leistungsoptimierungen bestärkt das Gefühl der subjektiven Teilhabe an den neuen Verwertungsmustern.
Die Kontinuität in der Unbelehrbarkeit eines wissenschaftlich-technischen Machbarkeitswahn zeigt sich beispielhaft in der Genomanalyse von Arbeitnehmern, der vorgeburtlichen Selektion von Behinderungen, in der Diskussion um aktive Sterbehilfe, dem Mißbrauch schwerbehinderter Säuglinge als Ersatzteillager, wie im gesamten Experiment einer technischen Reproduktion und Manipulation des Menschen. Das Konzept der Vernutzung und Vernichtung im Interesse neuer Qualitätsoptimierungen - und vor allem einer gezielten Qualitätskontrolle - hat neue Verwirklichungen erzielt.
Wir umgehen trickreich den Sinn von Erinnerungsarbeit, wenn wir diese Konfliktzonen hinwegverantworten in die Hände von Expertengruppen und Ethikkommissionen. Es steht vielmehr grundlegend für Pädagogen und Pädagoginnen an, verselbständigte Leistungs- und Wertekategorien in der Komplexität unserer Lebensorientierung neu zu reflektieren und in unsere eigenen Verfügungsmacht zu reintegrieren.
Eine Konsequenz gegen das Ausgrenzungs- und Verwertungsdenken wäre eine Realisierung integrierter Schulen, Schulen, in denen Behinderte und Nichtbehinderte gemeinsam lernen und solidarische Lebensvorstellungen verwirklichen können.
Klaus Rehbein warnte uns im letzten Jahr in seiner Rede zum Novemberpogrom vor "der kapitalverwertungsorientierten Bildungsverwahrlosung, in der der Mensch zur Verwertungsmasse verkommt." Ich halte diese Warnung für sehr zutreffend. Ich denke an die hastigen, wohlklingenden Entwürfe für eine neue Bildungskultur, und - im Widerspruch dazu - an der Überlebenskampf von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in unserem sozialen Verteilungssystem. Die bildungspolitische Transfersteuerungen in die vollautomatische Zukunft sind für die Betroffenen ein verwaltetes Herumgeschiebe und damit Angriffe auf ihre Persönlichkeit. Hier gewinnen dann auch biologische und nationale Stabilitätsverheißungen große Attraktivität. Denn das marktflexible Einfordern von sogenannten Schlüsselqualifikationen läßt die Verfallszeiten der eigenen Ausbildungsnachweise erahnen. Beim gegenwärtigen Umgang mit der technologischen Dynamik wird Bildung, wie Karl Heinz Geissler es formuliert, zur leicht "verderblichen Ware". Dies bedeutet subjektiv eine permanente Entwertung der konkreten Qualifikation, was immer gleichzeitig auch eine Entwertung derjenigen Person ist, die sie sich anggeeignet hat. In dieser Bedrohungssituation gedeiht der Nährboden für faschistische Mentalitäten, wie sie uns seit diesem Jahr sehr offensiv entgegentreten.
Aktive Erinnerungsarbeit
Das Prinzip "Erinnerungsarbeit für die Zukunft" enthält Zündstoff gegenüber dem traditionellen Lernen, weil es durch analytisches Vorgehen den Erfahrungsgehalt gesellschaftlicher und subjektiver Dynamik vermittelt. In dieser Weise werden zum Beispiel staatliche Aggressionspolitik und die subjektive Selbstaufwertung durch individuelle Machtteilhabe als notwendig kooperative Zusammenhänge transparent. Innerhalb der retrospektiv erkennbaren Herrschaftsinteressen und ihrer Organisationsform werden so gleichzeitig die subjektgebundenen Motive erkennbar, die den Prozeß von Machtsicherung und Ausgrenzung, von Fortschrittlichkeitsidealisierung und völliger Zerstörung als Lebenszusammenhang ausbildeten.
Aktive Erinnerungsarbeit zeigt somit eben jene Gedächtnislücken auf, die den Rüstungswahn und den ganz alltäglichen Rassismus als Normalität, als die angemessene Bewältigungsform zur Interessensbehauptung im Kleinen und im Großen aufrechterhalten.
Aktive Erinnerungsarbeit führt uns zu den Lernprozessen derjenigen, die nicht mitgemacht und widerstanden haben. Ihre Haltung warnt uns bis heute vor der Gewöhnung an den kleinen Verrat. Sie warnt uns davor, aus der Fixierung auf Erfolg die Realität zu verleugnen und den Verlust humaner Orientierung zu ignorieren, schlimmer noch, ihn mit Sachzwängen und Fortschrittskonstruktionen zu legitimieren.
Die Frauen und Männer der Opposition und des Widerstands gegen den Faschismus hinterlassen uns die Tradition des aufrechten Gangs und die Fähigkeit, Identität zu bewahren. Die Entscheidung für das Nicht-Mitmachen und für den Widerstand lag in einem Identisch-Sein mit Menschlichkeit und der darin aufgehobenen Solidarität.
Die Lebenszeugnisse der NS-Verfolgten können so als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung über Erziehung begriffen werden.
Erinnerungsarbeit ist unbequem und motivierend zugleich. Sie konfrontiert uns einerseits mit den Funktionen eigener Vorurteile und der eigenen Vorteilssicherung auf Kosten anderer. Sie entblößt damit auch die Beschwichtigungstricks gegenüber der eigenen sozialen Verantwortung.
Sie befreit uns aber gleichermaßen von dem Zwang, modifizierte, perfektionierte Verständnislosigkeit und Zerstörung zu wiederholen. Erinnerungsarbeit öffnet Alternativen zur Selbstbeharrung und schafft so Vertrauen für neue Versuche.