Erste Schritte einer Bewegung

von Osman Murat Ülke

Im Dezember 1992 wurde in lsmir ein Verein von KriegsdienstgegnerInnen bzw. - verweigerern gegründet. Osman Murat Ülke, Mitarbeiter beider DFG/VK NRW, berichtet über diesen Verein und die Situation der Kriegsdienstverweigerung in der Türkei.

Von dem im Dezember 1992 gegründeten Verein der Kriegsgegnerlnnen/ lzmir hätte mensch  - wenn man die Gründer und ihren politischen Background betrachtet - erwartet, er würde nur zu einem wenig beachteten Sprachrohr einer winzig kleinen Randgruppe werden. Die Gründer hatten dieselben Befürchtungen, auch wenn sie von Anfang an gegen ein solches Schicksal gearbeitet haben. Doch zu aller Überraschung kam es ganz anders.

Konsens, Real-Politik (?) und Definitionsfragen

Bevor der Verein gegründet wurde, wurde das Konzept, das er vertreten soll, lange diskutiert. Man einigte sich darauf, daß der Verein für alle da sein solle, die sich als "gegen den Krieg" definierten, von Hodjas (islamischen Gelehrten) bis zu Anarchisten. Ein etwas "schwammig" definierter Konsens und ganz bestimmt nicht ausdrücklich pazifistisch, aber wahrscheinlich in einer durch und durch mit Gewalt durchtränkten Gesellschaft ein guter Ansatz.

Da die Linke viel auf den Kampf der PKK setzt, wurden und werden wir immer wieder mit der Frage des "gerechten Krieges" konfrontiert. Das Thema ist nicht abgeschlossen, obwohl die Politik des Vereins sich auf Gewaltfreiheit konzentriert und die meisten damit übereinstimmen. Es ist eben nicht so einfach; potentielle SympathisantInnen, die sich als revolutionär, ja als Befreiungskämpfer verstehen, konsequent vor den Kopf zu stoßen.                      

Dies waren die Überwindungen, die hauptsächlich die Anarchisten, die einen großen Teil der Gründer und Aktivisten stellen, bewältigen mußten. Wo sie doch alle mit der "reinen  Lehre" mehr oder weniger im Einklang standen. Dieser Kompromiß, um Real-Politik (wenn man es so nennen will) betreiben zu können, war es, der es ermöglichte, von der Linken und den Medien beachtet zu werden; was natürlich nicht heißen soll, daß wir uns beim Taktieren wohl fühlen und nicht vorsichtig sind.

Von Anti-Kernkraft bis zum türkisch-kurdischen Outfit

Der Verein hat das Vorurteil, eine Organisation von und für Kriegsdienstverweigerer zu sein, schnell durch seine Zusammenarbeit mit verschiedensten Gruppen, abgebaut.

Innerhalb des ersten Monats  bekamen wir 300 Mitglieder. Unsere Räume waren stets von Frauen- und Studentengruppen besetzt. Feten und gemeinsames Frühstück an Sonntagen sorgten für gute Laune. Der Verein war Mitträger der landesweiten Kampagne gegen das Kernkraftwerk, das 1996 in Mersin gebaut werden soll. In Antalya und Izmir wurden u.a. in diesem Rahmen fast 20.000 Unterschriften gesammelt.

Kontakte zu griechischen Antimilitaristen bestanden schon seit Jahren und wurden mit der Gründung des Vereins wieder belebt. Wichtigstes Beispiel ist die Postkartenaktion und die Demo vor der griechischen Botschaft für den Totalverweigerer Nikos Maziotis. Nach ICOM 93 (Internationales Kriegsdienstverweigerer- Treffen), das in der Türkei stattfand, wurde auf dieser Basis dann die Türkisch-Griechisch-Zypriotische Arbeitsgruppe gegründet, die für Salih Askerogul, den ersten nordzypriotischen Kriegsdienstverweigerer, wichtige Solidaritätsarbeit geleistet hat. In Zukunft wird die AG ihren Schwerpunkt auf den Abbau des gegenseitig aufgebauschten Chauvinismus verlegen, die kulturellen Ähnlichkeiten hervorheben und sich intensiv mit der Teilung Zyperns und mit Wegen, dagegen anzukämpfen, auseinandersetzen.

Im März 93 initiierte der Verein die Friedensplattform Izmir, die es sich zum Ziel gesetzt hat, gewaltfreie Lösungsansätze für den türkisch-kurdischen Konflikt auszuarbeiten und zu verbreiten. Sie besteht aus rund 15 Vereinen und Gewerkschaften. Außer einer Delegation nach Kurdistan während des letzten Newroz-Festes hat die Friedensplattform verschiedene Flugblatt und Unterschriftenaktionen, Plakatierungen, Presseerklärungen und Demos organisiert. Der Schwerpunkt des letzten Jahres schlechthin war das ICOM 93 in der Türkei. 85 Menschen aus 19 Ländern nahmen teil und unsere Gäste versicherten uns, daß das Treffen äußerst erfolg- und abwechslungsreich war. Dabei war die Reaktion des Staates dem Treffen gegenüber lange Zeit unberechenbar, wobei zu bemerken ist, daß es ein internationales und noch dazu illegales Treffen dieses Ausmaßes in der Türkei noch nie gab. Auch hatten wir bisher nie an solch einem Treffen teilgenommen, geschweige denn mitorganisiert.

Die Talfahrt

Kurz nach dem ICOM waren unsere finanziellen Mittel  aufgebraucht, und das Telefon wurde aus diesem Grund gesperrt. Hinzu kam eine Anklage, wegen eines sogenannten "Prozedurfehlers", in der es um unsere Satzung und die darin enthaltene Definiten "gegen Militarismus sein" ging. Der unglückliche Zufall, daß alle Aktivisten zeitgleich große finanzielle Probleme hatten, führte zu Motivationsschwund. Trotz allem lief gerade in dieser Zeit die sehr intensive Kampagne für Salih Askerogul bis am 8. November 93 der Verein gerichtlich aufgelöst wurde. Seitdem überschlagen sich die Ereignisse.

Das angekratzte Tabu

Nachdem der Staat uns lange Zeit keine Beachtung geschenkt hatte, schien es so, als seien unsere Existenz und unsere kritische Einstellung zum eskalierenden Krieg, in Kurdistan endlich aufgefallen. Die permanente Berichterstattung über unsere Aktivitäten in zwei Tageszeitungen muß den Anschein einer potentiellen gewaltfreien Opposition gegen den Krieg als dritten Weg (weder staatstreu, noch PKK-nah) erweckt haben - was meiner Meinung nach auch zutrifft.

Noch während unser Prozeß lief, wurde der Vorsitzende des Vereins der Kriegsgegnerlnnen/Istanbul für fünf Tage inhaftiert und mit dem Tode bedroht. Es folgten mehrmalige je zweitägige Inhaftierungen von Antimilitaristen in Antalya.

Am 3.12.93 erklärte der Verteidigungsminister Mehmet Gölhan es gäbe in der Türkei 250.000  Fahnenflüchtige, und sprach ein Ultimatum für diese aus: "Wer sich innerhalb von drei Monaten meldet, soll mit einer Geldstrafe und dem regulären Wehrdienst davonkommen. Alle anderen erwartet eine Haftstrafe von sechs Monaten bis zu drei Jahren. Von diesem Ultimatum sind natürlich die 14 öffentlich bekannten Kriegsdienstverweigerer in erster Linie betroffen, weil ihre Adressen bekannt sind und man sie jederzeit aufgreifen kann. Außerdem sollen auch Fernstudenten und Studenten, die ihre Regelstudienzeit überzogen haben, eingezogen werden.

Am 8.12.93. fand ein Interview mit unserem ehemaligen Vorsitzenden  Aytek Özel und dem Kriegsdienstverweigerer Menderes Meletli im Privatfernsehen der HBB statt. Infolgedessen wurden die beiden Verantwortlichen des Senders Erhan Akyildiz und Tevfik Berber, auf Anweisung des Großen Generalstabs vonseiten eines Militärgerichts inhaftiert. Ein Haftbefehl für die zwei Antimilitaristen wurde ausgehängt. Seit der Militärdiktatur von 80-83 war dies der erste Fall, in dem Zivilisten vor einem Militärgericht standen. Aufgrund internationaler und inländischer Reaktionen schaltete sich Präsident Demirel ein, und man setzte die beiden Journalisten nach fünf Tagen auf freien Fuß, doch der Prozeß geht weiter. Am 25.1. fand die erste Prozeßsitzung statt; das Militär fordert eine Strafe von zwei Jahren.

In der ersten Januarwoche 94 drängte der Große Generalstab den Ministerrat, den Wehrdienst der im vierten Quartal 1972 geborenen Soldaten um drei Monate zu verlängern, obwohl diese ihren Dienst 20 Tage später beendet hätten. Die Auswirkungen einer solchen Entscheidung waren scheinbar ganz und gar nicht in Betracht gezogen worden.

Es folgten eine Protestwelle von Parteien, Medien, Vereinen und Gewerkschaften, Serienartikel über die Schikane im Militär und die Wehrdienstunwilligkeit erschienen in diversen Zeitungen. Seit der Verkündung dieses Sonderzustandes desertierten 223 Soldaten in Batman, Istanbul, Tekirdag, Madyat, Hakkari, Adana, Amasya, Agri, Menemen, Antep, Etimesgut und Erzincan (und das sind nur die bekannten Fälle). 14 Soldaten in Batman, Istanbul, Ankara, Amasya, Baskala, Caldiran und Semdinli begingen Selbstmord, fünf weitere Selbstmordversuche sind bekannt. Den Soldaten in Istanbul werden leere Munitionskammem verteilt, damit sie nicht Selbstmord begehen und ihre Vorgesetzten nicht erschießen. 200 Soldaten haben in Istanbul gegen den Entschluß demonstriert. Soldaten in Erzurum entschlossen sich, die Befehlsausführung zu verlangsamen. In Van setzten zwei Soldaten das Militärgrenzrevier, in dem sie stationiert sind, in Brand! Bei zwei Auseinandersetzungen zwischen Soldaten (!) kam es in Diyarbakir und Mus zu vier Todesfällen und vier Verletzten.

Ich habe diese Sätze immer wieder durchgelesen und erkenne die Türkei nicht wieder. Nie in der türkischen Geschichte war die Legitimität und Autorität des Militärs derart in Frage gestellt, und nie hatte es so intensive, offene Reaktionen gegeben. Wenn das Tabu auch nicht gebrochen ist, ist es unverkennbar stark angekratzt. Die plötzliche Entscheidung, diese Menschen nicht zu entlassen, zeugt von Panik und Konfusion in den oberen militärischen Rängen, bezüglich der Vorgehensweise in Kurdistan.

Von den militärinternen  Entwicklungen abgesehen, entsteht auch das erste Mal eine breite Mobilisierung gegen das Militär. Studenten in Istanbul gaben eine Massenerklärung ab, in der sie den Kriegsdienst verweigerten. Mütter von Soldaten trafen sich im Menschenrechtsverein Istanbul und gründeten die Initiative Frauen Gegen Den Krieg. Im größten Fernsehsender, Show TV, wurde ein ausführlicher Bericht über die Entwicklungen mit Interviews von Soldaten gesendet. Der Große Generalstab bezichtigte die Verantwortlichen mit dem "Versuch, das Volk vom Militär zu distanzieren" und leitete ein Verfahren ein. Die interviewten Soldaten wurden verhört.

Der Verteidigungsminister äußerte sich erst am 14.1. zur Lage und leugnete die Desertionen und Selbstmorde. Nichtsdestotrotz erklärte er die Selbstmörder für geisteskrank und gab von sich: "Der türkische Soldat kennt seine Pflichten und wird nicht zögern, für den heiligen Tod im Kampf bereit zu sein. (…) Mütter weinen, das ist normal. Mein Sohn ist im Ausland, auch seine Mutter weint."

Eine Kettenreaktion ist ausgelöst, die sich mit  jedem folgenden Schritt des Militärs noch verstärken wird. Das Ziel, "das Kurdenproblem" im Frühling zu lösen, wird unberechenbare Folgen haben. Allein schon die Entscheidung, ob der Wehrdienst auch für die nächsten Quartale verlängert werden soll oder nicht, wird das Militär in Bedrängnis bringen. Falls ja, werden die Desertionen sich vervielfachen; falls nicht, wird dies als ein Rückzieher gewertet werden und unsere Bewegung weiter Aufschwung bekommen.

Perspektiven

Der Verein der Kriegsgegnerlnnen/Izmir wird am 28.2.1994 wieder gegründet werden. Eine Delegation aus Europa wird mich am 26.2. in die Türkei begleiten und bei der Gründung präsent sein. Außerdem soll auf der geplanten Pressekonferenz gegen das Ultimatum und die Verlängerung des Wehrdienstes protestiert und gezeigt werden, daß die türkischen Antimilitaristen und Kriegsdienstverweigerer nicht allein sind.

Beim letzten ICOM wurde der Vorschlag der Türkisch-Kurdischen Arbeitsgruppe, den nächsten ICOD (Internationaler Kriegsdienstverweigerertag - 15. Mai) dem Thema Kurdistan zu widmen, akzeptiert. In diesem Rahmen soll in den letzten zwei Aprilwochen eine internationale Delegation nach Kurdistan fliegen und anschließend ihre Erfahrungen mit den antimilitaristischen Gruppen in der Westtürkei austauschen. Am 15. Mai sollen dann Veranstaltungen in den jeweiligen Ländern stattfinden und versucht werden, ein Aktionskonzept für gewaltfreie Lösungsansätze auszuarbeiten.

Weiter planen wir im September eine griechisch-türkische Freundschaftswoche in Izmir, um unsere Kontakte und Arbeit im griechisch-türkisch-zypriotischen Dreieck noch weiter auszubreiten.

Das sind die Schwerpunkte für 1994. Voraussetzung ist, daß wir nach Ablauf des Ultimatums  in der kritischen Zeit Ende Februar bis Ende März nicht alle inhaftiert werden. Falls wir diese Schwelle gut überbrücken, ist mit einer neuen Welle von öffentlichen Kriegsdienstverweigerern im Sommer 94 zu rechnen.  Deswegen ist es wichtiger denn je, daß wir unseren internationalen Kontakte gut nutzen und ausbauen. Im Falle des Falles wird dies unsere einzige Stütze sein. Daß wir unsere finanziellen Probleme lösen müssen, ist natürlich selbstverständlich, trotzdem schwierig.

Wir bitten um jede Art von Unterstützung, in einer Zeit, in der das türkische Militär schwankt und wir einen Gegenpol darstellen, der "unbedingt  abgeschafft" werden muß. Teilnahme an den Delegationen, Öffentlichkeitsarbeit und Spenden können entscheidend sein.

Vertreter des Vereins der Kriegsgegnerlnnen/lzmir, Osman Murat Ülke, Kontaktadresse: AK "KDV im Krieg", c/o Rudi Friedrich, Brüder-Grimm-Str. 63, 63069 Offenbach, Tel. + Fax: (069) 84 50 16, Spendenkonto: DFG-VK NRW, Postgiroamt Essen, Kto. Nr. 1508 33 437, BLZ 360 100 43, Stichwort "Izmir-Solidarität"

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