Erstes Fazit der Demonstrationsbeob­achtungim Wendland

von Martin SingeElke StevenWolf Dieter Narr
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Das Komitee für Grundrechte und Demokratie hat in der Zeit vom 22.4. bis 25.4. 1995 die De­monstrationen beobachtet, deren Protest sich gegen den Castor-Transport mit hochradioaktivem Atom-müll von Philippsburg nach Gorleben und dessen Lage­rung dortselbst richtete. Zehn Komitee-Mit-glieder waren an den vier Tagen bei allen größeren Protestaktionen im Landkreis Lüchow-Dannen-berg, ein weite­rer in Philippsburg zugegen. Sie haben das Verhalten von Teil­nehmenden an den Demonstra­tionen und von Polizeikräften sorgfältig protokolliert. Ein de­taillierter Bericht wird in Kürze veröffentlicht.

A. Zu einigen hauptsächlichen Beob­achtungen

1. Die Demonstrationen fanden im Schatten eines Demonstrationsver­bots statt. Das per Allgemeinverfü­gung verhängte Demonstrationsver­bot ist in seiner räumlichen und zeit­lichen Ausdehnung bisher einmalig in der Geschichte der Bundesrepu­blik. Acht Tage lang galt ein Ver­sammlungsverbot für den Umkreis von 50 Metern um alle Schienen­strecken von Uelzen und Lüneburg nach Dannenberg sowie um alle Stra­ßen im Landkreis Lüchow-Dannen­berg, die für den Castor-Transport in Frage kamen. Darüber hinaus galt das Verbot im Umkreis von 500 Metern für die Entsorgungsanlagen, also den Verladekran in Dannenberg und das Zwischenlager in Gorleben.

Begründet wurde dieses Verbot mit pauschalen Gefahrenvermutungen. Dieselben sind nicht stichhaltig. Sie reichten in keinem Fall aus, die All­gemeinverfügung zu rechtfertigen. Letztere verstieß nicht nur gegen das Grundrecht auf Demonstration. Sie garantierte von vornherein, daß die Polizei nicht prinzipiell auch für den Schutz der Demonstration und der an ihr Teilnehmenden eingesetzt worden ist, sondern von vornherein einseitig wider die Demonstration und ihre Zwecke ausgerichtet wurde.

2. Über alle vier Tage des Protestes ha­ben die Bürgerinnen und Bürger des Landkreises in phantasievollen Ak­tionen gegen die Einlagerung des er­sten Castor-Behälters in Gorleben protestiert. Alle Aktionen verliefen entgegen anders lautenden Vorein­stimmungen (vgl. Allgemeinverfü­gung) und einseitigen Informationen strikt gewaltfrei (vgl. die Berichte in einem Großteil der Medien, die keine Sachverhalte berichteten, sondern Vorurteile untermauerten).

3. Unseren Beobachtungen zufolge wurde bereits an den beiden Demonstrationstagen vor Trans-portbeginn und erst recht an den beiden Tagen des Transportes selbst in unverhält­nismäßiger Weise gegen die Demon­stranten eingeschritten. Dem friedli­chen und gewaltfreien, offen vorge­tragenen Protest wurde zunehmend mit massiven Zwangsmitteln, wie Einsatz von Schilden, Schlag-stöcken und Stoßstöcken bis hin zu Wasserwerfereinsätzen und einzelnen An­wendungen von Reizgas begegnet.

4. Obwohl es durchaus Einsatzleiter gab, die bemüht waren, ihren Ermes­sensspielraum zugunsten des Demon­strationsrechts zu nutzen, obwohl et­liche der eingesetzten PolizistInnen deutlich machten, daß sie inhaltlich auf Seiten der DemonstrantInnen stehen, wurde der Einsatz mit dem Herannahen des Castor-Transportes zunehmend brutaler.

5. Von Anfang an ist z.T. mit Gewalt gegen friedliche Demonstranten ein­geschritten worden. Bereits am Samstag, dem 22.4., wurde ein De­monstrationszug, der sich nach der Hauptkundgebung am Dannenberger Marktplatz um ca. 13.oo Uhr gebildet hatte, von Polizeikräften aufgehalten. Dabei kam es ohne ersichtlichen Grund und Zweck zum Einsatz von Schilden, mit denen auf Demon­stranten eingedrückt und geschlagen wurde, zum Schlagstockeinsatz und zu Drohungen mit Hunden ohne Maulkörben. Im Zusammenhang die­ser ersten Demonstration berichteten die Polizei-Presseerklärungen von zwei Stahlkugeln, die auf Beamte ab­geschossen worden sein sollen. Dies ist inzwischen mehr oder weniger stillschweigend zurückgenommen worden. Gleichzeitig entpuppten sich zwei Personen, die unter den Demon­stranten als grobe Gewalttäter festge­nommen worden waren, als zivil ver­kleidete Bundesgrenzschutz-Beamte. Die Zeugenaussage eines Pfarrers, der den Funkdialog zwischen den festnehmenden Beamten und der Einsatzleitung mithörte, liegt uns vor. Hinzu kommt, daß die Geschichte mit den beiden Stahlkugeln in jedes Presseinterview der Polizei eingewo­ben wurde, in denen unverhältnismä­ßige Einsätze der Öffentlichkeit ge­genüber begründet werden sollten.

6. Auf dem zentralen Platz in Dannen­berg, auf dem sich die Demonstran­ten versammelt und eingerichtet hatten und auf dem kein Versammlungsverbot bestand, sind die Men­schen willkürlich und ohne jegliche vorherige Aufforderung, den Platz zu verlassen, eingekesselt, festgenom­men oder weggetragen worden. Per­sonalienfeststellungen wurden durch­geführt. Über Stunden wurden dabei Hunderte von Menschen darüber im Unklaren gelassen, auf welcher rechtlichen Grundlage die Polizei vorging. Weder Einsatzleiter noch die Pressesprecher vor Ort waren in­formiert, sondern konnten nur auf die Einsatzleitung im Hubschrauber ver­weisen, die die Maßnahme angeord­net hätte.

7. Bereits am Samstagnachmittag im Rahmen der Demonstration am Zwi­schenlager in Gorleben kam es zu ei­nem massiven Schlagstockeinsatz, der völlig unbegründet war. Berittene Polizisten und weitere Beamte ohne Pferde schlugen auf die Köpfe wehr­loser Demonstranten ein. Verletzun­gen wurden dabei in Kauf genom­men, Übergriffe auf die Presse haben wir ebenfalls gesehen.

8. Polizeibeamte höheren Grades oder Einsatzleiter hetzten untergebene Be­amte tw. zu schärferem Vorgehen auf. Ein Einsatzleiter beim Räumen einer Sitzblockade sagte wörtlich: "Ich sage Euch noch einmal, Ihr müsst die Leute nicht Tragen beim Wegräumen!" Ein Einsatzleiter, der beim Castor-Transport selbst vor ei­nem der vier Wasserwerfer herlief, rief dem Kommandanten, als dieser gerade nicht die Spritze betätigte, zu: "Halt doch noch mal rein in den Scheiß!"

9. Polizisten bis hin zu Einsatzleitern haben sich in vielen Fällen geweigert, auf Nachfragen von betroffenen De­monstranten ihren Namen oder ihre Dienstnummer zu nennen. Berech­tigte rechtliche Schritte gegen poli­zeiliche Übergriffe, Gewalttaten u.ä. wurden dadurch verhindert. Ein Ein­satzleiter, der gerade einen Schlag­stockeinsatz zu Ende gebracht hatte, sagte gegenüber einem unserer Beob­achter auf die Bitte um Namensnen­nung: "Ja, ja, nächste Woche dann!"

10. Immer wieder sind willkürlich einzelne Demonstranten herausge­griffen und festgenommen worden. Einzelne sind regelrecht gejagt wor­den - vor allem diejenigen, deren Aussehen und Klei-dung von poli­zeilicher Seite als "anders" wahrge­nommen wurde.

11. Menschen sind mit Gewalt von ihren Treckern gezerrt worden, als eine Blockade von Treckern aufge­löst werden sollte. Als sie schon auf dem Boden lagen, ist noch nachträg­lich von Polizisten nach ihnen getre­ten worden.

12. Nachts sind Autos angehalten und die Insassen mit Schlagstöcken verprügelt worden.

13. Auch in Philippsburg wurden die zumeist jungen Demonstranten willkürlich in Gewahrsam genom­men, mit Schlagstöcken verdrängt und mit Pferden gehetzt.

B. Erste Schlussfolgerungen

1. Die flächendeckende Verbotsverfü­gung entbehrte aller demokratisch rechtsstaatlich legitimier-baren Grundlage. Sie ist unbegründet gegen ein wichtiges Grundrecht erlassen worden.

2. Im Gegensatz zu anders lautenden Berichten, ist von den Teilnehmen­den an den Demonstrationen keine Gewalt ausgegangen. Menschen wurden nicht verletzt. Auch dort, wo Sachbeschädigungen erfolgten, sind keine Menschen gefährdet worden.

3. Die Gewalt ging hintergründig allein von den staatlich-kommunalen Be­hörden aus. Sie haben alles dazu ge­tan, daß der Zweck der Demonstra­tion, die begründete Sorge vieler Bürgerinnen und Bürger in Sachen unerträgliches "Restrisiko" der Kern­energie und ihrer "Abfälle" hinter der staats-erzeugten Gewaltwolke ver­schleiert werde. Vordergründig und aktuell wurde Gewalt von Teilen der regierungsamtlich missbrauchten Po­lizei geübt.

4. Obwohl der friedliche Charakter der Demonstrationen vorweg erkenntlich gewesen ist und obwohl Großdemon­strationen in der Bundesrepublik seit 25 Jahren Tradition haben, besaß die polizeiliche Einsatzleitung offenkun­dig keinerlei ausgereiftes, an den Grundrechten ausgerichtetes Kon­zept. Willkürliche, also rechtsstaats­widrige Maßnahmen beherrschten die Szene. Sie verletzten die Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern ein­schließlich des Grundrechts auf kör­perliche Unversehrtheit (Art. 2 GG).

5. Wie immer man zur Kernenergie und ihren "eingebauten Katastrophen" (so der amerikanische Experte Charles Perrow) steht, klar und eindeutig hat das Geschehen rund um den Castor-Transport erwiesen, wie hoch sich die fortlaufenden grundrechtlich-demo­kratischen Kosten summieren, allein um dieses radikal fragwürdige Ener­giekonzept durchzusetzen und die angeblich friedliche Kern-kraft zu schützen. Etliche demokratiewidrige Züge des "Atomstaates", vor dem der 1994 verstorbene Robert Jungk klar­sichtig warnte, sind in diesen April­tagen kenntlich geworden. Und darin besteht auch der größte aktuelle Schaden dieser polizeigewaltförmi­gen Durchsetzung eines unausgego­renen Projekts: In der Verletzung po­litisch-demokratischer Verfahren und Rechte. Wären den regierungsamtli­chen Kernkraftbefürwortern die Bür­ger wichtig gewesen, es hätte andere Verfahren geben müssen. So hat man bewusst Politikverdrossenheit produ­ziert. Also ist in Gorleben und run­dum mehr als ein Grundrecht ohne Not erheblich beschädigt worden.

 

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Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".
Elke Steven ist Soziologin und Referentin beim Komitee für Grundrechte und Demokratie in Köln.