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Erstes Fazit der Demonstrationsbeobachtungim Wendland
von
Das Komitee für Grundrechte und Demokratie hat in der Zeit vom 22.4. bis 25.4. 1995 die Demonstrationen beobachtet, deren Protest sich gegen den Castor-Transport mit hochradioaktivem Atom-müll von Philippsburg nach Gorleben und dessen Lagerung dortselbst richtete. Zehn Komitee-Mit-glieder waren an den vier Tagen bei allen größeren Protestaktionen im Landkreis Lüchow-Dannen-berg, ein weiterer in Philippsburg zugegen. Sie haben das Verhalten von Teilnehmenden an den Demonstrationen und von Polizeikräften sorgfältig protokolliert. Ein detaillierter Bericht wird in Kürze veröffentlicht.
A. Zu einigen hauptsächlichen Beobachtungen
1. Die Demonstrationen fanden im Schatten eines Demonstrationsverbots statt. Das per Allgemeinverfügung verhängte Demonstrationsverbot ist in seiner räumlichen und zeitlichen Ausdehnung bisher einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik. Acht Tage lang galt ein Versammlungsverbot für den Umkreis von 50 Metern um alle Schienenstrecken von Uelzen und Lüneburg nach Dannenberg sowie um alle Straßen im Landkreis Lüchow-Dannenberg, die für den Castor-Transport in Frage kamen. Darüber hinaus galt das Verbot im Umkreis von 500 Metern für die Entsorgungsanlagen, also den Verladekran in Dannenberg und das Zwischenlager in Gorleben.
Begründet wurde dieses Verbot mit pauschalen Gefahrenvermutungen. Dieselben sind nicht stichhaltig. Sie reichten in keinem Fall aus, die Allgemeinverfügung zu rechtfertigen. Letztere verstieß nicht nur gegen das Grundrecht auf Demonstration. Sie garantierte von vornherein, daß die Polizei nicht prinzipiell auch für den Schutz der Demonstration und der an ihr Teilnehmenden eingesetzt worden ist, sondern von vornherein einseitig wider die Demonstration und ihre Zwecke ausgerichtet wurde.
2. Über alle vier Tage des Protestes haben die Bürgerinnen und Bürger des Landkreises in phantasievollen Aktionen gegen die Einlagerung des ersten Castor-Behälters in Gorleben protestiert. Alle Aktionen verliefen entgegen anders lautenden Voreinstimmungen (vgl. Allgemeinverfügung) und einseitigen Informationen strikt gewaltfrei (vgl. die Berichte in einem Großteil der Medien, die keine Sachverhalte berichteten, sondern Vorurteile untermauerten).
3. Unseren Beobachtungen zufolge wurde bereits an den beiden Demonstrationstagen vor Trans-portbeginn und erst recht an den beiden Tagen des Transportes selbst in unverhältnismäßiger Weise gegen die Demonstranten eingeschritten. Dem friedlichen und gewaltfreien, offen vorgetragenen Protest wurde zunehmend mit massiven Zwangsmitteln, wie Einsatz von Schilden, Schlag-stöcken und Stoßstöcken bis hin zu Wasserwerfereinsätzen und einzelnen Anwendungen von Reizgas begegnet.
4. Obwohl es durchaus Einsatzleiter gab, die bemüht waren, ihren Ermessensspielraum zugunsten des Demonstrationsrechts zu nutzen, obwohl etliche der eingesetzten PolizistInnen deutlich machten, daß sie inhaltlich auf Seiten der DemonstrantInnen stehen, wurde der Einsatz mit dem Herannahen des Castor-Transportes zunehmend brutaler.
5. Von Anfang an ist z.T. mit Gewalt gegen friedliche Demonstranten eingeschritten worden. Bereits am Samstag, dem 22.4., wurde ein Demonstrationszug, der sich nach der Hauptkundgebung am Dannenberger Marktplatz um ca. 13.oo Uhr gebildet hatte, von Polizeikräften aufgehalten. Dabei kam es ohne ersichtlichen Grund und Zweck zum Einsatz von Schilden, mit denen auf Demonstranten eingedrückt und geschlagen wurde, zum Schlagstockeinsatz und zu Drohungen mit Hunden ohne Maulkörben. Im Zusammenhang dieser ersten Demonstration berichteten die Polizei-Presseerklärungen von zwei Stahlkugeln, die auf Beamte abgeschossen worden sein sollen. Dies ist inzwischen mehr oder weniger stillschweigend zurückgenommen worden. Gleichzeitig entpuppten sich zwei Personen, die unter den Demonstranten als grobe Gewalttäter festgenommen worden waren, als zivil verkleidete Bundesgrenzschutz-Beamte. Die Zeugenaussage eines Pfarrers, der den Funkdialog zwischen den festnehmenden Beamten und der Einsatzleitung mithörte, liegt uns vor. Hinzu kommt, daß die Geschichte mit den beiden Stahlkugeln in jedes Presseinterview der Polizei eingewoben wurde, in denen unverhältnismäßige Einsätze der Öffentlichkeit gegenüber begründet werden sollten.
6. Auf dem zentralen Platz in Dannenberg, auf dem sich die Demonstranten versammelt und eingerichtet hatten und auf dem kein Versammlungsverbot bestand, sind die Menschen willkürlich und ohne jegliche vorherige Aufforderung, den Platz zu verlassen, eingekesselt, festgenommen oder weggetragen worden. Personalienfeststellungen wurden durchgeführt. Über Stunden wurden dabei Hunderte von Menschen darüber im Unklaren gelassen, auf welcher rechtlichen Grundlage die Polizei vorging. Weder Einsatzleiter noch die Pressesprecher vor Ort waren informiert, sondern konnten nur auf die Einsatzleitung im Hubschrauber verweisen, die die Maßnahme angeordnet hätte.
7. Bereits am Samstagnachmittag im Rahmen der Demonstration am Zwischenlager in Gorleben kam es zu einem massiven Schlagstockeinsatz, der völlig unbegründet war. Berittene Polizisten und weitere Beamte ohne Pferde schlugen auf die Köpfe wehrloser Demonstranten ein. Verletzungen wurden dabei in Kauf genommen, Übergriffe auf die Presse haben wir ebenfalls gesehen.
8. Polizeibeamte höheren Grades oder Einsatzleiter hetzten untergebene Beamte tw. zu schärferem Vorgehen auf. Ein Einsatzleiter beim Räumen einer Sitzblockade sagte wörtlich: "Ich sage Euch noch einmal, Ihr müsst die Leute nicht Tragen beim Wegräumen!" Ein Einsatzleiter, der beim Castor-Transport selbst vor einem der vier Wasserwerfer herlief, rief dem Kommandanten, als dieser gerade nicht die Spritze betätigte, zu: "Halt doch noch mal rein in den Scheiß!"
9. Polizisten bis hin zu Einsatzleitern haben sich in vielen Fällen geweigert, auf Nachfragen von betroffenen Demonstranten ihren Namen oder ihre Dienstnummer zu nennen. Berechtigte rechtliche Schritte gegen polizeiliche Übergriffe, Gewalttaten u.ä. wurden dadurch verhindert. Ein Einsatzleiter, der gerade einen Schlagstockeinsatz zu Ende gebracht hatte, sagte gegenüber einem unserer Beobachter auf die Bitte um Namensnennung: "Ja, ja, nächste Woche dann!"
10. Immer wieder sind willkürlich einzelne Demonstranten herausgegriffen und festgenommen worden. Einzelne sind regelrecht gejagt worden - vor allem diejenigen, deren Aussehen und Klei-dung von polizeilicher Seite als "anders" wahrgenommen wurde.
11. Menschen sind mit Gewalt von ihren Treckern gezerrt worden, als eine Blockade von Treckern aufgelöst werden sollte. Als sie schon auf dem Boden lagen, ist noch nachträglich von Polizisten nach ihnen getreten worden.
12. Nachts sind Autos angehalten und die Insassen mit Schlagstöcken verprügelt worden.
13. Auch in Philippsburg wurden die zumeist jungen Demonstranten willkürlich in Gewahrsam genommen, mit Schlagstöcken verdrängt und mit Pferden gehetzt.
B. Erste Schlussfolgerungen
1. Die flächendeckende Verbotsverfügung entbehrte aller demokratisch rechtsstaatlich legitimier-baren Grundlage. Sie ist unbegründet gegen ein wichtiges Grundrecht erlassen worden.
2. Im Gegensatz zu anders lautenden Berichten, ist von den Teilnehmenden an den Demonstrationen keine Gewalt ausgegangen. Menschen wurden nicht verletzt. Auch dort, wo Sachbeschädigungen erfolgten, sind keine Menschen gefährdet worden.
3. Die Gewalt ging hintergründig allein von den staatlich-kommunalen Behörden aus. Sie haben alles dazu getan, daß der Zweck der Demonstration, die begründete Sorge vieler Bürgerinnen und Bürger in Sachen unerträgliches "Restrisiko" der Kernenergie und ihrer "Abfälle" hinter der staats-erzeugten Gewaltwolke verschleiert werde. Vordergründig und aktuell wurde Gewalt von Teilen der regierungsamtlich missbrauchten Polizei geübt.
4. Obwohl der friedliche Charakter der Demonstrationen vorweg erkenntlich gewesen ist und obwohl Großdemonstrationen in der Bundesrepublik seit 25 Jahren Tradition haben, besaß die polizeiliche Einsatzleitung offenkundig keinerlei ausgereiftes, an den Grundrechten ausgerichtetes Konzept. Willkürliche, also rechtsstaatswidrige Maßnahmen beherrschten die Szene. Sie verletzten die Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern einschließlich des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 GG).
5. Wie immer man zur Kernenergie und ihren "eingebauten Katastrophen" (so der amerikanische Experte Charles Perrow) steht, klar und eindeutig hat das Geschehen rund um den Castor-Transport erwiesen, wie hoch sich die fortlaufenden grundrechtlich-demokratischen Kosten summieren, allein um dieses radikal fragwürdige Energiekonzept durchzusetzen und die angeblich friedliche Kern-kraft zu schützen. Etliche demokratiewidrige Züge des "Atomstaates", vor dem der 1994 verstorbene Robert Jungk klarsichtig warnte, sind in diesen Apriltagen kenntlich geworden. Und darin besteht auch der größte aktuelle Schaden dieser polizeigewaltförmigen Durchsetzung eines unausgegorenen Projekts: In der Verletzung politisch-demokratischer Verfahren und Rechte. Wären den regierungsamtlichen Kernkraftbefürwortern die Bürger wichtig gewesen, es hätte andere Verfahren geben müssen. So hat man bewusst Politikverdrossenheit produziert. Also ist in Gorleben und rundum mehr als ein Grundrecht ohne Not erheblich beschädigt worden.