Zur Atomkriegsstrategie der NATO

Erstschlag und Raketenabwehr

von Arno Neuber

Auf der Tagesordnung des NATO-Gipfels im April 2009 stehen der Aufbau einer NATO-Raketenabwehr in Europa und die Debatte über die Strategie des Bündnisses.

In der NATO laufen derzeit zwei Programme zur Raketenabwehr. Active Layered Theatre Ballistic Missile Defence (ALTBMD) ist ein Waffensystem zum Schutz von NATO-Truppen in Auslandseinsätzen, das bis 2010 in einer ersten Ausbaustufe einsatzbereit sein soll. Dazu werden einzelne NATO-Staaten die Sensoren und Waffenkomponenten zur Verfügung stellen, während sich die NATO insgesamt um die Führungsstrukturen kümmert.

Für ein zweites, weit umfangreicheres Raketenabwehrprogramm, mit dem das NATO-Territorium und die größten Bevölkerungszentren geschützt werden sollen, wurde 2002 beim Prager Gipfel der Auftrag für eine Machbarkeitsstudie erteilt. Mit der Anfertigung wurde ein Konsortium aus Rüstungsfirmen betraut, die mit dem System ökonomische Interessen verfolgen. Es verwundert daher kaum, dass die 10.000seitige und bis heute geheim gehaltene Studie zu dem Ergebnis gelangte, eine flächendeckende NATO-Raketenabwehr sei prinzipiell technisch realisierbar. Ihre Ergebnisse wurden von den „Verteidigungs“ministern im April 2006 bestätigt. Die Kosten des Systems sollen in voller Ausbaustufe zwischen 27,5 und 30 Milliarden Euro betragen, mit den notwendigen Frühwarnsatelliten werden es 40 Milliarden oder mehr sein. Beim NATO-Gipfel im April 2008 in Bukarest wurde der NATO-Rat damit beauftragt, Optionen für eine umfassende Raketenabwehrarchitektur auszuarbeiten, die auf dem Gipfel im Frühjahr 2009 überprüft werden.

Ganz im Gegensatz zur offiziellen Propaganda. geht es bei diesen Raketenabwehrplänen keineswegs um Verteidigung, sondern um die Fähigkeit zum Angriff. Selbst die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin bestätigt in einer Studie „dass gegenwärtig keine Risiken und Bedrohungen bestehen, die den Aufbau einer Systemarchitektur zur Flugkörperabwehr rechtfertigen“. Für den Autor liegt die Bedeutung der Raketenabwehr im Zusammenhang mit der Interventionspolitik der NATO und der EU. „Sowohl bei der NATO (NATO Response Force, NRF) als auch bei der Europäischen Union (EU-Battlegroups) stellt Deutschland erhebliche Teile der schnellen Eingreifkräfte (...) Sollte ein Staat, gegen den eine Intervention der Staatengemeinschaft unausweichlich geworden ist, der Bundesrepublik mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen drohen können, ergäbe sich eine drastisch veränderte strategische Lage.“ [1]

Das strategische Konzept
Im April 1999 beschloss die NATO auf ihrem Washingtoner Gipfel ein neues strategisches Konzept, mit dem sich die Allianz endgültig zu einem global agierenden Interventionsbündnis wandelte. Atomwaffen spielen in diesem Konzept weiterhin eine zentrale Rolle. Sie sollen jeden potentiellen Gegner im Unklaren über die Reaktion der NATO lassen.

Im Januar 2002 beschrieb der geheime Überprüfungsbericht des US-Atomwaffenarsenals, der Nuclear Posture Review, Atomwaffen als quasi gewöhnliche militärische Option im Arsenal der US-Armee. Russland, China, Irak, Iran, Nordkorea, Libyen und Syrien wurden zu „Schurkenstaaten“ erklärt, gegen die sich ein möglicher Atomschlag der USA richten könnte. Mit der Entwicklung von „Bunkerknackern“ und „Mininukes“ sollten Atomwaffen zum taktisch einsetzbaren Instrument werden. Der Atomwaffeneinsatz wurde auch „für den Fall überraschender militärischer Entwicklungen“ geplant.

Mit der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA vom September 2002 wurde die Sicherung der Dominanz der USA zum obersten Ziel der US-Politik erklärt. Der mögliche Angriffskrieg gegen jedes beliebige Land wurde zum probaten Mittel, um zu verhindern, dass von ihm in Zukunft eine Bedrohung für die USA und ihre Interessen ausgehen könnte. Dazu ist die absolute militärische Überlegenheit der US-Streitkräfte die Voraussetzung. Genau in diesem Zusammenhang gewinnt ein Raketenabwehrsystem seine Bedeutung. Für Robert Kagan und William Kristol, zwei führende US-amerikanische Neokonservative, ist „ein Raketenabwehrsystem … die (conditio) sine qua non für eine Strategie amerikanischer Vorherrschaft … Nur ein gut geschütztes Amerika wird in der Lage sein, Schurkenstaaten abzuschrecken – und wenn notwendig gegen sie vorzugehen – falls sie die regionale Stabilität gefährden.“

Im Januar 2008 berichtete die britische Zeitung „The Guardian“ über ein Strategiepapier von fünf ehemaligen NATO-Generalen, in dem die US-Atomkriegsstrategie für die NATO durchbuchstabiert wird. Unter dem Titel „Towards a Grand Strategy for an Uncertain World“ propagieren John Shalikashvili (ehem. Oberkommandierender der NATO in Europa), Klaus Naumann (ehem. Vorsitzender des Militärkomitees der Nato), Henk van der Bremen (ehem. NL-Oberkommandierender), Jacques Lanxade (ehem. franz. Oberkommandierender) und Lord Inge (ehem. Chef des britischen Generalstabes) den Ersteinsatz von Atomwaffen, um Staaten wie den Iran daran zu hindern, sich Atomwaffen zu verschaffen. „Der Ersteinsatz von Nuklearwaffen muss im Arsenal der Eskalation das ultimative Instrument bleiben, um den Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu verhindern“, heißt es in dem Papier.

Nach Presseinformationen wurde bereits beim NATO-Gipfel in Bukarest im April 2008 hinter verschlossenen Türen ernsthaft über den Ersteinsatz von Atomwaffen diskutiert. So meldete die Deutsche Press Agentur am 02.04.2008, „mit den präventiven Atomschlägen solle die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen in Zeiten des Terrorismus verhindert werden. Die Idee werde von mehreren NATO-Militärführern unterstützt. Dabei werde ein Einsatz gegen einen als gefährlich eingeschätzten Staat nicht ausgeschlossen.“

Die USA haben in Alaska und in Kalifornien zehn, bzw. fünf Abfangflugkörper (Ground-based Interceptors – GBI) ihrer bodengestützten Raketenabwehr für die mittlere Flugphase (Ground-based Midcourse Missile Defense System – GMDS) stationiert. Bis 2013 sind insgesamt 44 GBIs geplant. Obwohl die NATO Russland 1997 zugesichert hatte, keine strategischen Militärpotentiale in den neuen Mitgliedstaaten zu stationieren, sollen in Polen zehn bodengestützte Raketen mit Abfangflugkörpern und in Tschechien ein hochauflösendes X-Band-Radar als integrale Bestandteile des US-Abwehrschildes stationiert werden. Als offizielle Begründung für die US-Raketenabwehr führt Washington eine angebliche Bedrohung des US-Territoriums durch iranische Langstreckenraketen an, ein Argument, das jeglicher Glaubwürdigkeit entbehrt. So fehlt es dem Iran, die militärische Absicht unterstellt, an der notwendigen Raketen-Kapazität und er ist noch weit von der technologischen Fähigkeit entfernt, atomare Sprengköpfe mit ballistischen Trägermitteln über größere Entfernungen zu transportieren.

Die tatsächlichen Gründe für die hektischen Rüstungsanstrengungen der USA auf dem Gebiet der Raketenabwehr liegen woanders: „Die USA möchten insgesamt erreichen, dass sie als Weltmacht nuklear und konventionell handlungsfähig auch gegenüber solchen Staaten bleiben, die selbst mit Nuklearwaffen ausgestattet sind oder sein werden“, urteilen Frank Elbe, ehemaliger Leiter des Planungsstabes im Auswärtigen Amt der Bundesregierung und Ulrich Weisser, ehemaliger Leiter des Planungsstabes im Verteidigungsministerium. Deshalb habe die Bush-Regierung mit der Kündigung des ABM-Vertrages 2002, der den Aufbau flächendeckender Abwehrschirme verbot, „eine wichtige Säule des internationalen Gebäudes für strategische Rüstungskontrolle einstürzen lassen“ und „das Prinzip des sorgsam austarierten strategischen Gleichgewichts zwischen Russland und Amerika außer Kraft gesetzt.“[2]

Dass es bei der Raketenabwehr nicht um Verteidigung, sondern um Angriff geht, bestätigen auch Stimmen aus den USA. In der führenden außenpolitischen Zeitschrift der USA beschreiben die Autoren Keir A. Lieber und Daryl G. Press das US-Raketenabwehrprogramm als Instrument eines neuen Kalten Krieges gegen Russland und China.: “Die gegenwärtigen und künftigen Nuklearstreitkräfte der USA scheinen dafür konzipiert zu sein, einen präemptiven Entwaffnungsschlag gegen Russland oder China zu führen (…) Die Art von Raketenabwehr, die von den USA wahrscheinlich zum Einsatz gebracht werden wird, wäre primär in einem offensiven Kontext sinnvoll – nicht in einem defensiven – als Ergänzung einer amerikanischen Erstschlagfähigkeit, nicht als Schutzschild an sich.“[3]

Die Radarstation in Tschechien wäre in der Lage, russische Interkontinentalraketen zu erfassen, ihre Flugbahn zu verfolgen und verlässliche Daten für einen Abschuss zu liefern. Zusammen mit anderen Radaranlagen, die bereits betrieben werden oder noch in Planung sind, könnte man sämtliche auf dem russische Festland stationierten Interkontinentalraketen überwachen.

Experten halten es für möglich, dass in Polen stationierte US-Abfangraketen zu offensiven Waffen umfunktioniert werden können, die russische Atomraketensilos treffen könnten. In Russland herrscht aber vor allem die Furcht, dass es bei der Raketenstationierung in Polen nicht bleiben wird. Weitere Stationierungsorte sind bereits in der Diskussion. Dazu gehören Rumänien und Bulgarien, die Ukraine und Georgien. Gleichzeitig ist bis 2020 wegen Überalterung mit einer starken Reduzierung der russischen Interkontinentalraketen zu rechnen. Russland wird aus Kostengründen kaum in der Lage sein, seine U-Boot-gestützten Atomwaffen auszubauen. So könnte die atomare Zweitschlagfähigkeit Russlands ausgeschaltet werden. Oder mit anderen Worten: Der Atomkrieg wäre wieder möglich.

Während die Bush-Administration die Stationierung eines Raketenabwehrsystems in Europa mit äußerster Geschwindigkeit vorangetrieben hat, gibt es in der Obama-Crew Diskussionen über die Prioritätensetzung bei der Aufrüstung der US-Armee. Möglicherweise wird es Korrekturen beim Raketenabwehrprogramm geben. Daraus den Schluss zu ziehen, unter Obama werde die Raketenabwehr zu Grabe getragen, wäre allerdings eine Illusion. Er will vielmehr ein "effektives" und "kosteneffizientes" System. Vor allem aber dürfte die Obama-Regierung die NATO-Europäer dazu drängen, sich an den immensen Kosten zu beteiligen. Russland hat bereits Gegenmaßnahmen angekündigt. Ein neues Wettrüsten droht.

 

Anmerkungen
[1] Alexander Bitter: Die NATO und die Raketenabwehr. Implikationen für Deutschland vor dem Gipfel in Bukarest 2008, SWP-Studie, Oktober 2007

[2] Frank Elbe, Ulrich Weisser: Der Raketenstreit wächst sich zu einer internationalen Krise aus, DGAP-Standpunkt, Juni 2007

[3] Keir A. Lieber, Daryl G. Press: „The Rise of U.S. Nuclear Primacy, Foreign Affairs, March/April 2006

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Arno Neuber ist Mitglied des Friedensbündnisses Karlsruhe.