Zivilgesellschaft, Staat und neue Konflikte

Erwartungen und Herausforderungen für den Zivilen Friedensdienst

von Jochen Hippler

Politische Gewalt stellt weiterhin eines der schwerwiegendsten Probleme der menschlichen Gesellschaft dar. Das zwanzigste Jahrhundert mit seinen Weltkriegen und Hunderten weiterer Konflikte hat sich als besonders blutig erwiesen: neben den Dutzenden von Millionen Kriegstoten haben Regierungen außerhalb von Kriegshandlungen unvorstellbar viele Menschen aus politischen Gründen ermordet, durch Massaker, Völkermorde und politische Repression. Schätzungen reichen von 170 bis 350 Millionen Toten vom Jahrhundertbeginn bis Ende der 1980er Jahre - wohl gemerkt: zusätzlich zu den Toten aller Kriege. Auch nach Ende des Kalten Krieges bleibt das Gewaltniveau hoch, wie die Völkermorde in Ruanda und Burundi, auf dem Balkan und anderswo, der internationale Terrorismus oder die Kriege in Afghanistan und dem Irak demonstrieren.

Dabei hat sich in den letzten Jahrzehnten der Charakter gewaltsamer Konflikte dramatisch verändert. Zwischen-staatliche Kriege sind zwar nicht verschwunden, aber als besonders blutig und destruktiv erwiesen sich innergesellschaftliche Gewaltkonflikte. Bürgerkriege, "ethnische Säuberungen" und Massaker, sowie schwer lösbare Konflikte im Kontext von Staatszerfall und fragmentierenden Gesellschaften sind heute für die überwältigende Mehrzahl der Gewaltopfer verantwortlich. Deshalb rückt die Frage nach den innergesellschaftlichen Gewaltursachen immer stärker in den Vordergrund: Welche Rolle spielen wirtschaftliche oder politische Verteilungskämpfe um Ressourcen oder Macht? Wie bedeutsam sind ethnische oder religiöse Identitäten als Auslöser oder Verstärker von Gewalt? Wie wirken sich staatliche Zentralisierungs- oder Zerfallsprozesse aus? In welchem Verhältnis stehen interne und externe Einflussfaktoren? Ist das Fehlen von Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten oder Demokratie letztlich für innergesellschaftliche Gewalt verantwortlich? Oder sind politisch-ökonomische "Gewaltmärkte" (also die wirtschaftliche Gier von "warlords" und die Auflösung staatlicher Strukturen) der entscheidende Konfliktmechanismus? Wer heute Gewaltkonflikten vorbeugen, sie konstruktiv bearbeiten, ihre Opferzahlen senken oder durch eine Konfliktnachsorge zur Entwicklung eines dauerhaften Friedens beitragen möchte, muss diese und zahlreiche andere Fragen beantworten können.

Die neue Situation hat die politische Diskussion stark beeinflusst, wie man mit innerstaatlichen Kriegen oder humanitären Katastrophen wie Vertreibungen oder Völkermord umgehen soll. Dabei werden sehr unter-schiedliche Antworten gegeben. Humanitäre, angeblich humanitäre und imperiale Militärinterventionen sind in der Zeit nach Ende des Kalten Krieges leichter möglich als zuvor und gehören heute zum Standardrepertoire internationaler Politik. In diesem Zusammenhang wird auch der Nutzen "humanitärer Protektorate" diskutiert. In Bosnien, dem Kosovo und unter anderen Bedingungen in Afghanistan und dem Irak wird mit sehr gemischtem Erfolg mit unterschiedlichen Formen von Protektoraten experimentiert, wobei häufig externe Versuche des state-building und nation-building im Vordergrund stehen.

Ein anderer Diskussionsstrang besteht in den Möglichkeiten der Konfliktprävention, wie sie sich beispielsweise im entsprechenden Aktionsplan "Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung" der Bundesregierung niederschlugen. Aus der Zivilgesellschaft haben sich ebenfalls unterschiedliche Aktivitätsmuster herausgebildet: im Inneren etwa Friedensbewegungen, die durch öffentlichen Protest und andere Einflussnahme Kriegen und Gewalt entgegenwirken wollen (etwa durch große Demonstrationen in London, Madrid, Rom und anderswo vor dem Irakkrieg), nach außen beispielsweise durch Initiativen zur Einführung eines Zivilen Friedensdienstes, der nicht zuletzt auf ein Drängen aus dem kirchlichen Bereich auf die Tagesordnung gesetzt, inzwischen von staatlichen Stellen aufgenommen wurde und nun seit 1999 als staatlich-zivilgesellschaftliches Engagement verwirklicht ist.

Die Betonung einer stärkeren Rolle von Zivilgesellschaft in der Transformation von Konflikten fügt sich erkennbar in einen internationalen Trend ein. Beispielsweise erfolgte 2004 auf Anregung des UNO-Generalsekretärs Kofi Annan die Gründung der Global Partnership for the Prevention of Armed Conflict (GPPAC), einem weltweiten zivilgesellschaftlichen Netzwerk, das im Juli 2005 Vorschläge für eine stärkere Beteiligung von organisierter Zivilgesellschaft an den Bemühungen der UN zur Prävention von Gewalt erarbeitet hat.

Der Zivile Friedensdienst (ZFD) entspringt dem Bedürfnis, insbesondere innergesellschaftliche Konflikte nicht mehr durch Gewalt zu lösen, sondern gewaltlose Möglichkeiten einer Konfliktbearbeitung zu nutzen und zu stärken. Dabei stehen eine Einflussnahme vor Ausbruch von Gewalt und die Konfliktnachsorge im Zentrum der Aufmerksamkeit, während in Kontexten von eskalierten Gewaltkonflikten Ansätze zur zivilen Konfliktbearbeitung und des Zivilen Friedensdienstes naturgemäß weniger Erfolg versprechend und wesentlich schwieriger sind. Dabei will der ZFD an der Basis oder auf der mittleren Ebene gefährdeter Gesellschaften ansetzen und beispielsweise an Versöhnungs- und Dialogprozesse anknüpfen oder durch Mediations- und Selbstreflexionsmechanismen Beiträge leisten. Der ZFD ist ein neues Instrument innerhalb der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit und besteht insbesondere darin, analog zu Entwicklungshelfern friedenspolitisch ausgebildete Fachkräfte zu entsenden, die gemeinsam mit lokalen Partnern vor Ort (meist Nichtregierungsorganisationen) Friedenspotenziale stärken sollen. Viele zivilgesellschaftliche Akteure sehen ihre Rolle allerdings nicht primär entwicklungs-, sondern allgemein friedenspolitisch.

Dabei besteht allerdings nicht selten weiter die Herausforderung, die eingesetzten Mittel und die allgemeinen Ziele konkreter konzeptionell zu verbinden: was genau "Versöhnung" eigentlich ist, wie und unter welchen Bedingungen man sie fördern kann; und wann, warum und unter welchen Bedingungen inter-ethnische Dialoge zu Friedensprozessen beitragen (und wann sie irrelevant, wann sogar schädlich sein können) - solche Fragen gilt es noch näher auszufüllen. Sowohl die Akteure des Zivilen Friedensdienstes als auch die Wissenschaft haben hier noch reichlich konzeptionelle Arbeit zu leisten.

Es stellt sich natürlich die Frage, wie aussichtsreich und wirksam ein solches Engagement an der gesellschaftlichen Basis sein kann. Lassen sich tatsächlich durch relativ wenige "Friedensfachkräfte" Gewaltexzesse wie auf dem Balkan, in Westafrika, an den Großen Seen oder im Nahen und Mittleren Osten verhindern oder konstruktiv bearbeiten, um die dortigen Konflikte wieder in den Rahmen ziviler Problemlösung zurückzuführen? Die Frage auf diese Art zu stellen, würde den Chancen und Aufgaben des Zivilen Friedensdienstes kaum gerecht. Niemand sollte annehmen, durch einen so bescheidenen Personal- und Mitteleinsatz Katastrophen wie den Völkermord in Ruanda, die Balkankriege, oder den Krieg und Bürgerkrieg im Irak verhindern oder überwinden zu können - wer so unrealistische Erwartungen wecken wollte, hätte das Scheitern bereits vorweggenommen. Der Zivile Friedensdienst kann, wie auch die Entwicklungspolitik, Beiträge leisten, aber nicht eigenständig und allein seine Ziele erreichen. Zu seiner Wirksamkeit ist auch das Erreichen einer "kritischen Masse" an Personal und finanzieller Ausstattung erforderlich, wie dies bereits in der Evaluierung der Startphase des ZFD im Jahr 2002 von den Gutachtern gefordert worden war.

Gewaltkonflikte sind meist höchst komplex, ihre Dynamik hängt von zahlreichen Faktoren ab, die oft oberhalb der Einflussmöglichkeit von einzelnen Nichtregierungsorganisationen und erst recht deren externen Helferinnen und Helfern liegen. Ein Krieg um die Kontrolle der strategisch wichtigen Ölregion am Persisch-Arabischen Golf, der internationale Terrorismus (etwa das Massaker vom 11. September 2001 in New York) oder eine um Drogen, andere Ressourcen oder Waffenschmuggel gruppierte Kriegsökonomie sind durch die Entsendung einer Hand voll Friedensfachkräfte nicht zu verhindern, die zugrunde liegenden Konfliktursachen so nicht aufzuheben. Aber das kann auch nicht die Aufgabe des Zivilen Friedensdienstes sein. Der ZFD kann nur erfolgreich sein, wenn er sich nicht nur am übergreifenden Ziel des Friedens orientiert, sondern sich immer auch seiner Grenzen und Beschränkungen bewusst ist. Wer die Schranken der eigenen Möglichkeiten ignoriert, wird oft auch das nicht erreichen, was eigentlich möglich wäre.

Innergesellschaftliche Gewaltkonflikte sind vor allem Ausdruck politischer Krisen, aber sie haben oft wichtige ökonomische, soziale oder psychologisch-kulturelle Dimensionen. Die politische Konkurrenz unterschiedlicher gesellschaftlicher Eliten kann durch - beispielsweise - einen schrumpfenden Verteilungskuchen radikalisiert und in ethnischen oder religiösen Begriffen kommuniziert werden. Aber bereits "normale" wirtschaftliche Modernisierungs- oder Stagnationsprozesse können zu solcher Polarisierung oder zu Fragmentierungstendenzen beitragen. Es ist offensichtlich, dass eine präventive oder kurative Politik der Gewaltvermeidung in solchen Fällen an den Konfliktursachen ansetzen müsste, also etwa an einer krisenhaften Zuspitzung der wirtschaftlichen Situation. Wenn der Weltmarkt für das einzige Exportprodukt eines Landes zusammenbricht und sich so die Verteilungskämpfe zwischen sozio-politischen Gruppen verschärfen, wird die Organisation hoffentlich integrativer Diskurse in Teilen der gesellschaftlichen Basis sicher sinnvoll sein, die Probleme aber kaum lösen. Die meisten Akteure des Zivilen Friedensdienstes sind sich solcher Rahmenbedingungen ihrer Arbeit zwar bewusst, haben aber selten Einwirkungsmöglichkeiten darauf. Andererseits gibt es immer wieder Situationen, in denen politische Eliten einen Konflikt bis an den Rand oder über die Gewaltschwelle hinaus eskalieren lassen, weil sie annehmen, dass ihnen dies innergesellschaftlich Positionsgewinne verschafft. Auch deformierte oder fehlende Kommunikation zwischen sozialen oder ethno-religiösen Gruppen, Vorurteile und Fehlwahrnehmungen können wichtige Verstärkungsfaktoren einer Gewaltdynamik sein. In solchen Fällen können die lokalen Medien, religiöse Gemeinschaften oder die Zivilgesellschaft eine verschärfende oder dämpfende Rolle spielen - insbesondere, wenn solche Aktivitäten nicht isoliert bleiben, sondern mit politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Konfliktursachen verknüpft sind. Hier entsteht ein wichtiges Potenzial für den Zivilen Friedensdienst: nicht als Hauptmittel oder gar Ersatz für Friedensförderung auf der Makro-Ebene, sondern als Element eines integrierten Konzeptes, das makroökonomische, außen-, entwicklungs-, sicherheitspolitische und eben auch zivilgesellschaftliche Maßnahmen miteinander verknüpft. Bessere Exportmöglichkeiten, eine Landreform, die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit oder entwicklungspolitische Maßnahmen können entscheidend sein, um eine Konfliktdynamik zu transformieren oder eine solche Transformation in friedliche Bahnen zumindest zu ermöglichen - aber solche Ansätze müssen auch gesellschaftlich aufgenommen und ihre Chancen genutzt werden. Und genau dazu kann ziviler Friedensdienst einiges beitragen.

Häufig hängt das Potenzial friedfertiger Konfliktbearbeitung einer Gesellschaft auch davon ab, ob der lokale Staatsapparat alle gesellschaftlichen Gruppen fair integriert, ob er effektiv funktioniert, um die zentralen Staatsfunktionen (Sicherheit aller Bürgerinnen und Bürger, Partizipation, Infrastruktur im Bildungs-, Gesundheits-, oder Verkehrswesen, die Sicherung der Grundbedürfnisse, etc.) überhaupt und gleichmäßig gewährleisten zu können. Wenn - insbesondere in Krisensituationen - der Staat vor allem als Machtinstrument einzelner sozialer, ethnischer oder religiöser Gruppen gelten muss, wenn er etwa als korrupt und inkompetent erscheint, dann sinkt die Gewaltschwelle. Hier kann die Zivilgesellschaft - und mit ihr der Zivile Friedensdienst - unter Umständen Druck auf Besserung ausüben, aber die Probleme nicht selbst lösen. Kooperation mit der Außen-, Entwicklungs-, Außenwirtschafts-, Landwirtschafts-, und Sicherheitspolitik mag weiter schwierig sein, da diese ja selbst untereinander kaum abgestimmt sind und weil die zivilgesellschaftlichen Akteure mit gutem Grund auf ihre Autonomie achten - trotzdem liegt hier einer der Schlüssel zur Verbesserung der Wirksamkeit des ZFD, insbesondere seiner Rahmenbedingungen.

Die Akteure des Zivilen Friedensdienstes wären gut beraten, wenn sie - nachdem nun die schwierige Aufbauphase erfolgreich bewältigt scheint und die Instrumentarien zunehmend ausgereift sind - nunmehr ihr Augenmerk verstärkt auf zwei Punkte richten:

Einmal wäre es aus den genannten Gründen sinnvoll, den Staatsapparat und politischen Prozess in den Gastländern stärker in den Blick zu nehmen. So wichtig die dortigen Zivilgesellschaften (bzw. ihre Stärkung) sind, so bleibt doch der Staat ein Schlüsselfaktor bei der Frage gewaltfreien Konfliktmanagements oder der Gewalteskalation. Über Einflussmöglichkeiten an diesem strategischen Punkt verstärkt nachzudenken, wäre sicher von Nutzen.

Zweitens aber könnte stärker reflektiert werden, ob und wie die Akteure des Zivilen Friedensdienstes ihre Expertise in höherem Maße in Europa nutzbar machen könnten. Gerade weil die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit vor Ort in hohem Maße von gesamtpolitischen und internationalen Rahmenbedingungen außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischer Art abhängen, wäre eine verstärkte Einflussnahme auf diese Politikbereiche in Europa (und den USA) dringlich. Wer in der Dritten Welt Gewalt vermindern und Frieden fördern möchte, sollte sich als zivilgesellschaftlicher Akteur zwar durchaus in den Gastländern engagieren, aber dabei nicht außer Acht lassen, dass zentrale Faktoren der Gewalt und Gewaltvermeidung von den internationalen Rahmenbedingungen wesentlich geprägt werden. Deshalb hängen der Handlungsspielraum und die Erfolgsmöglichkeiten von Friedenspolitik und Zivilem Friedensdienst gerade von ihnen ab. Es wäre angebracht, über verstärkte Medien- und Lobbyarbeit in Europa nachzudenken, um so intensiver auf die friedenspolitischen Rahmenbedingungen einwirken zu können.

Der Zivile Friedensdienst wurde 1998 ins Leben gerufen und nahm 1999/2000 seine Arbeit auf. Bisher wurden 236 Fachkräfte entsandt und haben, nach ersten Anlaufschwierigkeiten, in zahlreichen potenziellen und aktuellen Konfliktländern wertvolle Beiträge zur Stärkung von Friedenspotenzialen geleistet. Diese Ansätze gilt es weiterzuentwickeln und dabei ein sicheres Gespür für die Chancen und Grenzen der eigenen Arbeit zu entwickeln. Die bisher entwickelten Stärken dürfen dabei nicht vernachlässigt werden, aber es wäre hilfreich, sie jenseits der Einzelprojektebene stärker in einen politischen Gesamtrahmen einzubetten.

aus: zfd, Ausgabe März 2006

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Jochen Hippler, Institut für Entwicklung und Frieden, Universität Duisburg-Essen. E-Mail: kontakt (at) forumzfd (Punkt) de Website: www.friedenbrauchtfachleute.de