Ein Interview mit Heinz Loquai

Es gab keine "Humanitäre Katastrophe" die einen Krieg rechtfertigte

Hintergrund
Hintergrund

Am 5.9.2000 war Brigadegeneral a.D. der deutschen Bundeswehr Dr. Heinz Loquai auf Einladung der Friedenswerkstatt Linz und Radio FRO bei der Veranstaltung "Medien und Krieg" in Linz. Er war seit 1996 hochrangiger Militärberater bei der OSZE-Balkanmission in Wien. Wegen seiner öffentlichen Kritik am deutschen Verteidigungsminister Scharping ("Der Minister hat zur Operation Hufeisen die Unwahrheit gesagt") musste der General vor zwei Monaten die OSZE verlassen. Heinz Loquai ist Autor des Buches "Der Kosovo-Konflikt - Wege in einen vermeidbaren Krieg" (Nomos-Verlag, April 2000).

Gerald Oberansmayr führte für die Zeitschrift "guernica" das folgende Gespräch:

guernica: Im Westen ist das Feindbild eindeutig. Die Serben sind die "Schurken". Leute wie Scharping und Fischer haben nicht einmal den Vergleich mit den Nazis gescheut und Parallelen zu Auschwitz hergestellt.

Loquai: Lassen Sie mich gleich etwas zum Auschwitz-Vergleich sagen. Dass gerade deutsche Politiker diesen Vergleich angestellt haben, finde ich ungeheuerlich. Damit werden die Verbrechen der Nazis an den Juden in einer Art und Weise verharmlost, die man sonst als "Auschwitzlüge" bezeichnet. Wenn ein normaler Bürger in Deutschland das tun würde, müsste er mit einem Gerichtsverfahren rechnen. Vertreter jüdischer Organisationen haben sich zu recht entschieden gegen den Auschwitz-Vergleich verwahrt.

guernica: Wie beurteilen Sie die Verantwortung für die kriegerische Eskalation im Kosovo?

Loquai: Man muss die Entwicklung in der Endphase des Kosovokonflikts als Bürgerkrieg sehen - mit großem Leid auf beiden Seiten, für die beide Kriegsparteien verantwortlich waren. Wie waren die Kräfteverhältnisse zu Beginn 1998? Auf der einen Seite der bewaffnete Arm der Kosovo-Albaner, die UCK: ca. 3.000 Kämpfer, schlecht ausgebildet, schlecht bewaffnet, doch hoch motiviert, für die Unabhängigkeit des Kosovo zu kämpfen. Auf der anderen Seite: 10.000 gut ausgebildete Soldaten der jugoslawischen Armee, 10.000 serbische Polizisten und 3.000 Grenzsoldaten. Bewaffnung: 200 Panzer, 400 bis 500 Schützenpanzer, 500 Artilleriegeschütze; gut ausgebildet, gut organisiert. Wie konnte es angesichts dieser rund hundertfachen Überlegenheit der jugoslawisch-serbischen Seite sein, dass ein halbes Jahr später 40 % des Kosovo unter der Kontrolle der UCK waren? Von einer fortgesetzten "serbischen Aggression" kann also in diesem Zeitraum nicht die Rede sein. Danach beging jedoch die UCK den - aus militärischer Sicht - einzigen operativen Fehler während des Krieges: sie versuchte nämlich, die serbische Armee in offener Feldschlacht anzugreifen und in die Städte vorzudringen, wo sie jedoch große Verluste hinnehmen musste. Die UCK erlitt eine militärische Niederlage, jedoch einen politischen Sieg. Denn die durch die Kämpfe ausgelösten Flüchtlingswellen führten zur ersten Kriegsdrohung der NATO gegen Jugoslawien im Oktober 1998.

In der Folge kommt es zum Milosevic-Holbrooke-Abkommen, in dem sich die jugoslawische Seite bereit erklärt, sich militärisch auf die Positionen zu Beginn 1998 zurückzuziehen und 2.000 OSZE-Beobachter im Kosovo zuzulassen. Die Serben hielten sich zunächst an das Abkommen, nicht jedoch die bewaffneten Albaner, die ja auch an den Verhandlungen nicht beteiligt waren. Die UCK rückte allmählich in die von der jugoslawischen Armee verlassenen Stellungen vor, sie griff wieder die Armee und Polizei an und tötete Soldaten und Polizisten. Die nun folgenden Auseinandersetzungen spielten sich meist nach folgendem Muster ab: die UCK provoziert durch Überfälle, die serbischen Einheiten reagieren grausam und unverhältnismäßig.

guernica: Wie erklären Sie sich diese Strategie der UCK?

Loquai: Die UCK wollte keine friedliche Lösung des Konflikts mit den Serben. Ein friedlicher, politischer Ausgleich hätte die Unabhängigkeit des Kosovo auf die lange Bank geschoben. Das erklärte Ziel der Albaner war die Abspaltung der Provinz von Serbien. Man muss auch sehen, dass die weitgehend gewaltfreien Bemühungen der Albaner in den Jahren davor zu keiner Verbesserung ihrer Situation geführt hatten. Hierdurch kam die UCK erst auf. Die UCK konnte angesichts ihrer hoffnungslosen militärischen Unterlegenheit den Krieg nur gewinnen, wenn es ihr gelang, die NATO auf ihre Seite zu bringen. Und das war ohne Eskalation der Gewalt im Kosovo nicht möglich. Das entschuldigt natürlich nicht das Vorgehen der serbischen Seite. Gerade ihre unverhältnismäßig brutalen Reaktionen haben der Strategie der UCK in die Hände gespielt. Aber in unseren Medien wurde immer nur die serbische Reaktion dargestellt, nicht jedoch die vorangegangenen Aktionen der albanischen Seite.

guernica: Sie sprechen in Ihrem Buch davon, dass es von Mitte Oktober bis Anfang Dezember 1998 ein "Fenster der Gelegenheit" für eine friedliche Lösung gab. Können Sie das näher erläutern und warum wurde diese Chance verspielt?

Loquai: Wie gesagt, die Serben hielten sich zunächst an das Milosevic-Holbrooke-Abkommen und zogen sich zurück. Es wäre nun erforderlich gewesen, auch die Albaner zur Aufgabe des bewaffneten Kampfes zu bewegen, einen wirklichen Waffenstillstand herbeizuführen und einen Verhandlungsprozess in Gang zu bringen. In dieser Situation wäre es entscheidend gewesen, die OSZE-Beobachter möglichst rasch vor Ort zum Einsatz zu bringen. Das ist nicht gelungen. Die Stationierung der OSZE-Beobachter ging viel zu schleppend vor sich. Es ist zu keiner Zeit gelungen, die vereinbarte Zahl von 2.000 Verifikateuren zu erreichen. Die bewaffneten Auseinandersetzungen haben sich dann wieder gehäuft. Ab Dezember 1998 haben dann auf beiden Seiten die "Falken" wieder das Geschehen bestimmt. Das erste "Fenster der Gelegenheit" für eine politische Lösung schloss sich wieder.

guernica: Gab es politische Interessen im Westen, die OSZE-Mission im Kosovo zu hintertreiben?

Loquai: Das kann ich so nicht bestätigen. Die OSZE hatte für eine so große Mission nicht die organisatorischen Kapazitäten. Man hatte jedoch schon den Eindruck: diese Mission genoss in vielen Ländern nicht oberste Priorität. Während die Fachleute Tag und Nacht arbeiteten, fehlte auf der politischen Ebene oft die Bereitschaft, der OSZE rasch alle notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Fragen der Finanzierung und der Personalrekrutierung wurden zögerlich behandelt. Dennoch kann man sagen, dass die OSZE-Mission im Kosovo durchaus Erfolge hatte. Dort wo die OSZE-Beobachter vor Ort waren, trat für die Zivilbevölkerung eine spürbare Verbesserung ihrer Lage ein.

Es gab jedoch noch ein zweites "Fenster der Gelegenheit" für eine friedliche Lösung: das waren die Verhandlungen von Rambouillet. Wenn diese Verhandlungen geklappt hätten, wäre es zu einer friedlichen Lösung gekommen.

guernica: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Rambouillet keine Verhandlungen waren, sondern ein Diktat.

Loquai: In Rambouillet fanden in der Tat keine Verhandlungen statt. Zu keiner Zeit saßen sich die Kriegsparteien gegenüber. Informationen wurden nur über Dritte ausgetauscht. Den militärischen Teil des Abkommens, der die Bewegungsfreiheit für NATO-Truppen in ganz Jugoslawien vorsah, erhielt die serbische Seite erst zwei Tage vor dem Ende der Verhandlungen. Rambouillet war der Versuch, Jugoslawien eine bedingungslose Kapitulation ohne Krieg aufzuzwingen. Man konnte nicht erwarten, dass die Belgrader Führung das annehmen würde. Ich glaube jedoch nicht, dass man die Schuld am Scheitern dieses Prozesses ausschließlich den NATO-Ländern geben kann. Die Vorschläge von jugoslawischer Seite zur internationalen Kontrolle im Kosovo kamen zu zögerlich. Belgrad schien bereit zu sein, die OSZE-Mission auf 7.000 Mann mit leichter Bewaffnung aufstocken zu lassen. Doch man hätte das eindeutig vorschlagen müssen, was zur Beendigung des Krieges zugestanden wurde: eine UN-mandatierte Friedenstruppe unter Führung der UNO oder OSZE im Kosovo. Um es in einem Bild auszudrücken: wenn die NATO und Jugoslawien in ihren Positionen 100 Meter voneinander entfernt waren, dann war die NATO bereit, an der Brücke zum Kompromiss 5 Meter zu bauen, die jugoslawische Seite 20 Meter. Doch dies reichte eben nicht zur Überbrückung.

guernica: Gerade in Deutschland und Österreich wurde der NATO-Angriff mit der Abwendung einer "humanitären Katastrophe" im Kosovo argumentiert. Wie sah die Situation im Kosovo im März 1999, also unmittelbar vor dem Beginn der Bombardements, aus?

Loquai: Wenn man sich die verfügbaren Berichte der OSZE und anderer internationaler Organisationen anschaut, gibt es nur eine Schlussfolgerung: Eine humanitäre Katastrophe, die einen Krieg rechtfertigte, lag vor Beginn der NATO-Luftangriffe im März 1999 keineswegs vor. Es war keine Massenflucht in die Wälder zu beobachten, es gab keine Anzeichen für eine koordinierte Großoffensive der jugoslawischen Armee. Bei uns weitgehend unbekannt ist auch die Tatsache, dass relativ viele Serben auf der Flucht waren. Aus den Berichten der OSZE-Mission geht hervor, dass im Februar 1999 im Kosovo 41 Menschen und im März 39 Menschen getötet wurden - Albaner, Serben, Roma und Vertreter anderer Minderheiten. Verstehen Sie mich nicht falsch: jeder Tote ist eine individuelle humanitäre Katastrophe und ich sage nicht "nur" 39 oder 41 Tote, aber angesichts dieser Zahlen von Völkermord zu reden, wie dies zur Begründung des Kriegsbeginns getan wurde, entspricht einfach nicht den Tatsachen.

guernica: Wer drängte in diesen Krieg? In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Deutschland als erster bereits beim NATO-Außenministertreffen im Mai 1998 eine militärische Intervention im Kosovo forderte, was damals selbst Amerikaner und Briten erschreckte. Später jedoch treten eindeutig die USA als die bestimmende Kraft auf.

Loquai: Die Deutschen waren im Frühjahr 1998 bestrebt, die USA mit in die Verantwortung für die Konfliktlösung zu bringen. Die USA zögerten noch, sich daran aktiv zu beteiligen. Nachdem die NATO aber eingeschaltet war, haben die Amerikaner auch konsequent und entschieden die Führung übernommen. Ihr Ziel war es, die UNO herauszuhalten. Im Sommer 1998 reiste US-Außenministerin Albright durch die europäischen Hauptstädte, um alle Europäer auf diese Linie zu bringen. Denn zu dieser Zeit waren noch viele europäische Politiker davon überzeugt, dass für einen Krieg gegen Jugoslawien ein Mandat des UN-Sicherheitsrats unerlässlich sei. Ab Dezember 1998, als Stimmen aus den USA schon nicht mehr an einen Erfolg der OSZE-Mission glaubten, setzte die NATO immer mehr auf die militärische Karte. Die Glaubwürdigkeit des Bündnisses schien auf dem Spiel zu stehen. Ein UN-Mandat hat man bewusst nicht eingeholt, um die neue NATO-Strategie, die zu diesem Zeitpunkt in der Endphase ihrer Entwicklung war, durch die praktische Politik zu bestätigen.
 

guernica: Wie beurteilen Sie die Situation im Kosovo seit Ende des Krieges?

Loquai: Die Albaner, auch die, die schon vor Ausbruch des Krieges in die Nachbarländer geflüchtet waren, sind zurückgekehrt. Das ist gut so. Das Kosovo ist ein UN-Protektorat, von der NATO geschützt. Die Soldaten haben eine ganz schwere Aufgabe. Sie müssen die Suppe auslöffeln, die ihnen die Politiker eingebrockt haben. Serben, Roma und andere Minderheiten sind zum großen Teil aus dem Kosovo geflüchtet oder vertrieben worden. Das heißt die NATO wollte eine noch nicht existierende "humanitäre Katastrophe" verhindern und hat zwei tatsächliche humanitäre Katastrophen geschaffen: eine für die Kosovo-Albaner während des Krieges und eine für die Serben, Roma und andere Minoritäten nach dem Krieg. Nach meiner Einschätzung wird die NATO 30 bis 40 Jahre im Kosovo bleiben müssen. Mit Kosten von 105 Milliarden Schilling im Jahr. Am schlimmsten ist aber der Hass, den der Krieg zwischen den Menschen gesät und gezüchtet hat. Er macht auf Jahrzehnte ein friedliches Zusammenleben unmöglich.

guernica: Welche Handlungsvorschläge für die praktische Politik leiten Sie aus den Erfahrungen Ihrer Arbeit bei der OSZE-Balkan-Mission ab?

Loquai: Ich habe dazu in meinem Buch ein eigenes Kapitel geschrieben. Ganz kurz einige Überlegungen:

Erstens: Wenn ich in einem Konflikt vermitteln will, muss ich das Vertrauen aller Konfliktparteien haben. Die meisten NATO-Länder waren antiserbisch und proalbanisch.

Zweitens: Man muss die OSZE befähigen, ganz schnell ihren Auftrag zu erfüllen. Dafür muss es auch die entsprechenden Mittel geben. In Wien werden ja die organisatorischen Voraussetzungen auch schon verbessert.

Drittens: Unsere Präventionsfähigkeit ist zu schwach ausgeprägt. Man muss genauso, wie man die Verteidigung zu einer Staatsaufgabe gemacht hat, die Fähigkeit zur friedlichen Prävention zu einer Staatsaufgabe machen. Konkret heißt das: Schaffung einer staatlichen Organisationsform für diese Aufgabe, Ausbildung von "Präventionsspezialisten". Wenn man nur ein Prozent des Verteidigungshaushaltes für diese Aufgabe verwenden würde, hätte man viel erreicht. Was aber tut man in Deutschland: die militärischen Interventionsfähigkeiten werden ausgebaut, für die Vorbeugung tut man wenig.

Viertens: Man muss aus den gemachten Fehlern lernen, dafür muss die Wahrheit über diesen Krieg ans Licht. Solange die verantwortlichen Politiker glauben, alles, aber auch alles, richtig gemacht zu haben und Kritiker ihrer Politik abqualifizieren und diffamieren, wird sich nichts ändern, man wird die gleichen Fehler wieder machen.

guernica: Sie als hochrangiger Militär treten für die Stärkung ziviler, nichtmilitärischer und vorbeugender Konfliktlösungen ein. Die rot-grüne Regierung, in der ehemalige Pazifisten Ministerämter bekleiden, hat Deutschland in den ersten Angriffskrieg seit 1945 geführt und orientiert seither auf eine massive Aufrüstung der EU. Wie erklären Sie sich diese militaristische Wende ehemaliger Pazifisten?

Loquai: Das möchte ich als unkommentierte Groteske einfach so stehen lassen.

aus: "guernica" Zeitung der Friedenswerkstatt Linz/Donau.

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