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Einige Gedanken nach einem Besuch im Kaukasus
Es gibt keine militärische Lösung in Tschetschenien
vonDas letzte Mal hatte ich Russland anläßlich der END-Convention 1991 besucht. Ich habe eine lebhafte Erinnerung an die Atmosphäre der Verwirrung in einem Land, wo die meisten Menschen siebzig Jahre lang gezwungen gewesen waren, zu schweigen und dann auf einmal über jedes Thema von UFOs bis Politik sprechen konnten. Nur Stunden, nachdem ich Moskau verlassen hatte, begann der Putsch. Die Freunde, mit denen ich am Abend zuvor eine Flasche Wodka in einer kleinen Küche in einer der vielen Moskauer Vorstädte geteilt hatte, waren jetzt die Helden der Straße in einem der vielen faszinierenden Beispiele von 'Peoples Power', die wir in Osteuropa seit den frühen achtziger Jahren beobachten konnten.
Fünf Jahre später landete ich wieder auf dem Moskauer Flughafen auf dem Weg nach Tschetschenien. Das Land war so verändert und das einzige, was wirklich gleich geblieben schien, war die Mafia, die die Flughafentaxis kontrolliert. Eine internationale Delegation reiste, begleitet von Frauen der Russischen Soldatenmütter und der Union der nordkaukasischen Frauen nach Tschetschenien.
Wer kontrolliert die Armee?
Am ersten Tag hatten wir ein Treffen mit den Sprechern der demokratischen Yabloko Fraktion im Parlament. Es war sehr offensichtlich, daß sie sich im Wahlkampf befanden und wir herausfiltern mußten, was für uns von irgendeinem Wert sein konnte. Sie waren 100 % sicher, daß Jeltzin letztlich hinter allem steckt, was in Tschetschenien passierte. Diese Frage wurde zum roten Faden auf unserer gesamten Fahrt. Wer kontrolliert die Armee? Die demokratische Opposition in der Duma konnte mich auf diesem Treffen nicht überzeugen. Mein Gefühl, daß Jeltzin sich bereits auf einem Nebengleis befindet, wurde immer stärker, je mehr ich darüber erfuhr, was vor sich ging.
Jetsins Waffenstillstand
Am nächsten Tag bestiegen wir ein überfülltes Flugzeug nach Ingushetien. Eineinhalb Stunden nach der Landung hatten wir das erste Treffen in Sleptsovskaya, nur einige Kilometer von der tschetschenischen Grenze entfernt. Von dort konnten wir die Bombardierungen hören. Die Bomberflugzeuge flogen mit einem schrecklichen Geräusch über unsere Köpfe und wir konnten die ganze Nacht die Bomben fallen hören. So viel zu dem international angekündigten Waffenstillstand... Meine schon erwähnten Zweifel bezüglich Jeltsins wurden stärker.
Offener Zugang nach Tschetschenien?
Am nächsten Tag hielt Jeltsin eine weitere Pressekonferenz in Moskau ab. Er teilte der Welt mit, daß der Krieg vorbei sei und daß jeder, der wolle, frei in Tschetschenien herumreisen und sich selbst davon überzeugen könne. Dies war der Tag, an dem russische Soldaten uns daran hinderten, Sernovodsk zu betreten. Sie gestatteten nur einheimischen Frauen durch Durchgang und der Delegation gelang es, einige Frauen mit Kameras in die kürzlich bombardierte Stadt zu schmuggeln.
Dokumentation der Kriegsverbrechen
Ich war beeindruckt von Mitgliedern der "Union nordkaukasischer Frauen". Diese tapferen Frauen, die ein tiefes Verständnis der militärischen und politischen Situation wie von der humanitären Seite des Konfliktes haben, leisten eine enorme Arbeit in dem Kriegsgebiet. Sie haben sich zur Aufgabe gemacht, den Krieg zu dokumentieren. Sobald wie möglich nach Ende der Angriffe betreten sie die bombardierten Ortschaften und machen Video-und Fotoaufnahmen von dem, was geschehen ist. Sie zeigten uns unbeschreibliche Bilder: Massengräber von Zivilisten, Hunde, die tote Soldaten fressen, vergewaltigte Frauen, Massaker an Kindern, Leichen, die zusammen mit Autoreifen verbrannt wurden, um Beweise zu vernichten, verletzte und gefolterte Männer aus den Lagern und anderes. Ihr Hauptproblem ist, die Informationen der russischen Öffentlichkeit und dem Rest der Welt zugänglich zu machen. Dies ist eine wichtige Aufgabe für die globale Friedensbewegung. Wir müssen die Realität dieses schrecklichen Krieges darstellen, damit er auf die politische Tagesordnung in jedem bilateralen und internationalen Kontakt mit Russland kommt.
Nach Grozny
Trotz einer Warnung des Roten Kreuzes beschlossen wir, nach Grozny zu fahren. Wir bestiegen einen Bus, der einem Flüchtlingspaar aus Sernovodsk gehörte. Ihr Haus war bombardiert worden und alles was sie noch hatten, waren der Bus, einige Decken und ein paar Kleider. Der Bus konnte nur sehr langsam fahren, weil die Straßen in sehr schlechtem Zustand sind. Nach einigen Stunden kamen wir an den ersten russischen Checkpoint. Die Soldaten schienen nervös zu sein und wollten uns nicht durchlassen. Die Vertreterinnen der Soldatenmütter und der Union der nordkaukasischen Frauen gelang es aber, in einer halbstündigen Verhandlung die Soldaten zu überzeugen. Dies war nicht das letzte Mal, daß diese Frauen uns die Durchfahrt möglich machten.
In Grozny wurde die ganze achtzehnköpfige Gruppe in einem privaten Haus mit eindrucksvoller Gastfreundlichkeit untergebracht. Viel großartiges Essen, Matratzen und alles, was wir sonst brauchten. Als nächstes Stand ein Besuch im OSZE-Büro auf dem Programm. Tim Guldimann, ein Schweizer Diplomat, gab uns eine Einführung und war sehr offen, wenn er die russischen Truppen in Tschetschenien beschuldigte, "Krieg gegen die Zivilbevölkerung" zu führen. Er sagte, daß die Truppen sich "willkürlicher Zerstörung und systematischen Plünderungen" hingäben und Geld von Dörfern als Gegenleistung dafür erpressten, sie nicht anzugreifen. Er gab uns die Kopie eines Dokuments, das die Ältestenräte in den Dörfern unterzeichnen müssten.
Später trafen wir Vertreter der pro-Moskauer Regierung in Grozny und sie stritten jedes Wissen über ein solches Dokument ab. Der Minister weigerte sich sogar, einen Blick auf die Kopie zu werfen, die ich mitgebracht hatte. Im alten kommunistischen Stile vermied er jede schwierige Frage und versprach alle Arten von Hilfe, sogar, daß er uns helfen werde, die geschlossene Stadt Samashki zu besuchen. Aber natürlich ginge dies nicht an einem Sonntag und wir müssten nächste Woche wiederkommen...
Völlig zerstört
In Grozny gingen wir einige Stunden in dem völlig zerstörten Stadtzentrum spazieren. Einige Leute leben immer noch in den Kellern, aber die meisten Häuser wurden eingerissen, einige zusätzlich vermint. Ich fühlte mich an Bilder von Dresden und Stalingrad erinnert.
Einige Leute haben begonnen, kleine Dinge auf Straßenmärkten zu verkaufen, vor allem geschmuggelter Tand aus der Türkei und lokal gebackenes Brot. Nichts funktioniert in dem zentralen Gebiet; nicht die Post, keine Telefonverbindungen, keine Polizei, keine Wasserversorgung, keine Elektrizität, keine Müllabfuhr. Während des Tages konnten wir außerhalb der Stadt Bomben fallen hören. Als das Stadtzentrum bombardiert wurde, zählte die OSZE 4.000 Granaten pro Stunde! Zum Vergleich: Bei den Angriffen auf Sarajevo zählte die UN 3.500 Granaten pro Tag.
Am Nachmittag verließen wir Grozny für ein geheimes Treffen mit Dudajev. Wieder einmal hatten die einheimischen Frauen ein Wunder vollbracht. Nach einigen Checkpoints, Gesprächen mit Offizieren aus Dudajevs Armee und viel Wartens trafen wir zwei von Dudajevs Leibwächtern. Sie waren von unseren großen Zahl überrascht und wollten nur einige von uns, die Presseausweise hatten, passieren lassen. Da diese das Treffen auf Video aufnahmen, konnten wir alle es hinterher ansehen.
Ein deprimierendes Treffen
Als ich später das Interview ansah, war ich wirklich deprimiert. Es war offensichtlich, daß Dudajev ein intelligenter Mann war, aber seine politischen Analysen waren mit viel islamischer Rhetorik gemischt. Es war offensichtlich, daß er in eine militärische Lösung glaubte und er war überzeugt, daß ihn keine russische Armee auf dem Schlachtfeld schlagen könne. Er hat wahrscheinlich Recht, aber der Preis wird die Fortsetzung der Massaker an der Zivilbevölkerung sein. Als er gefragt wurde, wie er die Tatsache kommentieren würde, daß kein Land der Welt Tschetschenien anerkannt habe, wurde er ärgerlich und teilte uns mit sehr lauter Stimme mit, daß BSE und Aids Strafen seien, mit denen Gott die westliche Welt dafür strafen würde, daß sie den kaukasischen Völkern keine Beachtung schenke.
Er war sicher, daß Jeltsin in Moskau sich bereits auf einem Abschiebegleis befände und daß der rot-braune Block zusammen mit den Streitmächten die Macht habe. Der gesamte Wahlprozess sei zusammengeschustert und er wüsste, daß nichts Gutes für die kaukasischen Völker dabei herauskommen würde. Über die Verhandlungen sagte er, daß es sinnlos sei, mit jemand zu verhandeln, der nicht die Armee kontrolliere. Aber wenn er mit jemand sprechen könne, der sowohl die politische wie die militärische Macht in den Händen halte, könne man innerhalb einer halben Stunde zu einer Übereinkunft kommen.
Wir fanden überall in Tschetschenien viel Respekt für Dudajev. Aber auch Leute, die offen sagte, daß sie ihn nur als Anführer des Befreiungskampfes unterstützten und daß er nicht die richtige Person sei, um die neue Gesellschaft aufzubauen, wenn die russischen Truppen das Land verließen.
Wiederaufbau der Gesellschaft
Es war bemerkenswert, wie schnell die Leute damit anfingen, ihre zerstörten Häuser wieder aufzubauen. Sobald die Bombardierungen aufhörten, mischten sie Beton und füllten die Löcher in den Wänden. Auch größerer Schaden wurde repariert und dann das Haus angemalt. Innerhalb von Tagen sehen die Gebäude wie neu aus und die EinwohnerInnen sind mit gutem Grund stolz. Kinder spielen in den Straßen, alte Frauen gehen herum und sammeln nützliche Dinge aus den niedergerissenen Häusern, Schulkinder helfen ihren Eltern bei den Alltagsverrichtungen und sie alle scheinen entschlossen, in Grozny weiterzuleben.
Nichtregierungsorganisationen
Einige Male hatten wir Gelegenheit, mit einigen neugegründeten NROs zusammenzutreffen. Sie haben nach siebzig Jahren kommunistischer Herrschaft wenig Erfahrung damit, ihre Aktivitäten zu organisieren. Einige gaben uns wirklich zu denken, wenn sie mit ehrlichem Staunen in ihrer Stimme fragten: 'Ist das nur eine der alten kommunistischen Lügen, daß Ihr im Westen große Bewegungen habt, die sich um Rechte von Tieren statt um die Rechte menschlicher Wesen kümmern?'
Die Zukunft
Auf unserer Rückfahrt nach Ingushetia fragte ich mich, was Friedensbewegungen in diesem Krieg ausrichten können. Plötzlich fingen einige Soldaten an einem Checkpoint an, über unsere Köpfe in die Luft zu schießen, um den Bus anzuhalten. Als ich die kaukasischen Frauen einmal mehr zu ihnen gehen und verhandeln sah, kam ich zu der Überzeugung, daß westliche AktivistInnen wenig, wenn überhaupt etwas ausrichten können, während der Krieg noch weitergeht. Unsere Hauptaufgabe muß sein, die Welt darüber zu informieren, was geschieht. Dies darf nicht einer von jenen vergessenen Kriegen werden. Und es ist unsere Aufgabe, die politische Aufmerksamkeit auf Tschetschenien zu lenken, wenn IWF, Weltbank, EU und USA Kredite an Russland geben. Dank der Dokumentationsarbeit lokaler AktivistInnen können wir die politische Kraft sein, das Massaker in Tschetschenien zu beenden! Wenn Jeltsin über den Waffenstillstand und die angeblichen offenen Grenzen zu Tschetschenien spricht, müssen wir protestieren und die Beweise für seine Lügen vorlegen.