Armenische Kriegsgefangene in Qobustan

Es ist Krieg in Aserbaidschan

von Bernhard Clasen
Hintergrund
Hintergrund

Auf Einladung der aserbaidschanischen Sektion der "Helsinki Citizens Assembley" hielt ich mich im Oktober 1994 in Aserbaidschan auf.

Seit 6 Jahren herrscht Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region Nagornij Karabach. Ein Krieg, wie ein Mitglied der aserbaidschani­schen Veteranorganisation berichtet, in dem keine Regeln beachtet werden, in dem alle Grausamkeiten vorkommen. Seit Mai ist Waffenstillstand. Doch die­ser Waffenstillstand ist noch sehr unsta­bil, solange (Karabach)-Armenien 25% des aserbaidschanischen Territoriums besetzt hält, solange auf beiden Seiten Gefangene sind, solange Armenien sogar Kinder als Geiseln festhält.

Doch es gibt auch hoffnungsvolle Zei­chen in dieser Region: So haben sich in Armenien und Aserbaidschan Helsinki-Gruppen gegründet, die sich die Auf­gabe gestellt haben, Kontakte "von un­ten" zwischen beiden Seiten herzustel­len. Die armenischen und aserbaidscha­nischen Helsinki-Gruppen sind über­zeugt: nur Kontakte von unten können ein Klima schaffen, in dem letztlich ein Friedensschluss zwischen ArmenierIn­nen und AserbaidschanerInnen möglich ist.

Ziel meiner Reise nach Aserbaidschan war es gewesen, mich mit der Situation der ca. 1 Mio. Flüchtlinge vertraut zu machen (bei einer Bevölkerungszahl von 7 Mio.). Vielleicht, so dachte ich bei der Reisevorbereitung, kann ich hinterher eine deutsche Hilfsorganisa­tion davon überzeugen, diesem Lnad zu helfen.

Eine Woche, bevor ich nach Baku flog, telefonierte ich von Kiew aus mit der armenischen Sektion der HCA. Anat Bavabdur, die Sprecherin der armeni­schen HCA, gab mir eine Liste von ca. 90 Armeniern, die zur Zeit in Aserbaid­schan in Kriegsgefangenschjaft sind. Sie bat mich etwas über das Schicksal die­ser Männer herauszufinden.

Die Flüchtlinge leben in riesigen Zelt­städten

Am dritten Tag fahre ich mit meinen aserbaidschanischen Freunden nach Berde im Norden Aserbaidschans. Dort vor allem leben die meisten der mittler­weile über eine Mio. Flüchtlinge. Wenn ich nicht wüsste, dass in diesem Land ein grausamer Krieg herrscht, würde ich hier gerne Urlaub machen. Die Fahrt von Baku in den Norden Aser­baidaschans ist landschaftlich so inter­essant, daß ich zeitweise völlig ver­gesse, daß ich mich gerade in einem kriegführenden Land befinde.

Fünf Stunden nach Baku, beginnt das Leid besonders sichtbar zu werden. In der Ferne sehen wir zunächst einen rie­sigen Campingplatz. Doch beim  ge­naueren Hinsehen sehen wir, daß dies alles andere als ein Campingplatz ist. Das ist eine riesige Zeltstadt mit zigtau­send Menschen, die hier vorübergehend eine Bleibe gefunden haben. Der Tag, an dem ich die Zeltstädte besuchte, war besonders heiß. An so einem Tag wird einem noch nicht bewusst, was es heißt, Sommer und Winter im Zelt leben zu müssen. Spätestens in der folgenden Nacht, als es in Baku gewittert, spüre ich, was es heißt, in einer Zeltstadt le­ben zu müssen.

Doch die Zeltstadt war noch nicht das schlimmste. Wenig später kommen wir an einen alten Bahnhof. Dort stehen ganze Reihen von ausrangierten Eisen­bahnwaggons. In diesen Waggons leben ganze Familien. Wenn in diesem Wag­gons in Deutschland Tiere transportiert werden würden, würden sie sicherlich der Tierschutzverein beschweren. Doch diese Menschen hier klagen wenig über ihren Zustand. Sie sind froh, daß sie noch rechtzeitig haben fliehen können. Hätten sie die Flucht nicht geschafft, wären sie entweder tot oder in armeni­scher Gefangenschaft. Da ziehen sie ihr heutiges Schicksal doch dem vor, was viele ihrer Verwandten, Eltern oder Kinder erleben mußten.

Doch das schlimmste, was ich hier an Behausungen für Flüchtlinge gesehen habe, war das Stadion. Wir fahren zum Stadion der Stadt Berde. Auf den ersten Blick sieht hier alles recht idyllisch aus. Ein paar Jugendliche kicken vor dem Tor. Erst bei näherem Hinsehen sehen wir die vielen Menschen, die hier hau­sen müssen. Unterhalb der Stadionbänke ist ein Hohlraum, der früher sicherlich als Lagerraum für Röhren und alles Mögliche andere Material haben mag. Heute leben hier Flüchtlinge in ihren Lumpen. Die Räume sind feucht und haben wenig Licht. Die blanken Leitun­gen hängen von der Decke. Ich passe sehr auf, daß ich nicht eine dieser Lei­tungen berühre. Manches Kind soll hier schon durch einen Stromschlag umge­kommen sein.

Der Veteranenverein

Am nächsten Tag ist ein Treffen mit dem aserbaidschanischen Veteranenverein angesagt. Das waren übrigens die einzigen Leute, die sich nicht fotogra­fieren wollten. Dass diese Menschen Pa­zifisten wären, wäre sicherlich zu viel gesagt. Sie kritisieren ihre Regierung, weil diese nicht entschieden genug ge­gen den Feind kämpfe. Sie verzeihen es dieser nicht, daß mittlerweile 25% von Aserbaidschan in armenischer Hand ist. Wenn sie nur könnten, sie würden auch weiterhin gegen den Feind kämpfen. Auf meine Frage, wie sie sich denn eine friedliche Lösung des Konfliktes vor­stellen, antworten sie, daß sie sich eine friedliche Lösung nicht vorstellen kön­nen vorstellen können, daß sie sich für eine militärische Lösung dieses Kon­fliktes einsetzen. Solange Armenien aserbaidschanisches Gebiet besetzt hal­ten würde, solange müsse man den Feind weiterhin bekämpfen. Doch trotz allem: als ich davon spreche, daß ich Anfang nächsten Jahres nach Armenien fahren möchte, bitte sie mich herauszu­finden, ob es denn auch in Armenien einen Veteranenverein gäbe. Sie würden gerne mit diesem Veteranverein in Kontakt treten und sich mit armenischen Veteranen treffen wollen.

Armenische Kriegsgefangene

Einen Tag später wird mir dann zuge­sagt, daß ich mich mit armenischen Kriegsgefangenen treffen kann. Wir fah­ren nach Qobustan. Dies ist zwei Auto­stunden von Baku entfernt. Wir fahren mit einem offiziellen Vertreter des Au­ßenministeriums. Er ist Mitglied der Kommission für Kriegsgefangene.

Ich finde es sehr bedrückend, in dieses Lager hineinzugehen. Sehr viel Stachel­draht. Ich darf alles fotografieren, nur den Stacheldraht soll ich nicht fo­tografieren. Dann geht zunächst alles so, wie es mir bei allem Einrichtungen hier passiert. Unsere Gruppe unterhält sich mit dem obersten Chef dieses La­gers, was ich nicht sehr interessant finde. Ich schaue auf die Uhr, weiß uns nur zwei Stunden zur Verfügung stehen, und finde es als störend, so lange mit den Chefs reden zu müssen. Dann end­lich, nach knapp einer Stunde, können wir in das Gebäude gehen, in dem die Gefangenen schon - in Reih und Glied aufgestellt - auf uns warten. Ich weiß, daß wir wenig Zeit haben, deswegen fange ich an, jeden nach seinem Namen, seinem Geburts- und Herkunftsort zu befragen. Danach mache ich von jedem ein Foto. Beides, sowohl die Liste als Liste als auch die Fotos werde ich später den Armeniern übergeben. Was die materiellen Voraussetzung angeht, leben die Gefangenen hier besser als die meisten Flüchtlinge, die ich am Tage zuvor gesehen haben. Die fünf Gefan­genen, mit denen ich mich  ausführli­cher unterhalten konnte, hatten mir nicht von Misshandlungen berichtet. Ich kann mich mit allen allein unterhalten. Doch in der Stunde, die mir zur Verfügung steht, schaffe ich es zwar alle zu fotografieren, sie nach ihrem Namen und Geburtsdatum zu befragen. Nur mit fün­fen konnte ich ein ausführlicheres Ge­spräch führen. Trotzdem waren es keine Vorzeigegefangene. Es waren einfach die 25 ersten, die auf meiner Liste stan­den.

Daß es in einem Krieg Kriegsgefangene gibt, ist denke ich Teil des Krieges. Daß hier jedoch auch Menschen festgehalten sind, deren einziges Verbrechen es sein soll, Armenier zu sein, finde ich unver­ständlich. So berichten einige davon, daß sie im Zug gesessen hätten und auf aserbaidschanischen Territorium aus dem Zug heraus verhaftet worden wä­ren. Ein anderer berichtet, daß er selber noch bis zum April in Baku gelebt hätte. Er sei zur Hälfe Russe und zur Hälfte Armenier. Nun sitzt er schon ein halbes Jahr hier ohne Anklage. Er sei nur des­wegen hier, sagt er, weil man es für ver­dächtig empfinde, daß er Armenier sei.

Einen Tag später werde ich vom aserbaidschanischen Außenminister Has­san Hassanonv empfangen. Dabei sprach ich auch an, daß ich schockiert war, gesehen zu haben, daß in Qobustan nicht nur Kriegsgefangene inhaftiert sind, sondern auch zivile Gefangene. Er geht auf meine Kritik nicht ein, sagt, daß er die einzelnen Fälle zwar nicht di­rekt kenne, daß es sich aber wahr­scheinlich um Terroristen handeln würde. Außerdem, so Hassan Hassanov, habe Armenien alle dort lebenden Aser­baidschaner vertrieben.

Eine Woche Später bin ich in Moskau. Dort treffe ich mit dem Sprecher der HCA von Nagornij Karabach zusam­men. Karen Ogandschanjan ist nicht ir­gendwer. Er ist derjenige, der in Nagor­nij Karabach ein Treffen von Kara­bach-Armenien und Aserbaidschanern organisiert hatte, er ist Mitglied im "Ausschuss für Kriegsgefangene und Geiseln" und er ist, wenn er gerade in Moskau ist - und da ist er oft - der Leiter der Abteilung Karabach in der armeni­schen Botschaft. "Ich bin schon immer Menschenrechtler gewesen, ich war der einzige in ganz Nagornij Karabach, der sich öffentlich von Chodschali distan­ziert hat." (Zur Erinnerung: 1992 war die aserbaidschanische Stadt Chodschali von Armenien eingenommen worden. Wer nicht mehr rechtzeitig fliehen konnte, war umgebracht oder als Geisel in armenische Gefangenschaft gebracht worden).

Ich finde es wichtig zu sehen, daß die Menschen, die sich auf beiden Seiten des Konfliktes für Kontakte mit Ange­hörigen des verfeindeten Volkes einset­zen, keine Dissidenten im eigenen Land sind, bzw. wenn sie die Regierung kriti­sieren, dann eher von rechts. So sagen die VertreterInnen des aserbaidschani­schen HCA, die übrigens alle gleichzei­tig auch führende Positionen in der sozialdemokratischen Partei innehaben, daß es unter ihrer Führung nicht vorge­kommen wäre, daß Aserbaidschan 25% des Landes an den Feind verliert. Man ist für eine disziplinierte Armee, die in der Lage ist, das verlorene Gebiet wie­der zurückzuerobern. Während die aserbaidschanische HCA ihre Regierung zwar noch kritisiert, ist die armenische HCA und die karabach-armenische HCA ganz auf Regierungslinie. So ist die Sprecherin der armenischen HCA, Anait Bayandur, gleichzeitig Parla­mentsabgeordnete und eng Mitarbeiterin des Präsidenten. Ihr Faxanschluss ist übrigens der gleiche wie der des Präsi­denten. Und auch der Sprecher der ka­rabach-armenischen HCA, Karengandschanjan ist kein Dissident. Er ar­beitet an führender Stelle in der arme­nischen Botschaft in Moskau, ist der stellvertretende Vorsitzende des staatli­chen Komitees für Gefangene und Gei­seln und bezeichnet sich selber als Pa­triot. "Ich möchte nicht, daß die Kon­takte zwischen uns und den Aserbaid­schanern von jemandem anderen orga­nisiert werden als von mir. Mein Volk weiß, daß ich niemals seine Interessen verraten werde, daß ich immer armeni­scher Patriot sein werde. Würde diese doch sehr heikle Sache von jemand an­derem organisiert, könnte das ganze leicht außer Kontrolle geraten." Als ich höre, daß er schon das Treffen zwischen den Aserbaidschanern und den Arme­niern in Stepanakert organisiert hat, frage ich ihn, ob es denn nicht möglich wäre, ein Treffen von aserbaidschani­schen und armenischen Veteranen zu organisieren. Ich wäre vom aserbaidschanischen Veteranverein gebeten worden, diese Bitte in Armenien vorzu­tragen, was ich nun hiermit tue. Doch er lehnt ab. Alles könne er organisieren, ein Treffen von armenischen und aser­baidschanischen Jugendlichen, ein Tref­fen von armenischen und aserbaidscha­nischen Frauen, doch für ein Vetera­nentreffen wäre sein Volk noch nicht reif. Vielleicht später einmal.

Schlussfolgerungen

Mir ist gerade bei meinem Aserbaid­schan-Aufenthalt deutlich geworden, daß es für uns durchaus Möglichkeiten gibt, gewaltfrei in die Konflikte in der früheren Sowjetunion einzugreifen.

Dies sollten wir auch tun. Konkret schlage ich vor, daß wir eine Reise in eine ausgewählte Konflikteregion in der früheren Sowjetunion unternehmen. Dort werden wir mit Flüchtlingen, (gefangenen, Politikern zusammentref­fen. Bereits vorher werden wir ankündi­gen, daß wir hinterher eine Pressekonfe­renz abhalten werden, auf der wir über uns bekannt gewordene Menschen­rechtsverletzungen berichtet werden. Ich hatte in Moskau ein Gespräch mit Oleg Orlow. Oleg Orlow ist Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation "Memorial" und dort zuständig für inte­rethnische Konflikte. Er selbst war Mit­glied einer Beobachtergruppe von "Memorial" und "Helsinki Watch" nach Tadschikistan gewesen, er hat sich lan­gere Zeit mit den Konflikten um Kara­bach und Inguschetien beschäftigt. Er ist der Auffassung, daß Menschenrechts­gruppen die Möglichkeit haben, in diese Konflikte einzugreifen. Gerade in der Provinz, so Orlow, wäre man sehr stolz über Besuch aus Moskau oder gar dem Ausland. Deswegen würde man sich dort große Mühe geben, vor diesen Gä­sten ein möglichst gutes Bild abzuge­ben. Und deswegen spielt die Drohung einer Menschenrechtsorganisation, über Menschenrechtsverletzungen der Öffentlichkeit Mitteilung zu machen, eine nicht zu unterschätzende Rolle. "Memorial" so Orlow, überlege zur Zeit, eine mehrmonatige Friedensmission in eine Konfliktregion der früheren So­wjetunion zu unternehmen. Konkret soll ein Team von jeweils 3 oder 4 Leuten jeweils eine Konfliktseite für mehrere Wochen besuchen. Hierbei soll dieses Team mit Menschenrechtlern, Flücht­lingen, Oppositionellen, Gefangenen sprechen. Natürlich geht so eine Aktion nur in Absprache mit beiden Seiten. Sehr schön, so Orlow, wäre es, wenn sich an dieser Aktion auch andere Orga­nisationen, z.B. die deutschen Grünen, beteiligen würden. Dadurch würde diese Aktion noch mehr an Gewicht gewin­nen.

Es ist wichtig, Menschen bei so einer Reise mitzunehmen, die mit der Region vertraut sind. oft kann man durch kleine Unachtsamkeit das Vertrauen der Menschen vor Ort verlieren.

Im Karabach-Konflikt gibt es von bei­den Seiten sehr widersprüchliche Aus­sagen was die Behandlung der Gefangenen angeht. So behaupten die Aserbaid­schaner, dass praktisch allen Aserbaid­schanern, die in armenischer Gefangen­schaft gewesen sind, die Goldzähne ausgeschlagen worden sind. Häufig würden an Gefangenen auch medizini­sche Versuche unternommen werden. Die Armenier weisen diese Vorwürfe als Ungeheuerlichkeit zurück und be­haupten ihrerseits, daß sehr viele Ge­fangene als Krüppel entlassen würden.

Ich denke, daß es doch ein leichtes wäre, diese Vorwürfe nachzuprüfen. Wenn z.B. auf einer derartigen Reise ein Arzt mitgenommen würde, ließe sich leicht feststellen, ob an einem Gefange­nen Versuche gemacht worden sind.

Wichtig finde ich es auch, daß wir beide Seiten humanitär unterstützen. Denn da­durch zeigen wir, daß wir ihre Probleme wirklich ernst nehmen.

Gleichzeitig können wir eine Art Ver­mittlerrolle übernehmen. Wenn ich daran denke, wie oft ich in Moskau von Armenien und Aserbaidschanern ange­rufen wurde, um der anderen Seite etwas mitzuteilen, ist mir deutlich, daß ich als Einzelperson geholfen habe, das Gespräche zwischen beiden Seiten in Gang zu halten. Eine, wie ich meine, sehr wichtige Aufgabe. Es sollte über­legt werden, wie diese Aufgabe weiter­hin wahrgenommen werden kann.

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