Eine Momentaufnahme

EU-Militärpolitik in Abhängigkeit und Konkurrenz zur NATO

von Christof Grosse

In den großen europäischen Tageszeitungen konnte man am 17.12.2008 über die Bilanz lesen, die Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy tags zuvor zum Ende der halbjährigen französischen EU-Ratspräsidentschaft vor dem EU-Parlament in Strassburg gezogen hatte. Neben einhelliger Anerkennung der Presse für die aktive Rolle, die Frankreich bei der Vermittlung im Georgienkrieg und mit seiner entschlossenen Reaktion auf die Finanzkrise gespielt habe, wurde aber auch auf eine ganze Reihe verfehlter Ziele hingewiesen. So machte etwa die NZZ vom 17.12.2008 neben der Mittelmeer-Union und dem Pakt für Migration und Asyl vor allem ein verfehltes sicherheitspolitisches Ziel aus, nämlich die offenbar gescheiterten "Pläne, die EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu einem europäischen Pfeiler der transatlantischen Sicherheitsstruktur aufzuwerten."

Was war geschehen? Rechtzeitig zum NATO-Gipfel Anfang April 2008 in Bukarest hatte Sarkozy mit Blick auf die kommende französische EU-Ratspräsidentschaft einen historischen sicherheitspolitischen Wechsel und erstmals seit 1966 eine Rückkehr Frankreichs in die NATO verkündet. Tatsächlich ging es ihm um das kerneuropäische Konzept der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion ESVU aus der Zeit des Irakkriegs 2003. Gekoppelt mit der gleichzeitigen Zusage von 700 französischen Soldaten für den Afghanistaneinsatz setzte er "auf Transparenz und Unterstützung für die NATO, auf die Wiedereingliederung in die Bündnisstrukturen, um damit das ESVU-Projekt voranzubringen", so Etienne de Durand vom "Französischen Institut für Internationale Beziehungen" IFRI (zitiert nach SPIEGEL-ONLINE vom 30.3.2008). Diese Doppelstrategie erwies sich spätestens mit dem Georgienkrieg im August 2008 als gescheitert, zu unterschiedlich traten die Interessen von US-geführter NATO, "Altem" und "Neuem" Europa bei ihren Beziehungen zu Russland hervor.

Das Jahr 2003 ist in mehrfacher Hinsicht ein Schlüsseljahr
Es liegt in der Mitte einer Reihe rasanter Paradigmenwechsel vom Kosovokrieg 1999 bis heute. Der Krieg gegen Jugoslawien hatte die "Schwäche" Europas gegenüber der Entschlossenheit der US-geführten NATO offenbart, die sich im selben Jahr auf dem Gipfel von Washington eine neue Strategie der weiträumigen Interventionsfähigkeit in Krisensituationen gab. Als Reaktion darauf entstanden mit der Lissabonstrategie von 2000 erste Pläne, das Ziel, die EU bis 2010 "zum wettbewerbfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen" (Europäischer Rat, 24.3.2000), auch durch die Entwicklung militärischer Fähigkeiten zu flankieren. Nachdem die Anschläge des 11.9.2001 erstmals den NATO-Artikel 5 (Beistandspflicht) in Kraft gesetzt hatten, präzisierte wiederum die NATO, im Höhenflug des anfänglichen Erfolgs ihres Afghanistankriegs, ihre neue Strategie auf dem Gipfel von Prag 2002 mit der Vorstellung des Konzepts der "NATO Response Forces" NRF (eigenen schnellen Eingreiftruppen).

Doch dann ändern sich die Vorzeichen. Die Absetzbewegung des "Alten Europa", d. h. vor allem Frankreichs und Deutschlands, von der Irak-Kriegspolitik der "Koalition der Willigen" fiel 2003 nicht von ungefähr zusammen mit der Präsentation der "Europäischen Sicherheitsstrategie" ESS durch den ehemaligen NATO-Generalsekretär und jetzigen Hohen Beauftragten der EU, Solana, und mit der Vorlage des durch den EU-Konvent ausgearbeiteten EU-Verfassungsvertrags-Entwurfs. Geradezu überstürzt suchte sich die neue "Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik" ESVP ihre erste Aktionsmöglichkeit in Form der "Operation Artemis" in der Kongoprovinz Ituri. Parallel dazu und ebenfalls in engem deutsch-französischem Einvernehmen lief der Ratifizierungsprozess für die Verfassung, zur rechtlichen Absicherung der darin enthaltenen militarisierenden Punkte Pflicht zur Aufrüstung, Aufbau einer europäischen Verteidigungsagentur und Aufstellung von sog. Battle Groups. Für die letzteren steht als einer der ersten Pools die deutsch-französische Brigade in Müllheim bereit.

2005 bekommen die Ambitionen sowohl der NATO als auch der EU-Strategen jeweils entscheidende Dämpfer
Die NATO "verzockt" sich in Afghanistan, wo die Situation aus dem Ruder zu laufen beginnt, während die US-Administration gleichzeitig immer neue Truppen in den im Chaos versinkenden Irak schicken muss. Wegen in Afghanistan fehlender Truppen wird das Konzept der NATO Response Forces zunehmend obsolet. Auf der anderen Seite werden das EU-Verfassungsprojekt und mit ihm die Legitimation für die bereits arbeitende Verteidigungsagentur in den Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden klar abgelehnt. Die Politikwechsel in Deutschland 2005 und in Frankreich 2007 führen zu einer Wiederannäherung von EU und NATO, gleichzeitig brechen die Unterschiede zwischen den west- und osteuropäischen Staaten in den Fragen EU- und NATO-Erweiterung voll auf.

Auch weiterhin bleibt das Changieren ein Hauptmerkmal des Verhältnisses von ESVP und NATO. Gemeinsamkeiten wie der Parallelismus der Strukturen und einigende Bande wie der Afghanistankrieg und das als Allzeit-Legitimation dienende Prinzip Terrorismusbekämpfung können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Europa der 27 Mitgliedstaaten so grundverschiedene Vergangenheiten in Militärtradition, kolonialer Vergangenheit, ehemaliger Blockzugehörigkeit bis 1989 hat, dass eine gemeinsame Stimme, in Abhängigkeit oder in Konkurrenz zur NATO, schwer vorstellbar erscheint. Hinzu kommt, dass die EU die USA, als die die NATO dominierende Macht, inzwischen in der Wirtschaftskraft ihrer Konzerne übertrifft, dass ihre militärischen Fähigkeiten aber hinter denen der USA  nach wie vor weit zurückstehen: die EU bietet den Anblick eines Riesen auf Spinnenbeinen.

Eine neue NATO-Strategie wird angedacht
In diese Situation stößt nun die CSIS-Studie fünf ehemaliger hoher NATO-Generäle, darunter des deutschen Klaus Naumann: "Towards a Grand Strategy for an Uncertain World" von Anfang 2008 (CSIS: "Center for Strategic and International Studies", Washington), zu finden unter: www.csis.org/component/option,com_csis_events/task,view/id,1468/). Sie enthält erste Anhaltspunkte für die 2009 zu erwartende neue NATO-Strategie. Ihre Hauptanliegen sind das Bemühen um eine umfassende Reintegration der EU in die NATO und die klare Neuausrichtung des Bündnisses gegen Russland und China. Ausführliche geopolitische Erörterungen belegen die in den Militärstäben der NATO, aber auch der EU inzwischen weitgehend verinnerlichte Legitimation selbst von Offensivkriegen mit dem Gebot der Sicherung von Rohstoffen und Transportwegen.

Die geopolitische Denkrichtung findet sich in den europäischen Think-Tanks, namentlich auch den deutschen, ebenfalls schon seit den 1990er Jahren. Die ersten Misstöne waren 1992 bei der Neudefinition der Bundeswehraufgaben zu vernehmen. Der jetzige Staatsminister im Außenministerium Gernot Erler tat sich zielbewusst 1998 mit einer Mittelasien-Studie hervor. Auch ein immer wieder ins Spiel gebrachtes humanitäres Engagement der EU im Sudan stünde im Fall der Umsetzung in mehr als engem Zusammenhang mit den bislang vor allem von China beanspruchten Öl- und Gasvorkommen des Landes. Die jüngsten Anti-Piraterie-Einsätze der EU wirken wie eine Farce, doch kann die Begleitkakophonie kaum verschleiern, dass der reiche Norden hier einen der ersten Verteidigungskriege gegen den armen Süden führt.

Die jüngsten Entwicklungen
Groteske Züge bekommt das vielschichtige Verhältnis zwischen EU und NATO nach dem erneuten Versuch der vertraglichen Absicherung des neoliberalen, militarisierenden Europa-Modells durch den EU-Vertrag von Lissabon 2007 und der erneuten Ablehnung des Projekts in der irischen Volksabstimmung vom 12.6.2008. Der EU-Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit brüskierte beim Besuch einer Gruppe von EU-Parlamentariern in Prag am 5.12.2008 den tschechischen Präsidenten Vaclav Klaus mit Vorwürfen wegen seiner kritischen Einstellung zum Lissabonvertrag und seiner Beziehungen zum irischen Vertragsgegner Declan Ganley. Hintergrund ist eine parlamentarische Untersuchung, die Cohn-Bendit allen Ernstes im September anstrengte, um zu beweisen, dass dem Nein der Iren eine Verschwörung neokonservativer US-amerikanischer Kreise zugrunde lag mit dem Ziel der Destabilisierung eines starken und autonomen Europas (Sunday Times, 28.9.2008).

Das Pentagon, das von Ganley mit Kommunikationssystemen beliefert werde, und die CIA hätten Ganleys Libertas-Kampagne finanziert. Unterstützt wurde Cohn-Bendit in dieser Anschuldigung durch Hans-Gert Pöttering, den Präsidenten des EU-Parlaments. Sie beziehen sich auf eine Studie von Sally McNamara von der Heritage Foundation zum Verhältnis von Lissabonvertrag und NATO (www.heritage.org/Research/Europe/bg2109.cfm). Die mit emotionaler Befangenheit erhobenen Vorwürfe lassen tiefreichende Schlüsse auf den Vorstellungshorizont der beiden Lissabonvertrags-Verfechter zu, denen eine starke und autonome Europäische Militärunion in Konkurrenz zur US-geführten NATO überaus wünschenswert zu sein scheint.

Fazit
Kurz vor dem "Jubiläumsgipfel" der NATO in Strassburg am 3./4.4.2009 bietet sich nach dem eben Gesagten das Schauspiel einer offensichtlichen "Aufholjagd" der NATO auf der einen, einer Gegen-Positionierung der EU und ihrer Sicherheits-und Verteidigungspolitik auf der anderen Seite. Eine Zusammenfassung der Positionen von EU und NATO, wie von der französischen Ratspräsidentschaft versucht, versagt an den Gegebenheiten. Höchstwahrscheinlich würde im Fall einer Auflösung der NATO, wie sie die europäische Zivilgesellschaft fordert, die nach wie vor als "Friedensmacht" vorgestellte EU militärisch sofort in das Vakuum drängen. Umso wichtiger ist es daher, dass jetzt wirkliche zivile Alternativen für eine europäische Politik entwickelt werden. Nicht eine Verteidigungsagentur, eine Agentur für friedliche Konfliktbearbeitung wird gebraucht. Rohstoffe lassen sich am besten durch faire völkerrechtliche Verträge sichern. Als einer der mächtigsten Wirtschaftsräume hat die EU die Möglichkeit, ihre Politik mit zivilen Mitteln aus der Position einer souveränen und gelassenen Selbstbeschränkung heraus zu gestalten. So wollte und will es jedenfalls die Mehrheit ihrer BürgerInnen in den Stellvertreter-Abstimmungen von 2005 und 2008.

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Christof Grosse ist Mitglied der pax christi-Kommission Friedenspolitik, die sich seit 2003 intensiv mit dem EU-Verfassungsthema auseinandergesetzt hat, und vertritt pax christi zur Zeit in der Kooperation für den Frieden.