EU-Verfassung und EU-Osterweiterung

von Stephan Lindner

Zur Begründung der EU-Verfassung heißt es, sie bereite die EU auf die Herausforderungen der Osterweiterung vor. Anspruch und Wirklichkeit liegen leider meilenweit auseinander. Statt eine Lösung auf die immer drängender werdenden sozialen Probleme in den alten und neuen EU-Staaten zu geben, hält die EU auch mit der neuen Verfassung an einem neoliberalen Irrweg fest. Das wird die bereits bestehenden Probleme weiter verschärfen und als vermeintlich einzigem Ausweg zu weiterer Ausgrenzung und Repression führen. Wie das in Zukunft auch im Westen Europas aussehen kann, lässt sich im Osten heute bereits beobachten.

Bereits kurz nach der Wende begannen die meisten der ehemaligen Ostblockstaaten, ihre Märkte radikal zu liberalisieren. Für die meisten Waren wurden die Zölle drastisch gesenkt, und billige Importwaren aus den westlichen Industrieländern verdrängten die einheimische Produktion. In Estland ging das sogar so weit, dass dieses Land mit dem EU-Beitritt seinen Zolltarif wieder anheben muss, weil er mittlerweile unter dem der EU liegt. Viele inländische Betriebe mussten schließen und die Arbeitslosigkeit stieg. Um mit der neuen Konkurrenz aus dem Westen Schritt zu halten, wurde dringend Kapital benötigt. Da dies im Inland nicht vorhanden war, musste versucht werden, es aus dem Ausland zu beschaffen. Zwischen den Beitrittsstaaten der EU entwickelte sich ein zunehmender Konkurrenzkampf um ausländische Investitionen. Bei der Privatisierung der Staatsbetriebe wurden die meisten, die nicht geschlossen werden mussten, an ausländische Investoren verkauft. Durch niedrige Steuern sollte zusätzliches Kapital ins Land gelockt werden. Großinvestoren wurden sogar auf Jahre völlig von der Steuer befreit.

Auch die von den ausländischen Investoren neu geschaffenen Arbeitsplätze können die durch den immer stärkeren Wettbewerbsdruck und Rationalisierungszwang verloren gegangenen Arbeitsplätze nicht ausgleichen. In Polen, dem mit Abstand größten Beitrittsstaat, beträgt die Arbeitslosenquote heute über 20%. Bei den unter 25-Jährigen liegt sie sogar bei über 40%. Aus der Slowakei werden über 17% gemeldet. Besonders hoch ist sie dort unter den Roma. In der Ostslowakei gibt es Roma-Dörfer, in denen kein einziger Arbeit hat.

Da man befürchtet, hohe Steuern könnten neue Investoren abschrecken, findet in allen Beitrittsstaaten eine massive Umverteilung von unten nach oben statt. Während für die Reichen und die Unternehmen die Steuern immer weiter gesenkt werden, spart der Staat bei den Armen. Polen und die Slowakei haben kürzlich beschlossen, eine Einfachsteuer einzuführen. Seitdem gilt bei der Lohn-, Einkommens- und Gewinnsteuer, wenn ein Unternehmen davon nicht gänzlich befreit ist, ein einheitlicher Satz von 19%. Für eine einfache Verkäuferin in Bratislava, die vorher den niedrigsten Steuersatz von 10% abführen musste, hat sich die Lohnsteuer dadurch fast verdoppelt. Der Spitzensteuersatz, der vorher bei 35% lag, halbierte sich hingegen fast. In der Slowakei wurde auch die Mehrwertsteuer auf 19% festgelegt, in Polen soll das demnächst noch beschlossen werden. Für Luxuswaren ist das eine Steuersenkung, für die meisten Waren jedoch eine Erhöhung.

Die höheren Steuern für die Menschen mit niedrigem Einkommen können die Defizite im Staatshaushalt nicht ausgleichen. Deshalb werden neben der Aufnahme weiterer Schulden gleichzeitig massive Einschnitte in das soziale Netz vorgenommen. In der Slowakei halbierte man zum 1. März die Sozialhilfe. Kinder bekommen seitdem so gut wie gar keine Sozialhilfe mehr. Dies vergrößerte vor allem die Not der auf dem Arbeitsmarkt stark diskriminierten, kinderreichen Roma. Sie wissen seitdem nicht mehr, wovon sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen. Als es zu regelrechten Hungeraufständen mit Supermarktplünderungen kam, antwortete die Regierung nicht nur mit dem größten Polizeieinsatz seit dem Ende des realexistierenden Sozialismus, sondern schickte obendrein 1000 Soldaten, um die "öffentliche Ordnung" wiederherzustellen. Die Reformen werden hingegen mit den gleichen Worten gerechtfertigt, wie hierzulande die Hartz-Gesetze: Er habe doch nur das "System der Passivität" der Roma mit "Aktivierungsmaßnahmen" anregen wollen, so der slowakische Sozialminister Kanik. Tatsächlich liegt der Steuer- und Sozialpolitik die gleiche Logik zu Grunde wie in Deutschland der Agenda 2010. Kapital und hohe Einkommen sollen massiv entlastet werden in der Hoffnung, das würde zu mehr Investitionen und damit zu einem wirtschaftlichen Aufschwung führen. Die Entwicklung im Osten, die auf einem sehr viel niedrigeren Niveau stattfindet als hierzulande, zeigt aber, dass dies nur zu einer wirtschaftlichen Abwärtsspirale führt, die vor allem die Ärmeren immer stärker belastet.

Die Regierungen der Beitrittsstaaten sind für das, was sich im Osten der zukünftigen EU abspielt, nicht allein verantwortlich. Sie folgten mit dieser Politik nicht nur dem Rat internationaler Institutionen wie dem IWF und der Weltbank, sondern auch den Empfehlungen der EU. Die Stimme der deutschen Regierung hat dabei auf Grund der wirtschaftlichen Leistungskraft Deutschlands und dem großen Interesse der deutschen Industrie an der Osterweiterung ein besonders großes Gewicht.

Dass diese Politik eines Tages zu einem wirtschaftlichen Aufschwung beitragen könnte, ist unwahrscheinlich. Von dem in diesen Ländern überall zu beobachtenden Steuer- und Sozialdumping profitieren vor allem große Konzerne aus den westlichen Industriestaaten, ganz besonders aus Deutschland. Die meisten von ihnen haben ihre Produktionsstätten in den Osten verlagert, um von den dort niedrigen Löhnen und Abgaben zu profitieren. Sie produzieren größtenteils für den Export und sind mit der inländischen Wirtschaft nur wenig verflochten. Sollten die Produktionskosten irgendwann steigen, werden sie wahrscheinlich einfach weiterziehen.

Die nächste Folge einer verfehlten EU-Politik wird in Polen demnächst sein, dass viele kleine Bauern aufgeben müssen und arbeitslos werden. Während ihre westlichen Kollegen, stark subventioniert aus Brüssel, in den Beitrittsstaaten schon seit Jahren ihre Überproduktion zu Billigstpreisen absetzen, zeigt sich die EU bei den neu hinzukommenden Landwirten weniger spendabel. Auch der polnische Staat wird, auf Grund immer knapper werdender Mittel und Brüsseler Regelungen, seine Bauern nicht mehr so wie bisher unterstützen. Das hat eine weitere Verschärfung der sozialen Krise zur Folge.

Die einzige Antwort, die die geplante EU-Verfassung in dieser Lage weiß, ist eine "freie Marktwirtschaft mit starkem Wettbewerb" und eine Verbesserung der militärischen Fähigkeiten. Verbindliche Regelungen gegen Steuer- und Sozialdumping und für eine gerechtere Verteilung des vorhandenen gesellschaftlichen Reichtums sucht man im Verfassungsentwurf hingegen vergeblich. Angesichts der Zumutungen, denen die Menschen im Osten der EU immer mehr ausgesetzt sind, wird es auch im Westen immer schwieriger werden, die Sozialstandards aufrecht zu erhalten. Warum auch sollte man einem Menschen im Westen der EU nicht das gleiche zumuten können wie im Osten? Trotz Wirtschaftswachstums und in Zukunft immer geringeren Bevölkerungszahlen hat der ärmere Teil der Gesellschaft in Ost und West immer weniger Anteil am gesellschaftlichen Reichtum. In den immer stärker polarisierten Gesellschaften der Beitrittsstaaten, in denen es auch zahlreiche nationale Minderheiten gibt, wächst währenddessen der Zuspruch für rechte Parteien. Zu EU-weit geltenden Mindeststandards für Steuern und Sozialleistungen gibt es deshalb keine Alternative. Eine andere Welt ist möglich und ein anderes Europa natürlich auch.

Konferenz
4.-6. Juni 2004: Open-Space Konferenz "Europa von unten" in Berlin
Auf der Konferenz, die von einem breiten Bündnis aus alten und neuen sozialen Bewegungen durchgeführt wird, wollen wir unsere Vorstellungen für ein alternatives Europa diskutieren. Informationen gibt es unter http://www.attac.de/eu-ag/. Weitere Bündnispartner sind herzlich willkommen.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Stephan Lindner ist Diplom-Politologe und lebt in Berlin. Er ist aktiv in der EU-AG von attac Deutschland.