Plädoyer für eine umfassende Friedenspolitik von unten in transnationaler Perspektive

Europa ohne Armeen - Bundesrepublik ohne Bundeswehr.

von Dieter Kinkelbur

Wenn in der Friedensbewegung nationalstaatliche Gegebenheiten reproduziert werden, wird die Arbeit am positiven Frieden scheitern müssen. Der Beginn einer Kampagne für die innergesellschaftliche Entmilitarisierung der BRD hat von Anfang an die zwischenstaalichen Entwicklungen mit einzubeziehen. Die durchaus realpolitische Utopie einer Bundesrepublik ohne Bundeswehr ist heute nur mehr in der Gesamtheit ihrer militär-, wirtschafts-, sozial-, außen- und somit europa- und weltpolitischen Dimensionen zu diskutieren und zu realisieren. Eine im schlechten Sinne isolationistische Friedenspolitik von unten wird dort geboten, wo auf die Erfahrung und Stimmen aus anderen Ländern und Kulturen nicht eingegangen und eine Verschiedenartigkeit im antimilitaristischen Vorgehen in europäischen Regionen ausgeschlossen wird.

Ein Beispiel an einem innerhalb der Friedensbewegungen stets kontrovers diskutierten Thema - der Sozialen Verteidigung - mag mein Plädoyer für mehrdimensionale Abrüstungspolitiken vom Atlantik bis zum Ural, die die Ungleichzeitigkeit von Entmilitarisierungsprojekten- und prozessen berücksichtigt und ausnützt, illustrieren:
Die Intensivierung der öffentlichen Debatte über SV in der BUndesrepublik bringt den Vorschein einer radikalen Alternative zur herrschenden Sicherheitspolitik in einem hochmilitarisierten Land zur Geltung. Ob in den Alpenländern Schweiz und Österreich mit ihren Milizarmeen der Verzicht auf die Forderung nach einer Einführung der SV sinnvoll ist, hängt von anderen als im NATO-Land BRD vorfindlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten ab. Da in der DDR Erfahrungen mit Formen des Widerstandes gegen das SED-Regie existieren und die Entmilitarisierungsappelle für eine DDR ohne Volksarmee bis hin zu Politikern aus konservativen Parteien unterzeichnet wurden, wäre es verfehlt, den Weg der Abrüstung, Rüstungskonversion mit einer vorzüglichen Verweigerungsregelung und des Fernhaltens von NATO-Militär zu verlassen. Auf der gesamteuropäischen Tagesordnung schließlich steht mehr als das Für und Wider um einzelne oder vermischte verteidigungspolitische Alternative; es geht um die Wahrung der Ergebnisse des Zivilen Ungehorsams in Osteuropa, um eine Politik der Abrüstung in Westeuropa und um die Zivilisierung der Beziehungen in und von Europa - kurz: nicht Sicherheitspolitik, vielmehr Friedenspolitik. Ein Mangel an Phantasie und einer Streitkultur in der bundesrepublikanischen Friedensbewegung und die Scheu vor dem Blick über die Staatsgrenzen behindert den Aufbau eines Europas ohne Armeen - der gemeinsamen Zielvorgabe in diesem Jahrzehnt bei der Arbeit an verschiedenen Orten für demokratiestarke, ökologiebewußte, militärfreie Gesellschaften, die sich nicht mehr auf Kosten der inneren und äußeren Peripherie, von Frauen und Kindern bereichern.

Von der Schweiz lernen
Die Schweiz stellte bis zum Abstimmungserfolg bei der Volksabstimmung in der Wahrnehmung der hisiegen Friedensbewegung eine Fußnote dar. Von der Schweiz lernen bedeutet nun sowohl nicht unbedacht GSoA-Kampagnenkonzepte zu übernehmen als auch den Blick auf weiter Weiße Flecken in der europäischen Friedenslandschaft einzuüben. Eine Grenzen und Grenzsetzung überbietende Sichtweise kann dabei helfen, daß Friedesaktionen, die Friedensarbeit selbst und die Friedenspolitiken von Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Regierungen verstärkt transnational ausgerichtet werden. Drei Beispiele mögen hier Genügen:
In der Schweiz, Österreich und in Lappland wenden sich Friedensengagierte gegen den Kauf und den Einsatz und den Einsatz schwedischer Kampfflugzeuge. Es ist nicht nur einfach schön, voneinander und den verschiedenen Aktionsform vor Ort zu wissen; es ist auch nötig, mit dem Ziel des Produktionsstops für Kriegsgerät zu kooperieren, damit nicht andernorts die Düsenjäger eingesetzt werden.

Für eine kontinuierliche Friedensarbeit bleibt es unerläßlich, einen Informationfluß über die Kriegsproduktion, herrschende Sicherheitspolitik und den Aufbau einer Friedenskultur herzustellen. Recherche-, Übersetzungs- und Koordinierungsarbeit sind dabei in einem Ausmaß zu leisten, welches den Einzelnen überfordert. Was mag sich hinter der Nachricht verbergen, daß Friedensgruppen und sozialistische Jugendverbände ein Slowenien ohne Armee fordern? Welche Hintergründe aus den politischen und ethnischen Konflikten in Jugoslawien sind dafür mitursächlich? Fragen, die nicht mehr allein bei einem Urlaubstrip zu klären sind. Die Etablierung einer Friedensinfrastruktur dient dazu, relevante Einsichten und Ansätze in die eigene Praxis einarbeiten zu können. Zentren der Friedensarbeit sind auch nötig, um unsere MitbürgerInnen in ihren Sprachen, z.B. auf spanisch und türkisch, über friedenspolitische und -kulturelle Aktivitäten in der Bundesrepublik zu informieren.
Die friedenspolitische, mithin u.a. die parteipoltische Ebene sollte angesichts einer Überlebensgefährdung für alle beim Wirken für friedensfähige Gesellschaften nicht abschätzig behandelt werden. Es geht hier nicht um die Identifikation mit Parteizielen, wohl aber um ein Einlassen auf eine argumentative Auseinandersetzung. Zun Beispiel können Positionen des liberalen Pazifismus in den Niederlanden in die innergesellschaftliche Debatte eingeführt werden. Die derzeitigen Initiativen und Vorschläge der ungarischen Regierung bei KSZE-Verhandlungen sind bekanntzumachen, um den sicherheitspolitischen Rückstand derBundesregierung offenzulegen. Die hegemoniale Position der bundesdeutschen Sozialdemokratie in Westeuropa läßt erwarten, daß aus ihr heraus über friedenspolitische Initiativen und Anstöße von sozialdemokratenInnen aus anderen Ländern berichtet wird. Dabei geht es europaweit darum, verschiedene friedenspolitische Ansätze zunächst zur Kenntnis zu nehmen, um sie deann zu hinterfragen.
Kriterium: Abschaffung des Krieges

Entscheidendes Kriterium für die Bewertung sämtlicher Abrüstungspolitiken bleibt ihre Zielgerichtetheit auf die Abschaffung des Krieges. Die Ungleichzeitigkeit von Friedenspolitik in ihrem Aktion, Handeln und Reflexion umfassenden Sinne auf innergesellschaftlicher, mitteleuropäischer, zentraleuropäischer und gesamteuropäischer Ebene sollte nicht als Hindernis auf dem Weg zu einer friedensfähige Weltzivilisation mißverstanden werden. Einem Europa der Menschen und der Regionen sollte ein Europa ohne Armeen hinzugefügt werden. Würden wir nach zwei Weltkriegen, die von Deutschland ausgingen, auf diese friedenspolitische Radikalität, auf eine Entmilitarisierung der Köpfe und Betriebe verzichten, so wird im nächsten Jahrtausend ein sich integrierendes Europa mit der höchsten Quote am Weltrüstungsmarkt ein Alptraum - dem hier und jetzt realpolitisch Einhalt geboten werden muß.
Anforderungskatalog

Für eine umfassende Friedenspolitik in transnationaler Perspektive ließe sich ein umfangreicher Anforderungskatalog entwickeln. Die folgenden vier Schlußempfehlungen beabsichtigen vom Schweitzer Impuls (1) zu lernen und die Ungleichzeitigkeit bei der Weiterarbeit am Frieden zu respektieren, indem sie auf das von uns aus in der nächsten Zeit machbare ablehnen. Für mich ist erstens nicht das Nebeneinander von Aufrufen zu einer Bundesrepublik ohne Armee störend, jedoch der Mangel an Informationsmaterial in nicht-deutscher Sprache. Zweitens sollte der Kontakt zur tschechslowakischen Friedensbewegung verbessert werden, um eine deutschlandpolitische Orientierung zu verhindern. Drittens darf die Debatte über international geregelte Friedensstrukturen jenseits von NATO und WVO nicht durch Tabus gestoppt werden. Viertens hat europäische Friedensbewegung an die Wiener Verhandlungstische inhaltlich und personell ihre sicherheitspolitische Kritik und ihre Stimme für ein Europa ohne Armeen einzubringen. Das, was heute zu tun ist, erfordert Friedensbewegungen mit nicht weniger als einem weltgesellschaftlichen Bewußtsein. Praktisch und intellektuell haben wit Grenzen zu überwinden, um zwischengesellschaftliche und überstaatliche Beziehungen friedlich, d.h. ohne Gewalt, zu gestalten.
 

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Dieter Kinkelbur ist Sozialwissenschaftler und Lehrer. Er ist Vorsitzender des Fördervereins Friedensinitiativen in Münster e.V.