Wie Neonazis mit Musik europaweit ihre Ideologie propagieren und Nachwuchs rekrutieren

"Europa rockt völkisch!"

von Frank Huber Thomas Kuban

Der Kampf gegen die Globalisierung und die USA lässt Nationalisten zu überzeugten Europäern werden. Statt dem "Großdeutschen Reich" wird zunehmend ein "Europa der Völker" propagiert. Längst gibt es eine europäische Neonazi-Skinhead-Szene. Sie nutzt die offenen Grenzen, um konspirativ organisierte Konzerte hin und her zu verschieben, bis ein Ort beziehungsweise ein Land gefunden ist, an dem die Polizei nicht eingreift.

Musik als Mittel der Indoktrination
"Europa – Jugend – Revolution!" Mit dieser Parole in Lied-Form ist die nationalistische Band "Carpe Diem" aus dem Raum Stuttgart 2007 zwei Wochen auf Tour gewesen – auf Europa-Tour mit Szene-Bands aus den Niederlanden, Frankreich und Italien. Zu den Zielen heißt es im Internet:

"Europa steht am Abgrund! Durch Einwanderung und Amerikanisierung verliert es zusehends seine Identität. [...] Die 'European Revolution Tour 2007' soll der Ausgangspunkt für eine gesamteuropäische Zusammenarbeit sein und eine neue Welle des nationalen Widerstandes auslösen. Das ist unsere Aufgabe, das ist der Grund warum wir einen europäische Revolution brauchen!"

"Identität durch Musik" nannte sich eine Initiative von "Carpe Diem". Sie war der Versuch, musikalische Botschaften aus der Skinhead-Szene heraus in bürgerliche Kreise zu transportieren – so ähnlich wie es auch die NPD mit Festen versucht, bei denen Neonazi-Bands gleichermaßen einen Platz im Programm haben wie Hüpfburgen für Kinder.

Die Idee, mit Musik politische Aussagen zu transportieren, wird dem britischen Neonazi Ian Stuart Donaldson zugeschrieben. Der Sänger der Band "Skrewdriver" soll gesagt haben: "Musik ist das ideale Mittel, Jugendlichen den Nationalsozialismus näher zu bringen, besser als dies in politischen Veranstaltungen gemacht werden kann, kann damit Ideologie transportiert werden." Aus dieser Erkenntnis heraus hat sich Ende der 1980er Jahre das Neonazi-Netzwerk "Blood & Honour" (Blut und Ehre) in England entwickelt und sich international ausgebreitet. Heute existiert in fast jedem Land Europas und vielen anderen Ländern eine Division von "Blood & Honour". Mit ihren konspirativen Konzerten, die von bis zu 2.000 jungen Leuten besucht werden, hat diese Organisation eine staatenübergreifende neonazistische Jugend-Kultur begründet. Ihr Gründer Ian Stuart Donaldson wurde in der rechtsextremen Szene zum Mythos, nachdem er am 24. September 1993 bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war.

Heute gibt es in Europa so viele Memorial-Konzerte für Stuart, dass im September teilweise mehrere Konzerte an einem Wochenende stattfinden und manche sogar erst im Oktober über die Bühne gehen. Das ISD-Memorial der Mutter-Division von Blood & Honour in England wird am letzten oder vorletzten September-Wochenende jedes Jahres zur Pilgerstätte für Neonazis aus ganz Europa. Weil Großbritannien mit dem Auto schlecht erreichbar ist, bleibt zwar die Zahl der Konzertbesucher vergleichsweise gering – aber das Publikum setzt sich international zusammen wie sonst kaum einmal: Mehr als 400 Neonazis waren es 2006. Das war Rekord für die Insel. Rund 80 unter ihnen kamen aus Deutschland. Sogar aus Portugal und Italien waren Neonazis angereist.

An den Wänden des Konzert-Zelts hingen Flaggen mit Hakenkreuzen und SS-Runen, auf den Verkaufstischen lagen Hochglanz-Magazine von "Blood & Honour" sowie CDs von deutschen Bands wie den "Böhsen Onkelz" und "Landser", auf der Bühne forderte die britische Band "Whitelaw" dazu auf, "Nigger, Juden und Bastarde" zu hängen. Der Frontmann unterstrich das, indem er immer wieder eine Galgen-Schlinge empor reckte. Zum Höhepunkt des Festivals geriet eine Gedenkminute für Ian Stuart Donaldson zu nächtlicher Stunde. Selbst die besoffensten Skinheads im Konzert-Zelt wurden mucksmäuschenstill und erhoben ihren rechten Arm zum Führergruß. Kinder taten es den Erwachsenen gleich. Die englische Polizei bekam von all dem nichts mit. Sie zeigte nicht einmal auf der Zufahrtstraße Präsenz. In anderen Ländern Europas sind wenigstens in Konzert-Nähe Polizei-Posten eingerichtet. Unterbunden werden die gesungenen Aufrufe zu Hass und Gewalt bis hin zum Mord fast nirgends – am ehesten noch in Deutschland.

Aber auch in der Bundesrepublik gab es laut Bundesamt für Verfassungsschutz bis zu 193 Konzerte (2005) pro Jahr. Das sind mehr als doppelt so viele wie im Jahr 2000, in dem der Bundes-Innenminister die deutsche Division von "Blood & Honour" und der Jugend-Organisation "White Youth" verboten hat. Auch 2007 lag die Zahl der Konzerte noch deutlich höher als zum Zeitpunkt des „B&H“-Verbots: Der Verfassungsschutz zählte 138 Konzerte. Für 2008 ist die Statistik noch nicht veröffentlicht.

In einer Antwort des Innenministeriums auf eine Anfrage der "Linksfraktion" im Bundestag findet sich im März 2007 eine Zwischenbilanz zum Verbot von B&H und „White Youth“: "Die Bundesregierung bewertet diese Verbote als erfolgreich, da hierdurch die Strukturen des gewaltbereiten subkulturell geprägten Rechtsextremismus – insbesondere im Bereich der rechtsextremistischen Skinhead-Musikszene – deutlich geschwächt wurden." Deutlich geschwächt angesichts doppelt so vieler Neonazi-Konzerte?

Die Bundesregierung schreibt weiter: "Mit dem Verbot der deutschen Division von 'Blood & Honour' (15.09.2000) und etwa zeitgleichen polizeilichen Aktionen gegen die 'Blood & Honour'-Szenen in Ungarn und in der Tschechischen Republik brachen viele in diesem Umfeld entstandenen Kontakte weg. Der traditionell von ungarischen Neonazis begangenen 'Tag der Ehre' (Gedenkfeier für gefallene Soldaten der 'Waffen-SS') zog in den letzten Jahren nur noch vereinzelt deutsche Besucher an." Ziemlich genau einen Monat vor dieser Stellungnahme der Bundesregierung hatte "Blood & Honour" in Ungarn mit mehr als 1.000 Neonazis wieder den "Tag der Ehre" gefeiert – darunter mindestens 100 Deutsche. Der NPD-Vorsitzende Udo Voigt trat sogar mit den NPD-Funktionären Matthias Fischer und Eckart Bräuninger als Redner auftrat.

An den internationalen Beziehungen deutscher Neonazis wird deutlich, dass sogar die verbotene "Blood & Honour"-Division weiterhin besteht. Ihre Flagge hing beispielsweise beim Ian-Stuart-Donaldson Memorial im September 2006 in England, die Flagge der Hamburger Sektion Nordmark im selben Monat bei einem Konzert der "Veneto Fronte Skinheads" in Italien und wiederum die Flagge der Deutschen Division beim SS-Memorial von "Blood & Honour Vlaanderen" am 10. März 2007 in Belgien.

Das größte "Blood & Honour"-Konzert der vergangenen Jahre, das im Dezember 2004 in Belgien stattfand, wurde sogar von Deutschen organisiert. Am konspirativen Treffpunkt auf einem Autobahn-Rastplatz standen Deutsche als Schleuser, den Eintritt kassierten Deutsche, rund 90 Prozent der 2.000 Neonazis im Publikum waren Deutsche, es spielten deutsche Bands wie "Weisse Wölfe", "Kraftschlag" und "Race War" – und hinter der Bühne hing beispielsweise eine Transparent der "Kameradschaft Aachener Land" neben der "Blood & Honour"-Beflaggung. Die Kontakt-Mail-Adresse für das damalige Konzert wird einem Neonazi zugeschrieben,  der zwischenzeitlich als V-Mann des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen enttarnt ist.

Zu einem bevorzugten Konzert-Land deutscher Neonazis ist in den vergangenen Jahren Italien geworden. Durchschnittlich alle zwei Monate spielen deutsche Bands jenseits der Alpen und die glatzköpfigen Fans reisen hinterher. In den Ostersonntag des Jahres 2008 hinein feierten beispielsweise rund 2.000 Neonazis. Die italienische Polizei beobachtet nur, sie greift nicht ein. Und vor allem scheint sie nicht einmal im Vorfeld eines Konzertes zu versuchen, die Veranstaltung zu verhindern – und das unterscheidet Italien von anderen europäischen Ländern. In Belgien wird die Polizei zumindest im Vorfeld eines Neonazi-Gigs aktiver als früher, nachdem bei einer Razzia in der Szene Waffen gefunden wurden. Und im Jahr 2008 kam es nach einem belgischen Neonazi-Konzert sogar zu Festnahmen. Im Elsass reagiert die Polizei nach Friedhofs-Schändungen etwas aufmerksamer auf die Szene. Konzert-Stürmungen sind allerdings auch dort keine bekannt.

Und in Österreich sowie der Schweiz sieht sich die Polizei nach Fehlleistungen von der Öffentlichkeit unter Druck gesetzt. In der Schweiz sind 2005 Straftaten bei einem Konzert gefilmt und im Fernsehen ausgestrahlt worden. In Österreich offenbarte 2006 ein verdeckter Dreh, wie sich Polizisten mit Nazis in einem Konzertsaal augenscheinlich amüsierten – und sich schließlich beim Sound-Check per Handschlag verabschiedeten. Danach kam es ebenfalls zu Straftaten, die ungeahndet blieben.

Die Schleusepunkte für die Konzerte werden gerne ins Grenzgebiet gelegt – beispielsweise im Bereich zwischen Bayern und Österreich oder Baden-Württemberg und dem Elsass. So bleibt es für die Polizei bis zum Schluss unklar, wo das Konzert stattfinden wird – und wo starke Polizeikräfte vorzuhalten sind. Selbst wenn es der Polizei gelingt, einen Konzertort frühzeitig zu finden und das Konzert dort zu verhindern, bleiben die Neonazis flexibel. Sie mieten für einen Gig bis zu vier Hallen, Gasthäuser und Wiesen an, um auch kurzfristig die eigenen Pläne ändern zu können. Und sobald das Publikum da ist, werden die Veranstaltungen in Europa kaum mehr von der Polizei aufgelöst – mit Ausnahme von einigen Bundesländern in Deutschland.

Je nach Staat kommt hinzu, dass beispielsweise Hakenkreuze nicht verboten sind. Auch neonazistische Hass-Botschaften werden im europäischen Ausland seltener verfolgt und daher noch ungenierter gesungen als in Deutschland. Der Handlungsbedarf auf europäischer Ebene erhöhte sich, nachdem EU-Justizkommissar Franco Frattini im Februar 2007 bekannt gab, dass Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in manchen EU-Ländern um "zwischen 25 und 45 Prozent" zugenommen hätten. Betroffen seien Frankreich, Italien, Belgien und die Niederlande. In einem Land habe der Anstieg sogar 70 Prozent betragen, sagte Frattini – ohne zu verraten, welcher Staat das ist. Der EU-Jusitzkommissar und die deutsche Bundes-Justizministerin Brigitte Zypries drängten in der Folge darauf, den "Rahmenbeschluss zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der Europäischen Union" zu fassen, um wenigstens juristische Mindeststandards für die Verfolgung von Neonazi-Delikten zu schaffen.

Die Konzert-Organisatoren der Szene zeigten sich davon unbeeindruckt. Ihr politisches Musik-Geschäft boomt weiter. Im vergangenen Jahr hat beispielsweise Ungarn an Attraktivität gewonnen. Fast jeden Monat sind dort Neonazi-Konzerte, die international beworben werden. Und im ersten Quartal 2009 war es wieder eine deutsche Band, die auf Europa-Tournee ging: „Faustrecht“ aus dem Allgäu.

Der Beitrag wurde der Website der Bundeszentrale für politische Bildung (http://www.bpb.de/themen/DQT1DB,0,0,Europa_rockt_v%F6lkisch%21_.html) entnommen und von Thomas Kuban aktualisiert.

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Frank Huber ist freier Journalist. Er hat rund zehn Jahre lang in der Neonazi-Szene recherchiert.
Thomas Kuban ist freier Journalist. Er hat rund zehn Jahre lang in der Neonazi-Szene recherchiert.