Europa zivilisieren!

von Roland Vogt

"Verstand ich den Vorgang recht, so unterlag dieser Herr der Negativität seiner Kampfposition; Wahrscheinlich kann man vom Nichtwollen seelisch nicht leben; eine Sache nicht tun wollen, das ist auf die Dauer kein Lebensinhalt; etwas nicht wollen und überhaupt nicht mehr wollen, also das Geforderte dennoch tun, das liegt vielleicht zu benachbart, als daß nicht die Freiheitsidee dazwischen ins Gedränge geraten müßte ... "
aus: Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis. Erzählung von Thomas Mann

Nach der Bildung eines Aufstellungsstabes für eine deutsch-französische Brigade am 1. Oktober 1988 in Böblingen kann wenigstens nicht mehr behauptet werden, eine westeuropäische Militärintegration sei unvorstellbar. Das Spiel einiger Neunmalkluger, die in fantasielosen "Analysen" jahrelang allein schon die Möglichkeit einer eigenständigen Militärmacht Westeuropa geleugnet und vor "Alarmismus" (also vor den Warnern) gewarnt haben, ist ausgereizt.

Die Brigade in Böblingen ist nur eine erste Achse, die in das Vehikel Europaarmee eingezogen wird. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann ihr ein komplettes Chassis mit V order- und Hinterachse folgt. Schon fordert die einflußreiche konservative "Bow-Group", ein der Regierung Thatcher nahestehender Denktank, die Aufstellung eines "Europa-Korps" außerhalb der NATO.

Die Schwächen der Friedensbewegung angesichts dieser Entwicklung sind evident:

  1. hat sie - geblendet durch Fehlanalysen eloquenter Theorie-Gurus - die Gefahr zu lange ignoriert;
  2. ist sie gespalten. Weite, der SPD nahestehende Kreise sind im Grunde für die Euromilitarisierung, die sie für einen relativen Fortschritt angesichts der heutigen "Sicherheitspolitischen" Abhängigkeit Westeuropas von den USA halten (Konzept von der - militärgestützten - "Selbstbehauptung Europas");
  3. erlaubt sie sich nicht, dem "Westeuropäischen Reich" ein faszinierendes eigenes Konzept entgegenzustellen. Damit überläßt sie (fast) alles dem nach innen und außen wirkenden Macht so einer militärisch erstarkenden Europäischen Union.
  4. Machtvolle Multiplikatoren Industrie, · Industrie-Gewerkschaften, Parteien und Medien spielen das Spiel des starken (West-)Europa. Wer sich· dem widersetzt, ist ein Schädling und wird marginalisiert (isoliert,· an den gesellschaftlichen Rand gedrängt); das schüchtert ein.
  5. Es Sind die Karolinger unter uns Europäern ( und in einigen von uns Friedensbewegten), die dem europäischen Reich so freudig zustimmen - in der klammheimlichen Hoffnung, daß das weiße Europa nach dem Zusammenbruch seiner nationalen Weltreiche ( des französischen, großbritischen, italienischen, portugiesischen, holländischen, belgischen und, schließlich Dritten deutschen Reiches ... ) noch ein letztes Mal eine dominante Rolle von Weltgeltung spielen kann.

Die einzige Chance, - mit bedauerlicher Verspätung - der Militarisierung EG-Europas entgegenzuwirken, sehe ich in einem in sich schlüssigen zivilen Gegenkonzept im Einklang mit den Bedürfnissen und Einsichten aufgeklärter und aufzuklärender europäischer Zeitgenosslnnen. Dieses Konzept gibt es seit 1973 und es wurde 1979 zum erstenmal in ein Europawahlprogramm, das der GRÜNEN, übernommen.

"Zivilmacht Westeuropa" war nicht naiv, sondern als Kampfbegriff gemeint, der die Aufgabe verdeutlichen sollte, den Weichenstellungen hin zu einer· Militärmacht Westeuropa entgegenzuwirken - sozusagen ein Haltsignal wenigstens in den Köpfen politisch · wacher Zivilistlnnen in Europa zu verankern.

ZÖGER ...
Faszinierender als "Zivilmacht Westeuropa" wäre freilich das Konzept von einer "Zivil-ökologischen Gemeinschaft Europäischer Regionen" (ZÖGER). Nur: was ist eine Region? Inwieweit ist sie im unangenehmen Machtspiel des Alltags eine handlungsfähige Größe? Die EG ist nun einmal ein Machtfaktor, der· nicht von außen, sondern nur noch von innen umgestaltet werden kann. Man kann die EG als Machtgebilde verwünschen, das schafft sie als solches aber nicht ab.

Was tun?
Gorbatschow macht es uns gerade vor:
Umbau (Perestroika), institutionelle Revolution, Zivilisierung eines militarisierten Großreichs. Wenn solch' eine Aufgabe in der verkrusteten Struktur eines großmächtigen Kolosses in Angriff genommen werden kann - wie kommt es dann, daß in einem Großreich im Werden, der Superpower in the Making EG, nicht einmal der Versuch gemacht wird, umzusteuern - mit Leidenschaft, Vision und Augenmaß'?  Politik ist am lohnendsten und am spannendsten, wenn es um Weichenstellung geht.

Wie kommt es eigentlich, daß innerhalb des Nationalstaats alles Mögliche als gestaltbar gilt, innerhalb der EG aber, einem supranationalen Gebilde auf dem Wege zum Staat, Gestaltungsmöglichkeiten im ökö-zivilen Sinne kaum wahrgenommen werden? Eine "zivilistische Bewegung" sollte die Nagelprobe suchen, ob angesichts der in Gang befindlichen Militarisierung der Zug zurückgepfiffen und die Weichen noch in ·. Richtung auf ein zivil( er) es Westeuropa gestellt werden können - oder ob wir den Point of no Return (den Punkt ohne Umkehrchance) bereits verschlafen haben. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, ob - erstmals in der Geschichte - eine Großregion ohne Militär auskommen könnte, unter welchen Voraussetzungen das zu geschehen hätte und welches die ersten Schritte in diese Richtung wären.
Laßt uns als Friedensbewegung, als politische Zivilistlnnen, wenigsten die Debatte dazu eröffnen!
 

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Roland Vogt war von 1996-2006 Konversionsbeauftragter im Wirtschaftsministerium des Landes Brandenburg. Der Jurist und Diplompolitologe bezeichnet sich -wie bereits im Handbuch des 10. Deutschen Bundestags- als Friedensarbeiter. Er hat die AL Berlin und die Europagrünen mitgegründet und war Mitinitiator der Bürgerinitiative FREIeHEIDe.