"Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität" (ESVI)

von Tobias Pflüger
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Außenminister Joschka Fischer hat in seinen Reden vor dem Europaparlament und vor dem NATO-Rat eine neue "Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität" eingefordert. In den Verträgen von Maastricht und Amsterdam ist diese "Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität" zusammen mit einer "Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" (GASP) der EU verankert worden. Was ist nun mit dem Wortungetüm "ESVI" gemeint? In welchem Verhältnis steht diese "Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität" zur NATO, zur WEU (Westeuropäische Union, und zur EU?

Die "Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität" ist nichts konkret fassbares, das ist eines der Probleme. Sie ist quasi eine Verständigungsformel der Regierenden, die in den Verträgen von Maastricht und Amsterdam festgeschrieben wurde, um die politische und militärische Zusammenarbeit zwischen der NATO, der WEU und der EU neu zu organisieren.

ESVI und EU
Außenminister Joschka Fischer umriss am 12.01.1999 vor dem NATO-Rat "ESVI" folgendermaßen: "Zur Verwirklichung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gehört eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität. ... Die kollektive Verteidigung wird weiterhin Aufgabe der NATO bleiben. Aber die EU muss die Fähigkeit auch für ein eigenes militärisches Krisen-Management entwickeln, wann immer aus Sicht der EU/WEU ein Handlungsbedarf besteht und die nordamerikanischen Partner sich nicht beteiligen wollen. Dieses Thema hat durch die Initiative Tony Blairs in Pörtschach und das französisch-britische Treffen in St. Malo neue Impulse bekommen. Die Schaffung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität ESVI könnte - nach dem Binnenmarkt und der Wirtschafts- und Währungsunion - von großer Wichtigkeit für die weitere Vertiefung der EU werden. Wir werden uns in unserer Doppelpräsidentschaft in EU und WEU mit Nachdruck darum bemühen, die neue Dynamik zu nutzen."
 

Was dahinter steht, sagt der Staatssekretär im Auswärtigen Amt Wolfgang Ischinger ganz offen: "Die europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität im Bündnis muss zu einer realen politischen und militärischen Option ausgebaut werden. Das ist Voraussetzung dafür, dass die Europäer einen zunehmenden Beitrag zur Erfüllung der neuen Aufgaben der Allianz leisten, auch zu einer möglichen Entlastung der USA. Das Bündnis muss darüber hinaus die mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam verbundene Perspektive der Ausprägung der ESVI zu einer gemeinsamen europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik anerkennen. Es geht uns - über Washington hinaus - um Entwicklung immer engerer Zusammenarbeit der NATO mit der WEU und der EU."

Die WEU soll in die EU überführt werden. Auf den ersten Blick eine eher harmlose Idee. Doch in der EU sind auch neutrale Staaten wie Österreich oder Finnland. Von österreichischen FriedensfreundInnen wird darauf verwiesen, dass mit dem Inhalt des Maastrichter und des Amsterdamer Vertrags die "immerwährende Neutralität" Österreichs in Gefahr ist. Die Österreichische Volkspartei (ÖVP) will denn auch Österreich über den Umweg WEU in die NATO führen. Die SPÖ reagiert - wie alle Sozialdemokraten - vor allem auf medial vermittelte Stimmungen. So ist sie derzeit offiziell noch gegen eine WEU- oder NATO-Mitgliedschaft und lehnte jüngst sogar eine Durchfahrtgenehmigung für ungarische Truppen zu einem NATO-Manöver in Italien ab. Bei der österreichischen Diskussion um die Verträge von Maastricht und Amsterdam spielten denn auch deren außen- und militärpolitische Implikationen eine wesentliche Rolle. Und nun kommt ausgerechnet eine rot-grüne deutsche Bundesregierung daher und gefährdet die österreichische "Neutralität" nach der Unterzeichnung von "Maastricht" und "Amsterdam" und der österreischen Mitgliedschaft beim NATO-Programm Partnerschaft für den Frieden (PfP und PfP plus) weiter.

Der Militäreinsatz im Kosovo wird immer wieder als "Nagelprobe für ESVI" genannt. Hier müsse sich zeigen, ob die EU zu eigenständiger (Militär-)Politik fähig sei. Der geplante Einsatz soll zum ersten Mal unter europäischer Führung und mit mehr europäischen als us-amerikanischen Soldaten durchgeführt werden. Entsprechend stark engagiert sich die neue Bundesregierung: Inzwischen hat der Bundestag mit fast allen Stimmen der Abgeordneten der alten und neuen Regierung Bodentruppen und Luftgerät für einen möglichen Kampfeinsatz im Kosovo bereitgestellt. [...]
 

ESVI und NATO
Innerhalb der NATO wurde auf der Ministertagung des sogenannten "Verteidigungsplanungsausschusses" und der Nuklearen Planungsgruppe am 17. Dezember 1998 ein Kommunique, u.a. mit folgendem Inhalt beschlossen: "Zur Schaffung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität (ESVI) innerhalb der NATO steht das Bündnis bereit, als Teil der Vorbereitung auf das gesamte Aufgabenspektrum WEU-geführte Operationen zu unterstützen, und wird diese Fähigkeit fortentwickeln. Die Ministerrichtlinie enthält darüber hinaus einen Beitrag der WEU." In NATO-Zusammenhängen wird ESVI vor allem im Zusammenhang mit der Formulierung der neuen NATO-Strategie diskutiert (vgl. Friedens-Forum 01/99). Ziel ist eine Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO und der WEU. In Zukunft sollen politisch und militärisch von der WEU aus eigenständige Militäraktionen mit NATO-Equipment durchgeführt werden. Konkretisiert wurde das u.a. im CJTF-Konzept (Combined Joint Task Force, Konzept der alliierten Streitkräftekommandos). Teil des Konzeptes der "Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität" ist auch eine Konzentration der westeuropäischen Kriegswaffenindustrie. Verstärkt werden soll die "Zusammenarbeit" mit osteuropäischen Staaten und Armeen, um diese "NATO"-kompatibel zu machen. In Zukunft sollen auch die WEU-Länder - wie bisher die USA - eigenständig Interventionen (mit den Interventionstruppen und dem entsprechenden Militärgerät) im Bereich ihrer jeweiligen "Interessensphären" durchführen können.

NATO-Generalsekretär Javier Solana begründet, warum auch die westeuropäischen Staaten eigene Interventionsfähigkeiten bekommen sollen: "Innerhalb der NATO wird eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität entwickelt. Die transatlantischen Beziehungen sind, und werden es bleiben, absolut lebenswichtig für den anhaltenden Erfolg des Bündnisses. Aber eine neue NATO erfordert ein neues Gleichgewicht der Verantwortung. Es erfordert, dass Europa eine Sicherheitsrolle entsprechend seiner wirtschaftlichen Stärke spielt." Das wirtschaftlich erstarkte Euro-Europa kann sich nun auch selbst militärisch "absichern".

ESVI und USA
Was sagt nun die US-Regierung zu der Ausformung von ESVI? Dazu der stellvertretende US-Außenminister Strobe Talbott in seiner Rede vor der sogenannten "Sicherheitskonferenz" in München: "Ein Thema, das sicherlich bei der Wehrkundetagung angesprochen wird, ebenso wie es bei meinen gestrigen Gesprächen in Paris und heute hier in Bonn erörtert wurde, ist die Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität.

Die ESVI ist von einem esoterischen Wort im Eurojargon zum Bestandteil des amerikanischen Vokabulars beim Nachdenken und Reden über die Zukunft der NATO geworden. Wir befürworten die ESVI. Unsere Unterstützung des Konzepts ist aufrichtig, aber nicht willkürlich. ... Wenn es richtig gemacht wird, kann die ESVI Teil dessen sein, was man als die Vertiefung der NATO bezeichnen könnte. ... Eine neu erfundene NATO hätte mehr Mitglieder als die alte (daher: Erweiterung); sie hätte kooperative Beziehungen zu den ehemaligen Gegnern, die weder willens noch bereit sind, die Mitgliedschaft zu beantragen (daher: Partnerschaft für den Frieden); sie hätte eine umfassendere, vielschichtigere Aufgabenstellung, um den neuen Herausforderungen für die europäische Sicherheit gerecht zu werden (daher: ein neues strategisches Konzept), und sie wäre flexibler und ausgewogener in ihrer Fähigkeit, Bedrohungen zu bewältigen, die nicht unbedingt ein direktes Engagement der Vereinigten Staaten vor Ort erfordern (daher: Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität oder ESVI). Kurz gefasst ist dies die Agenda - die angemessen ehrgeizige Agenda - des Washingtoner Gipfels."
 

Opposition gegen die EU-Militarisierung
Die vollzogene NATO-Osterweiterung - der offizielle Begriff der NATO-Expansion trifft die Sache eigentlich besser -, die Stärkung der WEU und der Ausbau der gemeinsamen Außen-. und Sicherheitspolitik (GASP) der EU insbesondere im Militärbereich sowie die Ausrufung dieser "ESVI" sind Entwicklungen, die ineinandergreifen. Es findet derzeit eine Militarisierung der EU statt. Die Rolle der deutschen Regierung hat bei diesem Prozess ist im übrigen vor und nach dem Regierungswechsel die fast gleiche, nur inzwischen wird der Prozess einer Stärkung des europäischen Militärpfeilers aktiver von Bonn aus unterstützt.

Insgesamt ist es notwendig, gemeinsamen Protest und Widerstand gegen diese EU-Militarisierung zu entwickeln. Fischer meinte im übrigen bei seiner Rede vor der NATO auch: "Bis zum Gipfel in Köln wollen wir einen Bericht über Möglichkeiten zur Fortentwicklung der ESVI erarbeiten." Ein guter Anlass, dass dieses Thema auch von oppositioneller Seite auf die Tagesordnung gesetzt wird. Die EU-Militarisierung könnte bei den Gegenaktivitäten zum EU-Gipfel und G7(8)-Gipfel in Köln / Bonn auch eine Rolle spielen!

Kontaktadresse: IMI, Burgholzweg 116/2, 72070 Tübingen, Tel./Fax 07071-49154 und 49159

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Tobias Pflüger ist stellvertretender Vorsitzender der Partei Die Linke. 1996 war er einer der Initiatoren für die Gründung der Informationsstelle Militarisierung (IMI).