Schutz und Bürgerrechte für alle

Europas Doppelmoral im Umgang mit Geflüchteten

von Fiene Wolf
Schwerpunkt
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Die Europäische Union verfolgt seit Jahren eine gewaltvolle, menschenverachtende und oft tödliche Flüchtlingspolitik. Im Umgang mit Schutzsuchenden aus der Ukraine zeigt sie nun ein anderes Gesicht.

Europa zeigt dieser Tage eindrucksvoll, dass es in der Lage ist, große Fluchtbewegungen auf eine pragmatische und humane Art zu bewältigen. Über 3,5 Millionen Flüchtlinge (1) aus der Ukraine wurden bereits in europäischen Ländern aufgenommen, mehr als ein Drittel davon in Polen, über 780.000 in Deutschland. Um ihnen das Ankommen zu erleichtern, hat der Rat der EU-Innenminister*innen im März 2022 für Flüchtlinge aus der Ukraine eine Richtlinie zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes aktiviert. Dank dieser Regelung können ukrainische Flüchtlinge visumsfrei in ein europäisches Land ihrer Wahl einreisen und dort einen Aufenthaltsstatus erhalten, ohne ein Asylverfahren durchlaufen zu müssen. Sie können sich direkt eine Wohnung und Arbeit suchen, sie erhalten Sozialleistungen auf dem gleichen Niveau wie Inländer*innen, ihre Kinder dürfen in die Schule gehen, und sie haben vollen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Sie müssen sich für ihre Flucht nicht rechtfertigen, ihren Schutzbedarf nicht beweisen. Es sind Bedingungen, denen man selbst gerne begegnen würde, wenn man sich einmal zur Flucht gezwungen sieht.

Für Flüchtlinge aus allen anderen Krisenregionen der Welt sieht die Lage völlig anders aus. Leid, Elend und Verzweiflung pflastern ihren Weg nach Europa. Seit 2014 (2) ertranken im Mittelmeer und im Atlantik über 25.000 Menschen bei dem Versuch, Schutz in der EU zu finden, oder gelten als vermisst – die Dunkelziffer nicht einberechnet. Die EU-Mitgliedsstaaten haben die Seenotrettung massiv eingeschränkt und zivile Rettungsschiffe werden durch staatliche Interventionen behindert. Der griechische Grenzschutz setzt aufgegriffene Flüchtlinge auf aufblasbare Plattformen auf dem Wasser aus und stößt sie Richtung Türkei, ohne dass ihr Schutzbedarf geprüft wurde. Hinzu kommt, dass die sogenannte libysche Küstenwache – von der EU mit Geldern in Millionenhöhe ausgestattet – allein im vergangenen Jahr über 32.000 Menschen (3) auf dem Mittelmeer zurück in das Bürgerkriegsland Libyen geschleppt hat. Viele von ihnen werden dort in den berüchtigten Haftlagern festgehalten und misshandelt.

Man stelle sich einmal vor, Ukrainer*innen wären auf den Fluchtweg über das Mittelmeer angewiesen. Hätte man auch sie ertrinken oder nach Libyen verschleppen lassen? Vermutlich nicht. Den direkten Vergleich, wie unterschiedlich Flüchtlinge je nach Herkunft behandelt werden, findet man an der polnisch-belarussischen und an der polnisch-ukrainischen Grenze: Schutzsuchende etwa aus Syrien, Afghanistan und Irak, die über Belarus versuchen, in die EU zu gelangen, werden dort brutal zurückgedrängt und misshandelt. Sogar Hilfsorganisationen werden daran gehindert, sie mit dem Notwendigsten zu versorgen, so dass viele in den sumpfigen Wäldern zwischen Belarus, Polen und Litauen an Kälte, Hunger, Durst und ausbleibender medizinischer Versorgung sterben.

Flüchtlingshelfer*innen auf der polnischen Seite, die versuchen, ihnen zu helfen, laufen Gefahr, dafür inhaftiert zu werden. Gleichzeitig werden sie für die Hilfe weiter südlich an der Grenze zur Ukraine für ihr Flüchtlingsengagement gefeiert. Die dem zugrunde liegende Doppelmoral ist schwer zu ertragen.

Von Beginn des Krieges an wurde die Ukraine als ein uns nahestehendes Land bezeichnet und die Beweggründe der Menschen zur Flucht nicht in Frage gestellt. Die direkte Aufnahme über die oben genannte Richtlinie, vorbei an den ansonsten für Flüchtlinge geltenden diskriminierenden Asyl- und Dublinverfahren, konnte ohne Diskussionen in Parlamenten oder in der Zivilgesellschaft Europas implementiert werden. Bei den Ukraine-Flüchtlingen steht Betroffenheit im Vordergrund, die „Das Boot ist voll“-Rhetorik, die seit den 1990er Jahren die stetigen Verschärfungen der europäischen Flüchtlingspolitik begleiten, ist verstummt.

Im Gegensatz dazu wird versucht, die unerbittliche Härte gegenüber allen anderen Schutzsuchenden mit euphemistischen Wörtern und einer Täter-Opfer-Verkehrung zu legitimieren. Im Jahr 2020 lobte die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen den griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis dafür, dass er Flüchtlinge gewaltsam daran hindert, in Griechenland einzureisen und ein Asylgesuch zu stellen. Auf seine Maßnahmen, an den Grenzen ein massives Aufgebot an Polizei und Militär aufzufahren und Flüchtlinge tagelang unter unhaltbaren Bedingungen festzuhalten, reagierte sie mit den Worten: „Ich möchte Griechenland dafür danken, dass es unser europäischer Schutzschild ist.“ Mitsotakis nutze in Äußerungen zu seiner brutalen Vorgehensweise gegen Flüchtlinge Begriffe wie „Invasoren“ und „asymmetrische Bedrohung". Ähnlich klang der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki, als er mit Blick auf Schutzsuchende an seiner Grenze zu Belarus im November 2021 von dem „größten Versuch zur Destabilisierung Europas“ und einem „hybriden Krieg gegen die EU“ sprach. Bei dem Anblick tausender Migrant*innen, die dort wochenlang um den Gefrierpunkt auf der belarussischen Seite in provisorischen Camps im Wald ausharrten, mahnte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer: „Wir müssen diese Bilder aushalten und Polen bei der Sicherung seiner EU-Außengrenze helfen.“ Ähnlich klang bereits 2016 der damals amtierende österreichische Bundesminister für Europa, Integration und Äußeres, Sebastian Kurz, mit Blick auf die „Sicherung der EU-Außengrenze“ in Richtung Türkei: „Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen.“

Die EU hat ein perfides Abschreckungssystem aufgebaut und geht dabei mit einer Brutalität vor, die einem den Atem raubt. Die EU-Kommission bleibt angesichts der zahlreichen Rechtsverletzungen der Mitgliedstaaten, die eigentlich ein Vertragsverletzungsverfahren nach sich ziehen müssten, tatenlos und auch ein größerer Aufschrei in der Gesellschaft bleibt aus. Aber: Flüchtlinge sind keine Invasor*innen, sie sind keine Bedrohung und kein Kriegsmittel. Sie sind immer Menschen mit unveräußerlichen Menschenrechten. Dabei gibt es keinen Unterschied zwischen einem ukrainischen Flüchtling, der vor den Bomben Putins flieht, und einem syrischen Flüchtling, der vor den Bomben Putins flieht.

Von der Leyen sagte im April 2022 über die Ukrainer*innen auf der Flucht: „Sie brauchen dringend Hilfe. Darunter verstehen wir in der Europäischen Union, dass wir unmittelbar den Schutz gewähren, der ihnen Bürgerrechte verleiht. Vom ersten Tag an also: Anspruch auf Schulbildung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung und Arbeit.“ Diese Haltung ist, nach Jahren des Abschottens, zukunftsweisend. Nur muss sie für alle gelten, die auf der Flucht sind. Im Moment handelt es sich bei der vielbeschworenen Solidarität, die nur einer Gruppe von Schutzsuchenden zuteil wird, um eine rassistische. Die Europäische Union mit ihren rund 447 Millionen Einwohner*innen hat die Möglichkeit, auch mehreren Millionen Menschen Schutz zu bieten. Europa zeigt in diesen Tagen, dass es kann, wenn es will. Auf dieser positiven Erfahrung muss aufgebaut werden.

Anmerkungen
1 https://data.unhcr.org/en/situations/ukraine#_ga=2.112232512.510053531.1...
2 https://data.unhcr.org/en/dataviz/95?sv=0&geo=0#_ga=2.142861045.17655249...
3 https://twitter.com/IOM_Libya/status/1533822071679160320

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Fiene Wolf, studierte Ethnologin, arbeitet seit 2020 bei der Menschenrechtsorganisation PRO ASYL in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Zuvor hatte sie einige Jahre lang Geflüchtete in einer Landeserstaufnahmeeinrichtung für Asylsuchende in ihren Asyl- und Dublinverfahren unterstützt und beraten.