Alternative Sicherheitsstrategien

Falls Du Frieden willst, bereite den Frieden vor

von Christine Schweitzer
Schwerpunkt
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„Falls Du Frieden willst, bereite den Krieg vor“, wird der römische Philosoph, Politiker und Anwalt Marcus Tullius Cicero (106-43 v. Chr.) bis heute gerne von allen zitiert, die auf Rüstung, Abschreckung und Waffengewalt setzen. Aber 2000 Jahre Geschichte seit Cicero (bzw. eigentlich noch einige Jahrtausende mehr) haben uns gelehrt: Wer Krieg vorbereitet, führt auch irgendwann Krieg. Das war in Rom nicht anders als im 19., 20. und 21. Jahrhundert. Wie groß die „Not“ von Militärs, militärgläubigen Politiker*innen und Rüstungsindustrie ist, wenn sie den Eindruck bekommen, dass sie nicht mehr gebraucht werden, konnten wir nach 1990 beobachten, als der Kalte Krieg zu Ende schien. Schnell suchte und fand man neue Rechtfertigungen für neue Kriege, in den letzten Jahren dann im Globalen Süden und im Namen der Menschenrechte oder des „Kriegs gegen den Terror“.

Doch auch wenn (Auf-)Rüstung und Militär eine starke Eigendynamik des Selbsterhalts besitzen, die nichts oder nur mittelbar etwas mit dem Bedürfnis nach Sicherheit zu tun haben: Bedrohungen militärischer Art sind real, sei es durch ein Nachbarland oder durch innergesellschaftliche Konflikte, in denen sich Parteien bewaffnen, um ihre Interessen mit Gewalt durchzusetzen. Deshalb ist auch die Frage nach Sicherheit und wie sie geschaffen werden kann, legitim, trotz aller Kritik an „sicherheitslogischem“ Denken und der Forderung nach einer „Friedenslogik“. (1)

„Weltinnenpolitik“
Konzepte alternativer Sicherheit wurden von Pazifist*innen immer wieder ins Gespräch gebracht. Vielleicht der älteste Ansatz ist, Frieden durch eine „Weltinnenpolitik“ bzw. durch eine Weltorganisation der Staaten und internationale Schiedsgerichte zu schaffen. Dieser Gedanke, schon im 19. Jahrhundert bei Friedensgesellschaften in den USA und verschiedenen europäischen Ländern formuliert (2), wurde ansatzweise vom Völkerbund und dann den Vereinten Nationen verwirklicht (s. den Beitrag von Hans-Christof von Sponeck in diesem Heft). Die Entspannungspolitik mit vertrauensbildenden Maßnahmen, wie sie von Willy Brandt und Egon Bahr betrieben wurde (3), der KSZE-Prozess seit Mitte der 1970er Jahre (s. den Beitrag von Ulla Klötzer in diesem Heft) und der von dem ehemaligen russischen Präsidenten Gorbatschow formulierte Vorschlag eines „gemeinsamen Hauses Europa“ vom Ende der 1980e Jahre können ebenfalls in diesem Kontext einer Schaffung einer auf Ausgleich und Vermittlung beruhenden Weltordnung der Staaten gesehen werden. Das zivilgesellschaftliche Gegenstück zur KSZE/OSZE, das in diesen Jahren aufgebaut wurde, die 1990 gegründete Helsinki Citizens‘ Assembly, wollte einen solchen gesamteuropäischen Prozess durch Aktion auf zivilgesellschaftlicher Ebene begleiten. Allerdings kam auch dieser Versuch nach einigen Jahren zum Erliegen, auch wenn es heute wohl noch ein paar Regionalgruppen gibt, die diesen Namen tragen.

Angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine und der Reaktion der westlichen Staaten auf diesen Krieg („Russland besiegen“) scheint, unabhängig davon, wie und wann der Krieg in der Ukraine zu Ende geht, eine echte Wiederannäherung zwischen Russland und den westlichen Staaten für absehbare Zeit schwer vorstellbar. Kleine Fortschritte, die seit 1990 gemacht wurden (etwa die Reduzierung der Zahl der Atomwaffen oder die Schaffung einiger neuer atomwaffenfreier Zonen) scheinen angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine an Bedeutung verloren zu haben. Die meisten Abrüstung- und Rüstungskontrollabkommen wurden in den letzten zehn Jahren durch die USA und Russland gekündigt, Manöverbeobachtungen ausgesetzt, die OSZE blockiert, usw.. Das Gleiche gilt für die wachsenden Spannungen mit China. Deshalb braucht es sicherheitspolitische Konzepte, die nicht davon abhängig sind, dass die Gegenseite genauso handelt. Vertrauen kann auch, ja muss in der gegenwärtigen Situation, dadurch entstehen, dass die eigene Seite „vorlegt“. Das bedeutet nicht, sich gegenüber jeder Aggression hilflos zu machen. Sicherheit kann durch andere Mittel als mehr Panzer, mehr Raketen, mehr Geschütze und mehr Soldat*innen erreicht werden.

Renaissance von alternativen Sicherheitskonzepten?
Besonders in den 1970er- und 1980er-Jahren wurden solche Alternativen diskutiert. (4) Dazu gehörten u.a. Konzepte defensiver Verteidigung (5), atomwaffenfreier Zonen (6), einseitiger Abrüstung (7) und Sozialer Verteidigung (8). Keines dieser Konzepte hat an Aktualität verloren. Die Initiative „Sicherheit neu denken“ hat im Jahr 2018 ein Szenario mit fünf Säulen einer zivilen Sicherheitspolitik vorgestellt (9) Es beschreibt eine Vision, wie Deutschland bis zum Jahr 2040 die militärische Aufrüstung überwinden könnte. Dazu gehören u.a. die Schaffung gerechter und ökologisch nachhaltiger internationaler Handelsbeziehungen, eine gemeinsame Wirtschaftszone von Lissabon bis Wladiwostok, Stärkung der OSZE und „gemeinsame Sicherheit“.

Das Problem ist nicht, dass es keine Alternativen gäbe – die früher formulierten Konzepte bräuchten lediglich leichte Anpassungen, was aber kein Problem sein sollte, bestünde der Wille dazu. Um nur drei Beispiele zu nennen: Bei defensiver Verteidigung und struktureller Nichtangriffsfähigkeit würde sicherlich heute mehr Gewicht auf Technologie zum Abfangen von Flugkörpern gelegt als damals, weil, wie man im Ukraine-Krieg sieht, diese Technologie inzwischen viel effektiver geworden ist. Bei Sozialer Verteidigung braucht es Strategien, wie massiver Repression begegnet werden kann, denn die Herrschenden haben aus den erfolgreichen Aufständen der letzten Jahrzehnte halt auch gelernt. Die Idee der einseitigen Abrüstung kann von dem Ansatz der „Friedenslogik“, die der herrschenden Sicherheitslogik als Alternative gegenübergestellt wird, profitieren. (10)

Das Problem ist der politische Wille, die Bereitschaft, überhaupt erst einmal Alternativen zu diskutieren. Wenn es irgendwelche hoffnungsvollen Zeichen in dieser Zeit gibt, dann ist es das zunehmende Selbstbewusstsein von Ländern des globalen Südens, den alten Mächten der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die Stirn zu bieten. Eine multipolare Welt scheint immer mehr Gestalt anzunehmen – ob sie allerdings eine friedlichere wird, ist eine andere Frage. Dabei bräuchte es dringend Kooperation auf globaler Ebene, um der größten menschengemachten Bedrohung, der wir uns gegenübersehen, Herr zu werden: der Naturzerstörung und dem Klimawandel. Wir können uns Krieg und Rüstung gar nicht mehr leisten – weder von den Ressourcen her noch von ihren Folgen. Vielleicht ist das eine Einsicht, die letztlich hilft, Militär und Rüstung zu überwinden.

Anmerkungen
1 Siehe https://pzkb.de/ags/#friedenslogik
2 Brock, Peter und Nigel Young, Nigel (1999: Pacifism in the twentieth century, Syracuse: Syracuse University Press, S. 11-12
3 https://www.fes.de/geschichte/entspannungspolitik
4 Siehe zum Beispiel: Klaus Lange-Feldhahn und Uli Jäger (1981): Alternative Sicherheitskonzepte. Arbeitshilfen für eine notwendige Diskussion, Verein für Friedenspädagogik Tübingen
5 Siehe z.B. Afheldt, Horst (1983): Defensive Verteidigung, Reinbek b. Hamburg:Rowohlt; Nolte, Hans-Heinrich, und Wilhelm Nolte (1984): Ziviler Widerstand und autonome Abwehr. Baden-Baden:Nomos
6 Siehe https://www.icanw.de/fakten/weltweite-atomwaffen/atomwaffenfreie-zonen/
7 https://www.friedenskooperative.de/friedensforum/artikel/atomwaffen-geme...
8 Siehe das Friedensforum 2/2023 zum Konzept der Sozialen Verteidigung.
9 https://www.sicherheitneudenken.de/sicherheit-neu-denken-unsere-vision/u...
10 Siehe Birckenbach, Hanne-Margret (2023): Friedenslogik verstehen. Frieden hat man nicht, Frieden muss man machen, Frankfurt/Main: WSV

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.