Flüchtlinge - Spielball europäischer Abschottungspolitik

von Claudia Roth
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"Festung Europa" ist ein mittlerweile feststehender Begriff für die hermetische grenzpolizeiliche Abschottung der Europäischen Union gegenüber Flüchtlingen und MigrantInnen. Seit Frankreich, die Benelux-Staaten und die Bundesrepublik Deutschland 1985 begonnen hatten - außerhalb der damaligen EG-Strukturen - ihre gemeinsame Innen- und Justizpolitik zu koordinieren, wurde kontinuierlich an einem asylrechtlichen und grenztechnischen Schutzwall gearbeitet, der um Westeuropa errichtet werden sollte. Wie effektiv die Flüchtlingsabwehr mittlerweile funktioniert, konnte man zuletzt im Kosovo-Krieg beobachten. Aber selbst damit will man sich in Brüssel nicht zufrieden geben.

In den letzten 15 Jahren haben wir einen dramatischen Abbau im Asylrecht - ja die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl erlebt - und dies beileibe nicht nur in der Bundesrepublik. Heute ist es ja hierzulande technisch gesehen nur dann möglich, einen aussichtsreichen Asylantrag zu stellen, wenn man mit einem Fallschirm aus einem Flugzeug springt. Auf dem Land- oder Seeweg eingereiste Flüchtlinge werden ausnahmslos in die angrenzenden Staaten zurückgeschickt.

Gleichzeitig wurde insbesondere entlang der deutschen Grenze zu Polen und der Tschechischen Republik eine regelrechte Materialschlacht begonnen: neuartiges technisches Gerät sowie die höchste Dichte von GrenzpolizistInnen in Europa sollen dafür sorgen, dass möglichst niemand durch das engmaschige Netz schlüpfen und sich auf bundesdeutsches Gebiet retten kann.
 

Die Folgen sind nicht nur die hunderte Flüchtlinge und MigrantInnen, die den Versuch, die europäischen Festungsmauern zu überwinden, mit ihren Leben bezahlt haben - entweder ertrunken sind in der Oder bzw. in der Straße von Gibraltar oder erstickt sind in LKWs oder in den Alpen bzw. dem Bayerischen Wald erfroren oder denken wir nur an den jüngsten Fall, als zwei afrikanische Jugendliche in Belgien tot im Radkasten eines Flugzeugs entdeckt wurden.

Folge der Abschottung Westeuropas ist auch das Entstehen einer neuen Kriminalitätsform - oder präziser ausgedrückt: die strafrechtliche Neubewertung der altbekannten Fluchthilfe. Was in Zeiten des Kalten Krieges nach höchstrichterlicher deutscher Rechtsprechung den guten Sitten entsprach - nämlich Menschen unter Umgehung von gesetzlichen Vorschriften einen Weg in den "Goldenen Westen" zu bahnen, wird nunmehr unter dem Stichwort der "Schlepper- und Schleuserkriminalität" zu einer regelrechten Hauptbedrohung der "Inneren Sicherheit" dramatisiert. Ohne die menschenunwürdigen und ausbeuterischen Bedingungen professioneller Fluchthilfe bagatellisieren zu wollen - solange man eine Festungsmauer um die Staaten der EU herum aufbaut, das Asylrecht demontiert und keine Schlupflöcher einer legalen Migration offenlässt, solange muss man sich nicht wundern, wenn die vor unbestreitbarer Not und Elend fliehenden Menschen notfalls auch auf "illegalem" Weg und unter Inkaufnahme größter persönlicher Risiken für Leib und Leben versuchen, nach Westeuropa zu fliehen.

Rot-grün macht alles neu?
Unter diesen europapolitischen Vorgaben nahm im letzten Jahr die rot-grüne Bundesregierung ihre Arbeit auf. Im Koalitionsvertrag konnten den SozialdemokratInnen aus asylrechtlicher Sicht nur bescheidene Verbesserungen abgerungen werden.

Ähnlich sah es im Hinblick auf die angestrebte Harmonisierung der europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik aus. In allererster Linie sollte es laut der rot-grünen Vereinbarung um die Verhinderung der "illegalen Migration" gehen.

Das von Otto Schily geführte Bundesministerium des Innern führt die von Kanther und seinem Staatssekretär Kurt Schelter entworfenen Konzepte einer europäische Innen- und Justizpolitik konsequent fort - so z. B. die Arbeiten an dem sog. Wiener Strategiepapier zur Neukonzeption der Flüchtlings- und Migrationspolitik der EU. Diese enthält die Annahme, dass nach dem Ende des Kalten Krieges vor allem "interethnische Verfolgung und Vertreibung durch nichtstaatliche Gewaltapparate" für massenhafte Migrationsbewegungen verantwortlich seien, und dass diese Fluchtgründe angeblich nicht von der Genfer Flüchtlingskonvention erfasst würden. Daher bemüht sich die EU seit einem Jahr intensiv, ein System des "vorübergehenden Schutzes" im Falle von derartigen Massenfluchtbewegungen - wie dem Kosovo-Konflikt - zu entwerfen. Kernbestandteil dieses Projektes ist es, Massenfluchtsituationen zunächst einmal grundsätzlich zu regionalisieren, d. h. der Schaffung von regionalen Flucht- und Aufnahmemöglichkeiten Priorität einzuräumen gegenüber der Aufnahme von Flüchtlingen durch die EU. Zweitens sollen Personen aus Massenfluchtsituationen nicht mehr als GFK-Flüchtlinge ins Land gelassen werden. Ihnen soll vielmehr ein Status zugewiesen werden, bei dem sie sich rechtlich weder auf die Asylgesetze, noch auf die GFK berufen können. Diese "vorübergehend geschützten Flüchtlinge" könnten so durch einen politischen Regierungsbeschluss ins Land gelassen - und mit einem Federstrich des Kabinetts auch wieder abgeschoben werden.
 

In diesem Kontext ist auch die prompte Aufnahme von Kosovo-Flüchtlingen während des Krieges und die diesbezügliche "Vorbildrolle Deutschlands innerhalb der EU" zu sehen. Relativ schnell wurde ja von der Bundesrepublik ein Kontingent von zuletzt 15.000 Kosovo-Flüchtlingen aufgenommen. Sie erhielten anstandslos den Status von Bürgerkriegsflüchtlingen gem. 32a AuslG - etwas, wogegen sich Kanther bei den Bosnienflüchtlingen bis zuletzt gewehrt hatte. So erfreulich dieser Schritt des neuen Innenministers auf den ersten Blick auch erscheinen mag - kritisch anzumerken ist, dass die vor Krieg und Verfolgung fliehenden Menschen geradezu klassische Flüchtlinge im Sinne der GFK gewesen sind - dass ihnen damit eigentlich auch der - im Vergleich zum Bürgerkriegsflüchtling - rechtlich und praktisch sehr viel komfortablere Status eines GFK-Flüchtlings zugestanden hätte. Dies galt es aber aus Sicht von Schily zu vermeiden.

Im Dezember letzten Jahres wurde in Brüssel eine Gruppe von hochrangigen Beamten aus den EU-Mitgliedsländer zusammengestellt, deren Aufgabe es ist, Maßnahmen vorzuschlagen, die "den Zustrom von Asylbewerbern und Zuwanderern in die EU vermindern" sollen. Die Arbeiten der diversen EU-Arbeitsgruppen am flüchtlings- und migrationspolitischen Strategiepapier gehen auch nach dem Kosovo-Krieg weiter. Sie dienen der Vorbereitung einer Tagung der EU-Regierungschefs Mitte Oktober 1999 im finnischen Tampere. Dort sollen auf Grundlage dieser Vorgaben weitreichende flüchtlingspolitische Weichenstellungen vorgenommen werden.

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Claudia Roth ist Bundestagsabgeordnete für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe.